Die Früchte der Tränen. Ilse Tielsch

Die Früchte der Tränen - Ilse Tielsch


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sehen sind, meist sind es kleine, oft schon abgegriffene Schwarzweißfotografien, die wir durch Zufall gerettet haben oder die uns von anderen, die sie besaßen, geschenkt worden sind. Manchmal finden sich Gruppenaufnahmen in Fotoalben oder unter den Papieren verstorbener Verwandter, dann nehmen wir sie an uns, notieren nach und nach die Namen der Abgebildeten auf der Rückseite, weil wir die Lücken der Erinnerung erst im Lauf der Jahre und mit Hilfe anderer zu füllen vermögen. Wir hüten diese alten Fotografien, auch jene, auf denen nicht Menschen, sondern Landschaften abgebildet sind, die uns vertraut waren, Häuser, in denen wir gewohnt, Dörfer und Städte, in denen wir als Kinder gelebt haben. Wir lassen Reproduktionen anfertigen und tauschen sie untereinander aus. Der Prozeß der Veränderung ist uns bewußt, der dort, wo wir herkommen, wie überall abgelaufen ist, in solchen Stunden jedoch überspringen wir die Jahrzehnte, als wären sie nicht gewesen. Dies ist unser Dorf, unsere Stadt, unsere Kirche, unsere Schule, auch wenn es das Dorf, die Kirche, die Schule schon längst nicht mehr gibt, dies ist der Spielplatz, dies ist das Haustor, durch das wir täglich eingetreten sind, dies ist unser Weinberg, unsere Scheune, unser Weizenfeld. Wir kramen in Erinnerungen, wir sitzen bis spät nachts beisammen und erzählen einander Geschichten, und weil der Verstorbene ja aus derselben Gegend stammte, wie wir selbst, ist er bei solchen Gesprächen dabei.

      Auch bei anderen Anlässen, bei denen wir einander begegnen, zum Beispiel bei Heimattreffen, werden Geschichten erzählt, die wir mitnehmen und die uns im Gedächtnis bleiben, wie zum Beispiel jene des alten Schmieds von Mühlfraun.

      2

      Als man dem alten Schmied von Mühlfraun bei Znaim mitgeteilt hatte, daß er die Heimat verlassen müsse, sperrte er das Tor seiner Schmiede ab und machte sich auf den Weg nach Westen. Er war zu diesem Zeitpunkt achtundachtzig Jahre alt und noch rüstig, seine Beine waren gesund, und er wußte über die Himmelsrichtungen Bescheid. Den Norden dachte er sich zu kalt, daher kam er nicht in Betracht, der Süden schien ihm in seiner Vorstellung von den Landstrichen jenseits des Äquators zu heiß, im Osten lag Rußland, dorthin wollte er nicht. Es blieb nur die westliche Richtung, und diese schlug er ein.

      Er wollte nach Amerika, sagt sein Enkel, er hatte in seiner Jugend mehrere Leute gekannt, die dorthin ausgewandert waren, und man hörte später, es ginge ihnen sehr gut. Vielleicht hatte er selbst zu jenem Zeitpunkt einmal an eine Auswanderung gedacht. Vielleicht hatte er auch die Hoffnung gehabt, jenseits des großen Ozeans seinen ältesten Sohn wiederzufinden, der schon zu Beginn des Jahrhunderts, als blutjunger Mensch, dorthin gezogen war, um sein Glück zu versuchen, daß dieser Sohn schon 1936 verstorben war, hatte er niemals wirklich geglaubt, oder er hatte es vergessen.

      Wahrscheinlich hatte der alte Schmied von Mühlfraun keine konkreten Vorstellungen davon, wie weit es von seinem Dorf bis Amerika war, und wahrscheinlich unternahm er auch nicht einmal den Versuch, sich diese Entfernung auch nur annähernd vorzustellen. Man zwang ihn, von allem wegzugehen, was er geliebt und besessen hatte, nun brauchte er einen Ort, an dem es sich anzukommen lohnte, an dem er bleiben würde, bis man ihm erlaubte, in die Heimat zurückzukehren, Amerika schien ihm dieser Ort zu sein.

      Er ging also von seinem Anwesen weg, immer der untergehenden Sonne entgegen, er hatte sich diese Tageszeit, der Orientierung wegen, ausgesucht, und ein Blick auf die Landkarten gibt ihm recht. Immerhin kommt man, wenn man geradeaus und querfeldein geht und wenn man sich nur einigermaßen an die Himmelsrichtung hält, von Mühlfraun über Alt Edelspitz, nördlich an Deutsch Konitz und Poppitz vorbei, über Raabs, Straubing, Pforzheim, Paris an die Küste und nach Überquerung des Atlantischen Ozeans nach Neufundland, hält man sich auf dem Großen Wasser südwestlich, gelingt die Ankunft vielleicht sogar direkt in New York. Hindernisse wie hohe Gebirge und Flüsse sowie die Tatsache, daß auch die kleinen Straßen und Wege nicht immer in die gewünschte Richtung laufen, sind in dieser Überlegung allerdings nicht enthalten. Umwege werden notwendig gewesen sein, aber täglich ging ja die Sonne in derselben Richtung unter, man weiß, daß der Frühling des Jahres 1945 ein prächtiger Frühling gewesen ist, in dem sie fast ununterbrochen vom wolkenlosen Himmel schien, und immer wird der alte Mann ja auch nicht gewandert sein.

