Telefónica. Ilsa Barea-Kulcsar
Er war immer so angespannt. Manuel nahm an, daß Sánchez unvermeidlich in schlimme Konflikte mit Pedro Solano aus dem Arbeiterrat geraten würde; Pedro hielt den Kommandanten für ein unverläßliches Element, weil er in seinem Zivilberuf vor dem Bürgerkrieg als Abteilungsleiter und Ingenieur einer Fabrik zum Dienerkreis der Kapitalisten gehört habe.
Manuel war anderer Meinung, aber er wollte erst dann ein endgültiges Urteil abgeben, wenn er den Mann besser kennengelernt hätte. Vielleicht würde er auch mit ihm über die internationale Lage sprechen können. Sánchez wußte davon mehr als die meisten anderen, und Manuel war gequält von dem Gedanken an das Versagen der internationalen Arbeitersolidarität und der Demokratien. »Das darf doch nicht sein«, sagte er wieder einmal laut vor sich hin und begann zwischen den Sprengstücken nach dem Zünder zu suchen, der die Herkunft des Geschosses am deutlichsten verraten würde. Der Zünder war irgendwo anders hingeflogen, vielleicht auf die Straße. Aber da war ein Sprengstück mit undeutlicher Fabrikmarke. Sicherlich deutsch, was denn – aber der Comandante würde das wissen, der war ein alter Artillerist.
Manuel ging in den kleinen Raum, der ihm den Luxus eines Privatschlafzimmers in der Telefónica vortäuschte, und fuhr sich mit dem Kamm durch die widerspenstigen, sehr schwarzen Haare. In der einen Schicht seines Denkens formulierte er seinen Rapport an den Kommandanten, darunter aber rechnete er nach, ob der neue Schußwinkel der Batterie sein eigenes Fenster in neue Gefahr brächte. Nein, ebensowenig wie die Kommandantur. Aber man wußte es ja nie. Er sah in den Spiegel, denn er hielt viel auf seine äußere Wirkung: sehr dicke schwarze Augenbrauen, erstaunlich hellbraune, fröhliche Augen, kräftige, gerade Nase, ein breiter, fester Mund, sehr braune Haut, ein zu gerundetes fleischiges Kinn. Sein dunkelblaues Hemd ließ ihn noch schwärzer erscheinen. Er gefiel sich und erinnerte sich unklar an die Komplimente der kleinen Blonden – Wasserstoff-Blondine! –, die so lustig war und sich im Haus zu einer Art Kollektiveinrichtung entwickelte. Er dachte wirklich das Wort »Kollektiveinrichtung« und vermied das Wort Puta, Hure, das sonst so rasch zur Hand war; denn jenes kleine, lustige Mädchen war einfach toll vor Angst, ihr junges Leben nicht mehr ausnützen zu können.
Ein nettes Mädchen, aber nichts für Manolo. Ob heute Nacht ein Bombardement kommt? Der späte Nachmittag war merkwürdig gewesen, nichts los und doch immer Unruhe und Schießen. Man spürt so etwas in den Knochen. Na, er würde zu Sánchez gehen und erst dann essen, aber nicht in das Kollektivrestaurant, dazu war es schon zu spät.
Als Manuel in die Kommandantur trat, hielt ihn die Ordonnanz auf. Diese Ordonnanz war ein alter Arbeiter, der sich niemals soldatisch benehmen wollte, aber dabei von einem großen Stolz auf die Funktion »seines« Büros, seines Obersten, seines Comandante und seiner eigenen Person erfüllt war.
Er nahm Manuel am Arm und erklärt ihm eifrig: »Der Genosse Agustín ist jetzt gerade im Souterrain, der Architekt will ein paar Holzwände für Waschräume einziehen lassen, für die Flüchtlinge unten. Wir wissen ja nicht, wann man sie evakuieren kann. Aber bleib nur hier und warte, er wird gleich wieder heraufkommen.«
Manuel kannte den alten Pepe und dessen Art. Er wusste alles und mußte immer alles erzählen, was er wußte. Nur wenn man ihm Verschwiegenheit auferlegte, hielt er sich mit einer unbedingten Verläßlichkeit daran. Müßig fragte Manuel den Alten, der Einladung eines pfiffigen Zwinkerns folgend: »Warum glaubst du, daß Sánchez gleich kommt? Die Inspektion unten wird lange dauern und ich könnte inzwischen essen gehen.«
»Ja, Manolo, das ist so: Der Agustín hat doch jetzt unten seine Frau, die Pepa, mit den beiden Kindern. Die ist ein Maschinengewehr; es ist kein Wunder, wenn er ihr davonrennt. Ich kenne sie gut. Eine Zeitlang ist sie jeden Tag hier heraufgekommen und hat ihm Szenen gemacht, weil er nicht genug Geld gibt für Sofapolster und so Zeug, und weil er mit der Paquita geht. Sie hat mich sogar ausgefragt, ob er hier in der Telefónica mit der Paquita schläft; aber bis jetzt hat er es nicht getan – eigentlich eine Dummheit von ihm –, und das hab’ ich der Pepa auch gesagt. Die Pepa war einmal ein hübsches, feines Mädel, aber jetzt hat sie ein Essiggesicht. Komisch, Verschwenderinnen haben meistens ein anderes Gesicht, man würde die Pepa für geizig halten, wenn man nicht wüßte, wie sie ist. Und sie ist strohdumm. Nein, du kannst dich darauf verlassen, der Agustín kommt gleich wieder herauf, er will nichts von Weibern wissen. Gerade vorhin hat er die Paquita hinausgeschmissen. Aber die wird schon wiederkommen, die ist zäh und weiß, daß so einer wie der Agustín nicht überall zu finden ist. Weißt du, daß Miaja ihn mit du anredet?«
