Telefónica. Ilsa Barea-Kulcsar

Telefónica - Ilsa Barea-Kulcsar


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selbst wenn er über einige wirklich freie Stunden verfügt hätte, selbst wenn er nicht der Gefangene dieses Dienstes gewesen wäre, er hätte das Gebäude der Telefónica nicht verlassen mögen. Hier waren ihm die Stiegen selbst in der Dunkelheit vertraut. Hier wäre er schon längst um die Ecke gebracht worden, hätte einer der vielen hundert Arbeiter und Angestellten im Hause die Gelegenheit ausnutzen wollen: also – hier war er sicher. Hier war die Arbeit, die ihm die Vernunft rettete. Draußen sprangen ihn die Angst und die Wut an, seine Stadt war ihm fremd, die Menschen unverständlich geworden.

      Es ist alles ein Wahnsinn, dachte er, und wahrscheinlich gehen wir alle zugrunde. Aber die anderen auch. Wozu arbeite ich wie ein Narr, warum nehme ich nicht meinen Revolver und schieße ein paar Schweine nieder, bevor alles zu Ende ist? Meine alte feige Angst vor dem Blutvergießen. Was für ein Verbrechen ist das Ganze und wie schön könnte doch alles sein.

      Ach, Dreck und Scheiße, da mache ich mir Gedanken, damit ich mir zuhören kann, aber es ist doch alles anders und viel schwerer, ich verstehe nichts mehr ganz, da muß man doch auf seine Gedanken aufpassen. Ich bin nur so müde. Die vom Arbeiterrat werden mir noch zu schaffen geben. Ja und nein, was soll ich eigentlich mit ihnen tun, sie haben vielleicht recht. Aber immer diese Anarchisten und Kommunisten. Haben sie keine anderen Sorgen? Ich hab’ sie. Ich weiß zu gut, wo die neue Batterie steht, die sich auf uns eingeschossen hat.

      Das war ein schönes Schrapnell. Wie eine Rose.

      Die Paquita wird doch hoffentlich nicht gemerkt haben, daß ich für eine halbe Stunde frei bin. Sie soll nicht heraufkommen. Es steht nicht dafür. Ich mag nicht. Ich hab’ Arbeit.

      Die Kleine im Keller bei den Flüchtlingen aus Carabanchel hat gute Brüste; wie die Spitzen stehen – sie ist sicher läufig. Aber ich mag nicht. Ich weiß überhaupt nicht, was mit mir ist. Ich möchte mit einer schlafen gehen, aber mein Gehirn will nicht und so hab’ ich dann keine Lust. Das ist alles nicht so wichtig. Aber vier Wochen. So lange war ich niemals ohne Frau seit damals, als ich die Lungenentzündung hatte. Die Paquita ist ein Luder, sie macht mir’s absichtlich schwer. Und seit heute die Pepita im Haus – ich hätte nicht erlauben sollen, daß sie in die Telefónica kommt. Es ist bei ihr die reine Hysterie. Aber was hätte ich tun sollen?

      Heute schießen sie unregelmäßig. Viele Schrapnells, das heißt, daß sie sich einschießen. Das dort war besser gezielt – wenn sie uns treffen wollen.

      Ich sollte hinuntergehen und nachsehen, wie es sich die Pepita mit den Kindern eingerichtet hat. Sicher schlecht, wie immer. Aber ich kann da nichts mehr machen. Und ich will nicht, daß sie sich mir wieder an den Hals hängt. Es regt sie noch mehr auf und ich will doch nicht mehr. Die Weiber müßten doch endlich verstehen, daß ich nicht kann und nicht will und daß Krieg ist. Es ist zwar eine Ausrede von mir. Oder nein? Ich weiß nichts mehr, ich verstehe nichts mehr, ich weiß nicht, was mein Leben werden soll. Aber das ist egal, wir werden ja doch alle umkommen.

      »Wir werden alle sterben«, sagte Agustín laut und lachte. Denn vor dem Tod hatte er nie Angst, nur vor dem Schmerz und vor dem Schmutz.

      Er hatte heute vierzehn Stunden intensivster Arbeit hinter sich. Er hatte endlose Arbeit vor sich, nicht viel davon an seinen Stellvertreter übertragbar. Die ganze Militärverwaltung der Telefónica lag in seinen Händen, solange sein Vorgesetzter, der Oberst, in Valencia blieb. Agustín begann eben zu verstehen, wie groß seine Verantwortung war. Diese Telephondrähte waren die einzigen Fäden, die vom belagerten Madrid zur Außenwelt führten. Immer war Sabotage möglich. Im obersten Stock des Hauses hatte der Generalstab seinen zentralen Beobachtungsposten. Immer war Spionage möglich. Sabotage und Spionage: alle Funktionäre in der Telefónica waren von der Furcht vor diesen zwei unbekannten Größen beherrscht.

