Telefónica. Ilsa Barea-Kulcsar

Telefónica - Ilsa Barea-Kulcsar


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daß der Papa das nicht gehört hat, aber sie ist froh, daß die Mama nicht aufpaßt. Die sagt immer nur: »Lolita redet alles nach, was mein Mann sagt, ohne es zu verstehen.«

      Concha findet es ganz natürlich, daß die Kleine sich für solche Dinge interessiert, und es gefällt ihr. Lolita ist kein hübsches kleines Mädchen; ihre Nase ist nicht gerade und nicht schmal wie die der Mutter, sondern eine breite, kurze, fröhliche Stumpfnase. Dazu hat sie ein rundes Gesicht und neugierige Augen, die glänzend braun sind, aber nicht sehr groß und nicht sehr dunkel – Augen eines guten, kleinen Kameraden, findet Concha, die selbst in ihrer Kindheit darunter gelitten hatte, unhübsch zu sein. Ebenso wie jetzt Lolita, hat Concha vor Zeiten ihr braunes Haar mit Wasser und Spucke in viele kunstvolle Ringel gelegt. Sie hat das Gefühl, als sei dieses Kind eine kleine Schwester und ein kleiner Kollege.

      »Weißt du eigentlich, was Flugzeuge sind, Lolita?«

      »Ja natürlich«, sagt die Tochter des Ingenieurs und schwenkt die Arme, ohne die gespannten Wollfäden zu lockern. »Ich habe von Papa einmal ein Flugzeug bekommen. Es kann nicht fliegen, aber man kann genau sehen, wie es gebaut ist. Weißt du, Juanito hatte zum Dreikönigstag ein großes bekommen, das fliegen kann, und ich wollte auch so eines. Aber die Mama wollte nicht, weil ich ein Mädchen bin. Und ich hatte doch ohnehin schon eine Puppe, und die Buben bekommen so viele interessante Sachen. Das hat der Papa dann verstanden.«

      »Dein Papa ist sehr gescheit, nicht wahr?« sagt Concha neidisch. Sie möchte auch etwas Interessanteres haben und anders arbeiten und jemand um Dinge fragen können.

      »O ja, mein Papa ist sehr intelligent«, erklärt Lolita etwas geziert, denn sie fühlt die Bewunderung und den betrübten Neid im Ton der Frau und will etwas Besonderes sagen. Aber sofort fällt sie in ihr einfaches und vertrauensvolles Erzählen zurück:

      »Weißt du, Concha, die Mama sagt, er ist zu intelligent und ist nichts als Verstand und hat kein Herz, aber das ist gar nicht wahr. Die Mama sagt dann wieder selbst, daß er für jede andere ein Herz hat, nur für sie nicht; und wenn er keines hat, kann er auch für andere kein Herz haben, findest du nicht?«

      »Kindchen, natürlich hat dein Papa ein Herz für euch. Ich habe selbst heute Abend gesehen, wie es ihn gefreut hat, mit dir zu sprechen.«

      Concha findet es unmöglich, etwas Freundliches über die Frau zu sagen, die nebenan noch immer über die Treulosigkeiten der Männer redet; sie kann nicht in dieses heitere kleine Gesicht blicken, ohne eine Wut gegen die dumme Egoistin dort zu spüren. Also ist es besser, findet sie, nichts über Papa zu sagen, nicht einmal eine fromme Lüge. Das Kind würde am Ende den falschen Ton herausfühlen.

      »O ja«, antwortete Lolita so aufgeregt, daß sie beinahe die Wolle fallenläßt, »der Papa geht sehr gern mit mir spazieren und redet immer mit mir. Ich glaube bestimmt, er hat mich am allerliebsten. Ich will auch bei ihm hier in Madrid bleiben, wenn die Mama mit Juanito nach Valencia fährt.«

      »Das ist ein Unsinn, das darfst du nicht. Das wird er dir bestimmt nicht erlauben. Hier fallen so viele Bomben, und die treffen auch Kinder.«

      Concha versteht das kleine Mädchen sehr gut. Sie mag selbst gar nicht an die Evakuierung denken, obwohl sie weiß, daß sie das einzig Vernünftige ist. Aber Concha hat mit einem Mann gesprochen, der in der Totenhalle Kinderleichen mit Nummern auf der Brust gesehen hatte – nach dem 30. Oktober, damals, als eine Fliegerbombe in die Schule von Getafe gefallen war. Dem Mann war ganz schlecht, und er hatte nur immer wieder gesagt: »Diese Mörder, diese Mörder, und das wollen Menschen sein?«

      Die Kinder sollen so etwas nicht sehen müssen. Sie dürfen nicht in dieser Gefahr bleiben. Eigentlich sollten sie gar nicht wissen müssen, daß es so etwas gibt.

      Gerade deshalb will Concha nicht zu viel von Gefahr und Tod reden: der Tod kommt, wenn er kommen soll, aber das Leben des Kindes soll nicht im Schatten der Angst stehen. Sie sagt daher etwas Tröstliches zu Lolita: »Vielleicht geht dein Vater mit euch nach Valencia, wo das Leben ruhig ist.«

      Sie fühlt bei ihren Worten eine innere Abwehr. Mit Männern ist das anders, sie gehören nach Madrid auf ihren Posten. Vielleicht auch die Frauen, die sich irgendwie nützlich machen können, die den Männern eine Hilfe sind und keine Last. Die kleine Lolita da, wenn sie erwachsen wäre, die könnte man sicher gut brauchen.

