Signaturen der Erinnerung. Thomas Ballhausen

Signaturen der Erinnerung - Thomas Ballhausen


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Strukturierung der gesamten Arbeit ist das Moment der Relation dominant: So stehen die Einzeluntersuchungen in einer aufbauenden, sich entfaltenden Verhältnismäßigkeit zueinander, ohne ihre Funktion als herauslösbare Glieder zu beeinträchtigen. Die Gewichtung des Verhandelten ist einerseits der sich ständig weiterschiebenden Front der Forschung und der von ihr gezeitigten Literatur geschuldet, andererseits der Notwendigkeit, ausgewählte Fragen in geeigneteren Kontexten zu adressieren. So ist der erschöpfend beforschte Bereich der Digitalisierung zwar berücksichtigt, doch aufgrund vorliegender Publikationen nicht neu begründet (vgl. dazu z. B. Witten, Bainbridge & Nichols, 2010; transfermedia, 2011; Ballhausen & Stöger, 2013). Die erwähnten spezielleren Fragestellungen, die den Fokus der vorliegenden Arbeit gesprengt hätten, habe ich an anderer Stelle untersucht: Thematisch fallen hierin beispielsweise die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Archiv und Autonomie (Ballhausen, 2012a), die Ausarbeitung von Strategien zur Veränderung des Archivs zum erweiterten Lernraum (Ballhausen, 2012b) oder die Beschreibung des Archivs als dynamisches System und Institutionsform mit gesamtgesellschaftlichen Verantwortungen (Ballhausen, 2014). Ergänzt wird die vorliegende Arbeit um eine bewusst umfassend gehaltene Bibliografie, die sowohl die verwendete Literatur nachweist als auch, im Sinne eines deutlich werdenden Mehrwerts, weiterführende Titel listet. Neben der wissenschaftlich korrekten Nachweisbarkeit des Herangezogenen soll hier eine Einladung zum Weiterlesen und Weiterdenken ausgesprochen sein. Für die eigene Arbeit am Archiv, die einem sensiblen, doch hoffentlich nicht idiosynkratischen Vorsatz gehorcht, steht ein Hinarbeiten auf eine Kritik des Archivs – in all ihren Mehrfachbedeutungen – an. Nachdem das geforderte unbedingte Archiv niemals das bedingungslose sein kann, kann ich, so hoffe und vermute ich, dahingehend gar nicht zu viel wollen. Die gute Wissenschaft ist immer (auch) lustvoll.

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      Foto: © Josef Navratil

       1.3 Theorie, Geschichte und Funktion der (Film-)Archive

      Fangen wir nicht mit dem Anfang an, beginnen wir doch stattdessen mit der Wiederholung des Anfangs im Rahmen eines bemerkenswerten Beispiels, Peter Tscherkasskys L’Arrivée (1998). Dieser

      „[…] besteht aus einzeln kontakt-kopierten und im Kopiervorgang bearbeiteten 35mm-Filmstücken. Aber bevor noch ein richtiges Abbild zu sehen ist, sehen wir das Abbild von Blankfilm: nichts – bzw. nur das, was idealer Blankfilm gewiss nicht aufweisen soll: Schmutz, Fehler, Schrammen, vorbeihuschende Schriftzeichen des Unvollkommenen. Speziell im Ton vermittelt sich diese Wahrnehmung: Wir hören eine composition automatique, die aufregende ‚Musik‘, die aus der Unreinheit jedes mechanischen Vorganges entsteht, lange bevor eine bewusste Note, eine bewusste Abbildung gesetzt wird. Dieses ‚Grammophon‘ spielt eine Platte, auf der sich das Eigengeräusch der Maschine zeitgleich aufzeichnet und als kunstfähiges Ereignis darbietet. In weiterer Folge verwendet L’Arrivée Material aus einem in Wien gedrehten Spielfilm namens Mayerling, mit Catherine Deneuve als Mary Vetsera. Man sieht – flüchtig und in Schwarz-weiß – die Ankunft eines Zuges in der Station. Man sieht also, zum zweiten Mal bei Tscherkassky, einen gefälschten Lumière-Film (L’Arrivée d’un train à La Ciotat). Man sieht den ‚Zug‘ der Perforationslöcher, der aus den Schienen springt und gegen andere Züge gejagt wird. Und man sieht den unglaublich, lichterloh psycho-physischen ZUG, den das Kino von seinem ersten Moment an gehabt haben muss […]“ (Horwath, 2005a, 41).

