Die Flut. Ulrike Schmitzer

Die Flut - Ulrike Schmitzer


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ballte die Faust in der Hosentasche. Aber darf ich vielleicht mal fragen, was wissen die Herren denn über die, wie soll ich sagen, Invasion.

      Invasion, der Beamte lachte laut auf.

      Invasion sagt er, sagte er noch immer lachend, um dann plötzlich ganz ernst zu werden. Hier spricht niemand von Invasion, verstehen Sie?

      Von mir aus, sagte der Bauer.

      Gibt es schwarze Stellen auf Ihrem Körper, fragte er.

      Nicht dass ich wüsste, sagte der Bauer. Ist das tödlich?

      Wir müssen abwarten, wie sich die Sache weiterentwickelt.

      Also ja, sagte der Bauer.

      Das hab ich nicht gesagt, sagte der Beamte.

      Ist es ansteckend, fragte der Bauer.

      Davon gehen wir aus, sagte der Beamte.

      Gibt es denn schon Medikamente, fragte der Bauer.

      Es wird daran gearbeitet, sagte der Beamte. Aber selbst wenn, derzeit hätten wir nicht die erforderliche Infrastruktur, um die Medikamente zu verteilen. Auch daran wird gearbeitet.

      Wie viele Leute leben auf dem Hof, fragte der Beamte seinen Assistenten. Dieser strich mit dem Finger über eine Liste, die er auf ein Brett geklipst vor sich trug.

      Zwei Personen, sagte er an den Beamten gerichtet.

      Wo ist Ihre Frau, fragte der Arzt.

      Die ist bei unserer Tochter in der Stadt, sagte der Bauer. Ich hab noch immer keine Nachricht von ihr. Ich mach mir schon große Sorgen. Wissen Sie vielleicht, wie es in der Stadt zugeht?

      Es ist überall das Gleiche, sagte der Beamte.

      Tragen Sie ein, sagte der Beamte von der Landessanitätsdirektion, eine Person. Nicht infiziert. So, jetzt schauen wir aber, dass wir weiterkommen. Sie bleiben auf dem Hof und bewegen sich am besten hier nicht weg. Wir werden Sie informieren.

      Ist recht, sagte der Bauer. Aber wie wollen Sie mich informieren?

      Das lassen Sie unsere Sorge sein, sagte er. Wo sind die toten Tiere?

      Die hab ich verbrannt. Wie geht’s dem Nachbarn, fragte der Bauer den Dorfarzt, der die ganze Zeit still dagestanden hatte.

      Das werden wir gleich sehen, sagte er und folgte den Beamten, die schon wieder bei der Hofeinfahrt waren.

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      Die Frau kam vom Dachboden. Wie ihr eigener Schatten, dachte der Mann, als sie langsam die Holztreppe herunterkletterte. Als ob sie ihren eigenen Schatten am Körper trage.

      Sie werden uns holen, sagte der Bauer.

      Wohin bringen sie die Leute, fragte sie.

      Ab jetzt müssen wir aufpassen, ich mach am besten gleich das Hoftor zu. Dann kann wenigstens keiner unbemerkt herein. Wir sollten ein paar Sachen auf den Dachboden bringen, Wasser und so was, falls sie wiederkommen und nicht gleich wieder gehen.

      Wäre es nicht besser, wenn ich mich im Bunker verstecke, fragte die Frau.

      Dass es vermutlich tödlich ist, sagte er ihr nicht.

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      Ein paar Stunden später ging er zum Nachbarn. Die buddhistische Glocke wehte wie immer im Wind. Die Frau des Nachbarn hatte sie aus der Stadt mitgebracht. Da brauch ich gar nicht auf Urlaub fahren, hatte sie freudestrahlend gesagt, da fühl ich mich wie im tibetischen Hochland. Der Bauer hatte nicht die Kraft gehabt, ihr zu sagen, dass ihn die Glocke verrückt machte. Das feine Geklingel drang in der Nacht in sein Ohr und baute sich in seine Träume ein. Am Morgen hörte er kein Vogelgezwitscher, keinen Hahn, kein Rascheln der Birken, er hörte nur noch die buddhistische Glocke.

      Lass sie doch, hatte die Frau gesagt. Sie hat so eine Freude.

      Jetzt stand er vor verschlossener Haustür. Der Nachbar schloss nie seine Tür. Ein Zettel war quer über die Tür geklebt. „Versiegelt“ stand darauf. Amt der Landessanitätsdirektion.

      Der Bauer rief mehrmals „Hallo!“. Der Hof war verlassen.