      Der alte Schmied verließ das Dorf Mühlfraun in einem Augenblick, in dem niemand auf ihn achten konnte, man suchte nach ihm, so gut es in jenen schrecklichen Tagen überhaupt möglich war, man gab später Suchanzeigen an die dafür zuständigen Stellen auf, alle Bemühungen blieben erfolglos, schließlich hielt man, so sagt sein Enkel, den Großvater für tot. Es gab sehr viele Tote in jenen Wochen und Monaten, Greise und Kinder, das ist bekannt. Ein Achtundachtzigjähriger, den man aus seiner Heimat vertrieben hatte, ein Mensch also, der aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr lange zu leben gehabt hätte, konnte, bei den Zuständen, die damals herrschten, und in der Verwirrung seines Schmerzes, das jedenfalls glaubte man annehmen zu müssen, nicht weit gekommen sein. Man trauerte um den Großvater, den man nicht lebend wiedersehen würde, noch dann, als man selbst aus der Heimat vertrieben und irgendwo in Deutschland angekommen war, man resignierte eines Tages und gab keine Suchanzeigen mehr auf.

      Inzwischen wanderte der alte Mann der österreichischen Grenze entgegen, überschritt sie irgendwo zwischen Feldern, durchquerte das nördliche Niederösterreich, passierte wiederum eine Grenze und ging auf den Böhmerwald zu. Da und dort nahm man ihn auf, gab ihm eine Kleinigkeit zu essen, obwohl man selbst nicht viel hatte, erlaubte ihm, in einer Scheune zu schlafen, er bot dafür seine Dienste an, half auf den Feldern mit und reparierte fachkundig defektes Gerät, immerhin kannte er sich dabei aus, und Männer waren selten in jener ersten Zeit nach dem Ende des Krieges, mit Ausnahme der fremden Soldaten, von diesen jedoch konnte man keine Hilfe erwarten. Es ist durchaus möglich, daß man da und dort froh war, wenn er nicht gleich wieder weiter wollte, sondern eine Zeitlang auf einem Bauernhof blieb. Vielleicht hat er den Winter von fünfundvierzig auf sechsundvierzig, den ersten Friedenswinter, der für sehr viele ein furchtbarer Winter gewesen ist, noch auf einem österreichischen Hof verbracht, ist dann im Frühling erst weitergegangen, durch die Täler des Böhmerwaldes und des Bayrischen Waldes, vielleicht hat er im Sommer sechsundvierzig in bayrischen Viehställen ausgeholfen, ist dort wiederum über die kalten Monate untergekrochen, erst im darauffolgenden Frühling wieder aufgebrochen, um weiterzuziehen, immer der untergehenden Sonne nach, immer in Richtung Amerika. Er durchwanderte Deutschland in westlicher Richtung, er muß überall auf Leute gestoßen sein, die aus der Heimat vertrieben waren wie er, das Land war überschwemmt mit Flüchtlingen und Vertriebenen, immer schwieriger wird es für ihn geworden sein, einen Schlafplatz zu finden, ein Stück Brot, einen Teller Suppe zu bekommen, immer häufiger wird man ihn von den Türen gewiesen haben. Trotzdem muß er irgendwo untergekommen sein, noch einen dritten Winter verbracht haben, bis er eines Tages, ohne es zu bemerken, wiederum eine Grenze passierte. Er sei, erzählte er später, nachdem er in einer Scheune geschlafen habe, von Leuten geweckt worden, deren Sprache er nicht verstanden habe. Am Klang ihrer Stimmen habe er gemerkt, daß er in Frankreich sei.

      Nein, Amerika hat der alte Schmied von Mühlfraun nicht erreicht, obwohl es ihm zuzutrauen gewesen wäre. Er war jetzt einundneunzig Jahre alt und immer noch rüstig, aber er wird wohl schon etwas müde gewesen sein von dem weiten Weg, denn er ließ sich ohne Widerspruch von den Leuten des Roten Kreuzes, die man verständigt hatte, abholen, er ließ sich in ein Altersheim in Baden-Württemberg bringen.

      Als der Enkel des Schmieds diese Geschichte erzählte, war es an unserem Tisch ganz still geworden. Unser Tisch bildete eine kleine, schweigsame Insel inmitten des Lärms. Wir saßen unter einem Baum am Rand der Wiese, doch nahe genug am Zelt, aus dem das Geräusch der Stimmen wie ein dumpfes Brausen zu uns herüberdrang, wenn die Blaskapelle schwieg. Um uns herum, an den anderen Tischen, war Lachen und lautes Gespräch, Leute kamen und gingen, der Geruch von Bratwurst und Grillhuhn mischte sich mit den Gerüchen von Backwerk, in der Hitze dampfender Erde und zertretenem Gras. Die Heimattreffen unserer Gegend finden im Hochsommer statt.

      Daß der Großvater bis zu seinem Tod gehofft hatte, die Heimat wiederzusehen, sagte der Enkel des alten Schmieds, sei mit Sicherheit anzunehmen gewesen. Im Nachtkästchen neben seinem Bett im Altersheim habe er zahllose Päckchen mit den verschiedensten Samen gehabt, ständig habe er neue Samen dazugekauft, die Pflegerinnen hätten ihre liebe Not damit gehabt, die alten, schon keimenden Samen zu entfernen, ohne daß er es merkte. Salat, Kraut, Karotten und Sellerie,


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