      »Willst du, daß dein Vater mit euch geht?« fragt Concha.

      »Nein. Weißt du, der Papa hat mir erklärt, daß sie ihn hier brauchen, damit die Moros nicht nach Madrid hereinkommen. Und er hat Tag und Nacht Arbeit. Ich finde, daß er hier bleiben muß«, sagt das Kind.

       VI.

      Nach Mitternacht war der mondlose Himmel dicht von schwarzen Wolkenfetzen verhangen. Das bedeutete eine relative Sicherheit – nein, eine relative Wahrscheinlichkeit der Sicherheit – vor Fliegerangriffen. Auch die Artillerie des Feindes schwieg. Aber durch die Gran Vía fuhren Motorräder und schwere Lastwagen in Richtung Front. Die Front lag etwas mehr als einen Kilometer straßenabwärts. Um halb ein Uhr nachts grollten in rascher Folge die Explosionen von fünf Wurfminen. Man konnte nicht unterscheiden, ob sie in den eigenen oder den feindlichen Stellungen fielen. Dann ratterten eine Viertelstunde lang Maschinengewehre. Und dann fielen nur noch vereinzelte Gewehrschüsse in die Stille.

      Es war sehr still in Madrid. Es war still in der Telefónica. Es war still in der großen Straße.

      Der Wachtposten an der Kreuzung schrie lauter und schärfer als vorher sein Halt, so oft ihm ein Fußgänger oder ein Auto die Möglichkeit dazu gab. Dann hallten die Diskussionen über die Legitimationspapiere weithin durch die leere Straße. Kam ein Auto, so hörte man es kilometerweit. Man hörte ein leises Summen, ein Surren, ein Rattern. Man hörte einen Motor, der auch der eines Flugzeuges sein konnte, und folgte mit dem Ohr angespannt dem Anschwellen des Tones, bis man ein vertrautes Geräusch des Fahrzeuges herausfand und die Nerven wieder erschlaffen konnten.

      Die Posten der Telefónica langweilten sich. Der eine drückte sich an die Mauer, Kopf, Schultern und Karabiner in die gestreifte Wolldecke gehüllt, der andere stellte sich an die Innenseite der Tür, so daß er gelegentlich ein Wort mit dem Kameraden vom Hausdienst tauschen konnte. Die Haupttür war verschlossen, ihre zerschossenen Scheiben mit Decken verhangen. Die frostige marmorne Vorhalle war ganz schwach erhellt, es durfte kein Lichtschein auf die Straße fallen. Die Kontrolle der kleinen Seitentüren war nicht schwierig; um diese Zeit kamen und gingen nur noch diejenigen, die etwas mit den verschiedenen militärischen Stellen im Haus zu tun hatten, und die von der Presse. Die Flüchtlinge in den Kellern schliefen oder waren wenigstens ruhig. Die Telephonistinnen hatten um zwei Uhr Schichtwechsel, aber alle Mädchen vom Nachtdienst schliefen im Haus. Inzwischen lagen die Korridore und die Stiegen der dreizehn Stockwerke verlassen. Aber eben deshalb war die Kontrolle der fremden Besucher wichtig, vor allem die der Ausländer. Wie kann man wissen, wer von den ausländischen Zeitungsleuten ehrlich ist und wer ein Spion?

      Den Fahrstuhldienst versah nachts der Einarm. Die Mädchen vom Tagdienst taten nie, was er tat: bei jedem Fremden aufpassen, ob er auch tatsächlich in den Raum ging, den er als sein Ziel angegeben hatte. Die Mädchen entschuldigten sich damit, daß sie zu tun hätten; aber in Wahrheit interessierten sie sich nur für ihr Strickzeug und für die Komplimente ihrer Fahrgäste. Und wenn ihnen ein Engländer oder ein Amerikaner irgendeinen Blödsinn sagte, waren sie schon von ihm begeistert. Der Einarm war überzeugt, daß Frauen für ernste Arbeit nicht taugen. Höchstens kann man es einer Frau überlassen, sich mit anderen ihresgleichen herumzustreiten, wie man das auch in der Gewerkschaft tat. Aber die Kontrolle der Ausländer – wenn man schon ihre Sprache nicht versteht, so muß man wenigstens einen gewissen Blick für sie haben. Die von der Zensur waren Hohlköpfe; nun hatte man ihnen auch noch von Valencia eine ausländische Frau geschickt. Gerade wo es nun in Madrid so ernst stand. Das konnte eine schöne Geschichte werden. Das alles setzte er langsam und ernst, jeden Satz wiederholend, dem Moreno auseinander.

      Moreno vom Hauskomitee erklärte, ganz der Ansicht des Einarm zu sein. Er sprach rasch und viel, abwechselnd in künstlich geschraubter Sprache und in übermäßig derben Flüchen. Was ihn anlangte, meinte er, so langweilte er sich,


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