      Die Telefónica hatte dreizehn Stockwerke und zwei Kellergeschosse. Zutiefst unter der Erde waren die Flüchtlinge aus den Außenbezirken und Umgebungsdörfern Madrids. Im dreizehnten Stock war der Artilleriebeobachtungsposten. Dazwischen, in die Räume von zwölf Stockwerken zusammengepreßt, die Maschinerie des Telephonnetzes für ganz Spanien und zugleich ein Querschnitt durch das Madrid der Belagerung: andere Flüchtlinge; Arbeiter; Polizisten; Milizposten; Erste-Hilfe-Station; Beamte; von jedem Verkehr ängstlich abgesperrt, die Beobachtungsoffiziere des Generalstabes; als Fremdkörper, isoliert, die Funktionäre der amerikanischen Kapitalisten, denen die Telefónica und das Telephonmonopol in Spanien gehörten, derzeit entmachtet durch die Staatskontrolle; das Militärbüro, oberste Verwaltungsinstanz des Gebäudes, in dem nur Agustín saß; eine Ausspeisungshalle; Notbetten in allen möglichen Räumen für die Leute vom Nachtdienst; ein Heer von Telephonisten, die zum Teil im Hause schliefen, um nicht im Granatenregen von und zur Arbeit gehen zu müßen; im vierten Stock die Journalisten der ausländischen Presse; im fünften die Pressezensur, Abteilung des Außenministeriums, und die Horchzensur, Komitee der Telefónica-Beamten; dazwischen Maschinen und wieder Maschinen, kostbar und fast unersetzlich; dann die Gewerkschaftsräume, der Arbeiterrat – Consejo Obrero – und dessen Institutionen; die Plakate der Organisation; die Materialien für die Reparaturen; das technische Leben, das politische Leben, das militärische Leben, Schreibmaschinen und Scherenfernrohre. Und, durch den Bau quer durch, die fünf gewaltigen Fahrstuhlschächte und die enge, bei Panik so gefährliche Wendeltreppe. Das alles war nun der Zielpunkt für die Kanonen und die Fliegerbomben der Faschisten.

      Sie haben recht, wenn sie uns zerstören wollen, dachte Agustín. Wir sind eines der Nervenzentren von Madrid. Das Kleinhirn. Obwohl sich die Herren Journalisten wahrscheinlich als das Großhirn vorkommen. Lächerliche, eitle Bande: man läßt ihnen zu viel Freiheit. Was haben sie auf unsere Kosten Sensationen zu verkaufen? Sie sind alle gleich, diese Ausländer, alles nur Geschäft. Die Zensur taugt nichts. Es ist freilich auch ein widerliches Geschäft. Wie heißt doch der kleine, ölige Zensor mit der Zahnlücke, der paßt dazu. Der Chef ist ein braver, alter Mann, aber er ist zu gut. Die Korrespondenten machen mit ihm, was sie wollen. Ich werde ein wenig eingreifen. Die Abhörzensoren sind Esel. Sie verstehen die Hälfte aller Sachen nicht und kommen mir immer mit Verdacht, wenn die Geschichte harmlos ist. Natürlich übersehen sie alles Gefährliche.

      Ich bin wieder normal, dachte Agustín. Wenn mir nicht die Weibergeschichten den Kopf heiß machen und wenn es mir gelingt, nicht daran zu denken, was das alles bedeutet, werde ich heute Nacht gar nicht schlecht arbeiten.

      Er schloß das Fenster und spannte sorgfältig den schwarzen Baumwollstoff des Vorhanges aus, ehe er die schwache, blauverhüllte Tischlampe anzündete. Sein Telephon klingelte: der Gebäudearchitekt hatte mit ihm über die Adaptierung der Waschräume für die Flüchtlinge zu reden.

      Er wollte eben eine Besprechung für morgen Vormittag festlegen, da kam, ohne anzuklopfen und ohne zu grüßen, Paquita ins Zimmer. Er nickte ihr zu und stellte aufs Geratewohl eine technische Frage in das Telephon hinein, ohne nachzudenken. Er war damit beschäftigt, sich die unvermeidlich kommende Szene auszumalen; er – überbeschäftigt und freundlich, sie – eindringlich und hemmungslos. So leidenschaftlich, daß er beinahe nachgeben würde und doch zu tiefe Abwehr empfinden würde. Eine stumpfe Müdigkeit lähmte ihn. Nur vermeiden, daß etwas geschieht, so oder so. Irgendetwas müßte sich ändern, ja, aber wie oder wann wollte er jetzt nicht wissen.

      Die Stimme des Architekten im Apparat klang erstaunt. Comandante Sánchez war doch sonst immer so erfreulich klar in technischen Angelegenheiten. Er begann überdeutlich zu erklären.

      Währenddessen schritt Paquita durch das Zimmer. Sie ging bewußt langsam aus den Hüften schreitend, wie immer, seitdem sie Agustín entlockt hatte, daß ihn an ihr der klare Schwung der Hüftlinie erfreute und dieser Gang reizte. Mit ihrem Gesicht – großlinig, fleischig und regelmäßig, mit weit offenen, sehr gewölbten Augen – konnte sie nicht so viel anfangen, das wußte sie. Agustín sollte ihren Körper sehen, sollte ihn betrachten. Warum hatte er ein so märtyrerhaft gequältes Gesicht, mit gespannten Nasenflügeln, engen Schatten unter den Backenknochen und an den Schläfen und einen strengen Mund?

      Er setzte sich in den Armsessel, der ihm wie eine Barrikade gegen Paquita vorkam: er war aus schwerfällig geschnitztem Holz und machte jedes Anschmiegen unmöglich. Aber er folgte ihr doch mit den Augen. Sie bemerkte es und ging rund um das Zimmer herum, den Wänden entlang, die Bücher betastend und immer einen


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