      Zwei Hauptthemen des Kinos werden in Tscherkasskys Kurzfilm zusammengeführt: einerseits die Zugreise und die damit verbundene Dynamik der Bewegung, dieser dampfend-erschreckende Ausgangspunkt der Kinematografie, und, andererseits, das nicht weniger erschreckende Phantastische, das sich in den Dreißiger- und Vierzigerjahren zu den unterschiedlichsten Genres des Phantastischen Films ausdifferenzierte. Beide Aspekte verbinden sich darüber hinaus mit dem Archiv, dem Bewahrten. Die Avantgarde – hier mit diesem Beispiel als Beleg – entdeckt die Filmgeschichte auf dem Weg des Archivierten für sich; sie kehrt zu den Ursprüngen des Films zurück, um sich mit den Anfängen der Filmgeschichte und den Traditionen des Mediums zu konfrontieren. Peter Tscherkasskys Arbeit bringt das Publikum dabei an den Geburtsort des Films zurück – einen Bahnhof. Diese Schnittstelle – mal Ankunftsort, mal Startpunkt – ermöglicht es ihm mittels zufällig gefundenen Materials, das subversive Potential und die Qualität des frühen Films in Erinnerung zu rufen. In seiner Re-Memoria mengen sich das Material und auch die Materialität des Films – auf die später noch eingegangen werden wird – in das Dargestellte, beanspruchen einen Platz abseits des dafür vorgesehenen Raums. Im Sinne des Films, des Bahnhofs und des Archivs lässt sich somit sagen: Hier endet es, hier beginnt es – erneut.

      Archiv – das ist nicht nur das zu bewahrende und zu reanimierende Material, sondern eben auch das strukturierende Ordnungsprinzip hinter den ebenfalls mit diesem Begriff bezeichneten, durchaus recht unterschiedlichen Institutionsformen. In der Folge soll deshalb nun in acht Passagen ein philosophischer Spaziergang durch die traditionellen und aktuellen Überlegungen und Ansätze unternommen werden: von den Konditionen des Bewahrens, über Fragen der Archivtheorie und des Erinnerungsdiskurses, über die Geschichte und Aufgaben der Filmarchive, schließlich hin zu Fragen der Narrativierung der bewahrenden Strukturen und die Eingebundenheit all dessen in die Dimension der Zeit.

       1.3.1 Konditionen des Bewahrens

      Der Kulturphilosoph Roberto Calasso beschreibt in seinem Buch Der Untergang von Kasch das Verhältnis zwischen Natur und Kultur über die Notwendigkeit des Auswählens und Bewahrens als Akt der Kulturstiftung:

      „Der Überschuß ist das Mehr der Natur im Verhältnis zur Kultur. Er ist jener Teil der Natur, den die Kultur zu verspielen, zu verbrauchen, zu zerstören und zu weihen genötigt ist. Im Umgang mit diesem Überschuß zeichnet jede Kultur ein Bild der eigenen Physiognomie. Das Gesetz neigt zur Monotonie, seine Variationen sind kläglich, wenn man sie mit der üppigen Vielfalt der Formen vergleicht. Und die Formen bilden den Fächer der Opferspielmöglichkeiten. Das Opfer ist unserer Physiologie eingeschrieben: Jede Ordnung – ob biologischer oder sozialer Art – beruht auf einer Aussonderung, auf einem gewissen Quantum verbrannter Energie, denn die Ordnung muß kleiner sein als das Ordnende. Die einzige Ordnung ohne sichtbare Aussonderung wäre eine, die dem pflanzlichen Stoffwechsel gliche. Das wäre eine Kultur, die Bestand hätte, ohne sich auf einen Unterschied zu gründen, also ohne sich überhaupt auf etwas zu gründen: eine Kultur, die vom Rascheln eines Baumes nicht zu unterscheiden wäre“ (Calasso, 2002, 180).

      Besagte Tätigkeit lässt sich aber auch als Archivstiftung lesen, in der die Natürlichkeit des Materials (das Ordnende bzw. das zu Ordnende) und das Archiv als System (die Ordnung) miteinander verschaltet werden. In der zitierten Passage sind das Verspielen, das Verbrauchen und das Zerstören besonders auffällige Schlagworte; Calasso denkt an dieser Stelle seines bemerkenswerten Werkes von der Position des Opfers und der Opferung her. Dieser Prozess der (Auf-)Opferung, der immer häufiger auch eher wirtschaftlich denn kulturell gedacht wird, beeinflusst mit seiner Beschleunigung die „Dauer des Erbes“ (Derrida, 2005, 41) durchaus auch ungünstig. Wesentlicher und auch positiver für vorliegende Ausführungen ist das von ihm ebenfalls beschworene Weihen, also eine im Sinne Heideggers sinn- und kunststiftende Funktion des Bewahrens, die im Wechselverhältnis zur Beschaffenheit des zu bewahrenden Gutes steht: Auch das Material gibt die Konditionen des Bewahrens vor (Heidegger, 1963, 56–58).

       1.3.2 Erinnerungsdiskurs und Archivsystem

      Erinnerungsdiskurs und Archivsystem – das sind die beiden Gesichter eines janusköpfigen Kindes der Moderne, die uns im besten und vielfältigsten Sinne des Wortes als Depots unterschiedlicher, doch miteinander verknüpfter Wirkungsweisen entgegentreten. Basierend auf antiken Quellen hat die Auseinandersetzung mit Gedächtnis und Erinnerung zwar eine lange Tradition, doch wesentliche Veränderungen kamen hier – ebenso wie die aus ihrem wirtschaftlichen oder juristischen


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