      Zurück auf seinem eigenen Hof startete er das Diesel-Notstromaggregat und ließ sich eine warme Wanne ein.

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      Der Bauer sah sie von Weitem von seiner Kammer aus: eine kleine Figur, die sich die Straße heraufkämpfte. Die Figur hielt ein rasches Schritttempo, ein Rucksack drückte schwer auf ihre Schultern. Sie sah sich ständig um, blieb mehrmals stehen und lief plötzlich in den angrenzenden Wald. Der Bauer beobachtete sie, dann griff er zu seiner Brille und rief in die Küche hinunter.

      Wer kommt, fragte seine Frau ganz aufgeregt.

      Ich glaub, das ist … die Paula, rief der Bauer noch einmal. Die Paula kommt. Er stürmte die Treppe hinunter in den Hof, öffnete das große Tor und lief ihr entgegen.

      Paula umarmte ihn, nahm den Rucksack ab. Zwei kleine Hände streckten sich ihr entgegen, ein verschwitzter Blondschopf kam hervor. Sie zog das erschöpfte Kind aus dem Rucksack, es verlangte nach Wasser. Paula zog das Kind sofort hinter ihren Rücken.

      Bitte Papa, sagte sie. Berühr sie nicht.

      Der Bauer war geschockt. Als seine Frau auf das Kind losstürmte, hatte er sich aber wieder so weit gefasst, dass er sie abfangen konnte. Das Kind schrak zurück. Seine Frau hatte das Tuch über das ganze Gesicht gebunden und nur die Augen freigelassen. Zwei rabenschwarze Sehschlitze im seidenen Blumenmuster.

      Kommt schnell herein, sagte der Bauer und schloss das Tor hinter sich.

      Der Bauer brachte eine Flasche Wasser, Paula goss sie dem Kind über den Kopf und wischte ihm das Gesicht damit ab. Das Kind begann das tropfende Wasser von den Lippen abzulecken und sperrte den Mund weit auf, ohne die Augen zu öffnen. Erschöpft trank es. Paula setzte das Kind danach zur Ofenbank, sie selbst nahm mit ihren Eltern am Esstisch Platz.

      Die Kleine verschlang das Brot, das die Frau gerade aus dem Ofen gezogen hatte. Sie schlief noch mit dem restlichen Brot in der Hand ein.

      Eineinhalb Wochen lang hatte sich Paula von der Stadt bis ins Dorf durchgekämpft. Gerade noch rechtzeitig, bevor die Stadt komplett abgeriegelt worden war. Basti ist weg, sagte sie und weinte. Sie nehmen die Kinder. Kein Mensch weiß, was sie mit ihnen machen. Ich konnte doch nicht einfach abwarten, bis sie zu uns kommen und auch noch die Kleine mitnehmen. Kein Mensch traut sich mehr auf die Straße. Die Lebensmittel werden schon knapp. Wenn sich ein Schwarzer in die Schlange stellen will, verjagen sie ihn. Viele tragen Waffen. Ich wusste gar nicht, dass so viele Menschen Waffen haben. Sie bedrohen dich überall, und an jeder Ecke liegen Tote. An der Infektion sterben die wenigsten. Viele trauen sich nur mehr nachts hinaus, sie plündern, wo immer es Lebensmittel gibt. Was haben sie denn noch zu verlieren? Es heißt, jeder Zweite ist schon infiziert. Aber ich sag euch, in der Stadt sind es viel mehr. Wenn sie nur vor der Flut gewarnt hätten. Sie hat die Autos auf den Straßen mitgerissen, die Fußgänger haben sich an Straßenlaternen festgeklammert. Mülltonnen sind wie Korken auf und ab gehüpft.

      Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie verzweifelt die Stimmung ist. Sie helfen nicht und sie informieren nicht. Wir sind nur nachts unterwegs gewesen, sie musste die ganze Zeit im Rucksack mehr stehen als liegen, ich hatte schon Angst, dass sie mir erstickt. Sie wissen noch nicht einmal, wie die Infektion verläuft. Ich bin so froh, dass ich endlich hier bin. Ich hatte Angst, wir würden verhungern. Ihr habt doch genug zu essen für uns alle? Mutter, hat es dich so schlimm erwischt? Du darfst die Kleine nicht anfassen, niemals, versprich mir das, versprich mir das bitte …

      Paula schlief vor Erschöpfung ein. Der Bauer und seine Frau hatten keine Zeit mehr zu fragen, wo der Enkel war.

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      Die


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