»Der General redet fast alle Leute mit du an, wenn er sie nämlich gut leiden kann. Und du bist selbst ein Maschinengewehr, Pepe, das geht bei dir taka-taka-tak. Bei mir bliebest du nicht Ordonnanz, das sag’ ich dir, ich mag es nicht, wenn man mir meine Bettgeschichten nachrechnet.«
»Teufel, Manolo, du bist grob und du kannst mich auch. Junge, du weißt ja, daß ich über den Agustín nicht mit jedem rede, sondern nur mit denen, die zu ihm halten. Und wenn du nicht zu ihm hältst, schlag’ ich dir die Zähne ein. Und außerdem ist ein Mann ein Mann und das ist keine Schande. Und …«
»Und ich habe andere Sorgen als deinen Agustín. Laß mich ins Büro, ich will ein paar Worte aufschreiben. Wenn ich dir zuhöre – übrigens, das mit dem Zähne einschlagen geht nicht so einfach bei mir, schau sie dir nur an, die beißen! Also, wenn ich dir zuhöre, vergesse ich meinen Bericht.«
Es war im Grunde gegen die Dienstordnung, aber Manuel war der Responsable des Stockwerkes, also durfte er auch in Abwesenheit des Chefs dessen Zimmer betreten. Er setzte sich zwar nicht auf den geschnitzten Sessel, aber das geschah zum Teil, weil die Lederfauteuils viel bequemer waren. So haben sich die Amerikaner eingerichtet, die wissen, was Luxus ist, dachte Manuel. Aber wir werden es anders machen und es wird auch schön sein, dafür werden wir eine breitere Stiege machen und nicht bloß Waschbecken und Duschen, sondern auch ein Bad für unsere Angestellten – in jedem Stockwerk womöglich.
Das Telephon klingelte; Pepe steckte den Kopf herein und sagte: »Antworte du, Manolo, du kennst die Leute besser.« Manuel zog seine uniformartige Bluse straff und nahm den Hörer ab. Zuerst verstand er nicht recht, aber er wollte seine Ungeschicklichkeit nicht merken lassen. Dann verstand er aber klar genug: »Vier Junkers, sechs Jagdflugzeuge im Anflug. Alarm geben!«
Nun war es wieder da. Er rief die Hauszentrale an und gab die vereinbarten Stichworte, die er als Responsable genau beherrschen mußte. Damit setzte er den Alarmapparat des gewaltigen Hauses in Bewegung, ohne den Kommandanten zu fragen. Aber das war Notstand. Alle Lichter aus. Nur die Taschenlampen und an ein paar Stellen die kleinen, mattblauen Notlampen, und Achtung mit den Taschenlampen! Was hatte er im Stock selbst zu tun? Er ging rasch hinaus und verständigte Pepe. Dieser wischte sich die Stirn und schlug vor, den Comandante im Keller suchen zu gehen.
»Geh nur du, wenn du Angst hast«, sagte Manuel. »Ich bleibe im Stock, einer muß das Telephon bedienen. Warte nur noch, bis ich mir die anderen Räume angesehen habe.«
Er machte in Hast die Runde. Die wenigen Menschen, die im achten Stock arbeiteten, waren schon im Stiegenhaus. Alarmpfeifen, Lärm von vielen Menschen auf der Treppe. Manuel kehrte wieder in die Kommandantur zurück, wo Pepe wartete. Der Gang bis dorthin war dunkel, der fensterlose Vorsaal schwarz, die kleine Taschenlampe drang nicht durch. Er stieß gegen Ecken und Kanten und fühlte sich im Stich gelassen, bis er die Stimme des Alten hörte »Hola, Manuel!«
Ein mattes Taschenlampenlicht blinkte auf (Pepe hat eine schlechte Batterie, sie wird bald ganz versagen und Batterien sind knapp geworden, dachte er), dann rief Pepe heiser: »Agustín hat angerufen, er kommt herauf. Ich muß nicht dabei sein, sagt er, wenn jemand anderer Verläßlicher heroben ist. Ich gehe. Ich kann die Junkers nicht leiden, sie tun meinen Magennerven nicht gut.«
»Geh in Teufels Namen, altes Schwein«, erwiderte Manuel, ernstlich gereizt und aufgeregt. Er lauschte auf die stolpernden, sich entfernenden Fußtritte im langen Korridor und ging dann mit einer Willensanstrengung ins Kommandantenzimmer. Er versuchte, sich zurechtzufinden: Das ist der große Armsessel, das ist die Tischkante, das ist das eine Fenster. Wenn ich die Taschenlampe auslösche, kann ich dieses Fenster aufmachen und horchen. Es ist sicher eine Dummheit, daß ich nicht in den Keller gehe. Aber so will ich wenigstens hören können, wie weit die Flieger von uns sind. Und wo bleiben unsere Abwehrgeschütze?