Die Früchte der Tränen. Ilse Tielsch
er, müsse man ja wieder anbauen können, wenn man in die Heimat zurückkäme, er jedenfalls würde für diesen neuen Anfang gerüstet sein. Hier, habe er zu seinem Enkel gesagt, als ihn dieser besuchte, hier habe ich alles, was wir dann brauchen.
Immer und überall habe der Großvater auch eine alte Weste bei sich gehabt und getragen, er habe sich geweigert, sich davon zu trennen, selbst beim Baden durften sie ihm die Pflegerinnen nicht wegnehmen, er saß dann in der Wanne und hielt sie in der hochgehobenen Hand, um sie vor dem Naßwerden zu schützen. Niemand wußte, was es mit diesem Kleidungsstück für eine Bewandtnis hatte, man ließ ihm seinen Willen, um ihn nicht unnötig aufzuregen oder zu kränken. Als er, erst 1954, starb, einfach an Altersschwäche und ohne krank gewesen zu sein, gab man es ihm mit in den Sarg. Der Enkel wollte den Großvater noch einmal sehen, er nahm die Weste an sich, bemerkte, daß etwas darin eingenäht war, bemerkte auch eine mit unbeholfenen Fingern genähte Stelle, trennte sie auf, hielt ein sorgsam verschnürtes Päckchen in der Hand.
Wissen Sie, was in dem Päckchen gewesen ist?
Der Schlüssel ist in dem Päckchen gewesen, der Schlüssel zur Schmiede in Mühlfraun.
Eine still gewordene Tischrunde, von den übrigen Tischen Lachen und Lärm. Hitze, die uns den Atem nimmt, die Blaskapelle spielt mit Gefühl DA DRUNT IM BÖHMERWALD, WO MEINE WIEGE STAND. Der Enkel des alten Schmieds aus Mühlfraun wendet sein Gesicht zur Seite, er schämt sich der Tränen.
Wir fahren oft viele hundert Kilometer weit, um beisammen zu sitzen und solche oder ähnliche Geschichten zu hören, oder um einander zu berichten, wie es uns seit dem Verlassen der Heimat ergangen ist. Wir überspringen in unseren Gesprächen auch jene Grenze, die unser Leben in zwei ungleiche Teile teilt, wir erinnern uns an unsere Anfänge, damit sie uns nicht verlorengehen. Neben den alten Fotografien, auf denen die Dörfer und Städte zu sehen sind, wie sie waren, als wir dort lebten, zeigen wir einander auch andere, auf denen man sieht, wie sie sich im Lauf der Jahrzehnte verändert haben. In unseren Gesprächen fügen wir die beiden auseinandergerissenen Teile unserer Existenz aneinander, versuchen, ein Ganzes daraus zu machen, die Bilder helfen uns dabei, unsere verlorengegangene Vergangenheit wiederzufinden, sie mit der Gegenwart zu verbinden. DIES IST MEIN DORF bedeutet, daß dieser Ort, der vielleicht nur noch auf einer abgegriffenen Schwarzweißfotografie existiert, zu unserem Bewußtsein gehört, wie wir zu ihm gehören, daß mit unserer Vergangenheit ein Teil von uns selbst dort geblieben ist, den wir nicht löschen können, daß wir nicht wären ohne dieses Dorf, ohne die Sprache, die dort gesprochen wurde, ohne die Landschaft, die es umgibt.
(Seit 1945 sind über tausend Dörfer mit deutschen Namen von den Landkarten verschwunden, es gibt von ihnen keine Spuren mehr. Die von den Besitzern verlassenen Häuser und Bauernhöfe zerfielen, die Reste der Trümmer wurden beseitigt, die Friedhöfe eingeebnet, die verfallenden Kirchen und Ruinen gesprengt.
Die Stadt Brüx gibt es nicht mehr. Wo früher schöne Bürgerhäuser den weiten Stadtplatz umstanden, Kaufleute ihre Waren anboten, Kinder spielten, Spaziergänger unterwegs waren, dehnen sich die Abraumhalden der Kohlengruben. Man hat eine neue Stadt gebaut, sie heißt MOST, ein Wort, das ebenfalls BRÜCKE bedeutet, die alte Stadt mußte dem Kohlenabbau weichen. Nur die Kirche hat man auf Rollen, fünf Kilometer weit, an den Rand der Flöze gebracht. Anderes zerstörte, auf der Suche nach Zielobjekten, das Militär mit Kampfflugzeugen und Artillerie. Manches zerstörten Schnee, Regen und Wind. Ganze Stadtteile zerbröckelten, historische Schlösser verfielen, standen eine Zeitlang noch als Ruinen da, bis man ihren Anblick nicht mehr ertrug und die Reste sprengte, wegbrachte, anderweitig verwendete, was noch verwendbar war. In den Gebirgen mit den berühmten Namen sterben die Wälder. Über Gärten wuchert das Gras. Von manchem, was HEIMAT gewesen ist, sind nur noch Reste geblieben.)
Auf der Fahrt zu einem Heimattreffen bei Stuttgart erzählt ein Mann, der aus Mähren stammt, lange und liebevoll von seinem Heimatdorf. Natürlich fahre ich oft wieder hin, sagt er, erst im vergangenen Sommer bin ich wieder dort gewesen.
Wollen Sie mein Dorf sehen, sagt der Mann, greift in die Innentasche seiner Jacke, holt eine Brieftasche heraus, sucht in der Brieftasche nach einer Fotografie, hält sie mir dann entgegen. Das Bild zeigt eine Straße, die sich durch flaches Land zieht, rechts und links von der Straße wuchert vereinzelt Akaziengebüsch. Zwei Frauen beugen sich zum Boden hinab, als suchten sie dort etwas. Weit und breit ist kein Gebäude zu sehen.
Das ist mein Dorf, sagt der Mann, und dort, wo die beiden stehen, meine Frau und meine Schwägerin, dort ist mein Elternhaus.
Sie sehen nichts? sagt der Mann. Aber ich habe Ihnen doch alles genau beschrieben. Es ist ein Straßendorf, rechts und links an unser Haus schließen die Nachbarhäuser an, dahinter liegen die Höfe. Dort ist das Schulhaus und schräg gegenüber die Kirche. Und der kleine Bub, der die Gänse zum Bach treibt, bin ich. Ihr Fehler ist, sagt der Mann, daß Sie das Bild nur mit den Augen sehen. Ich, sagt er, sehe es anders. Ich sehe es innen.
Kann ein Stück flaches Land, von dem alle Spuren menschlichen Lebens getilgt sind, auf dem nicht ein Stein, nicht ein Baum oder Strauch, kein Fußabdruck, keine Wagenspur mehr an die Menschen erinnert, die dort gelebt haben, noch heimatlich berühren? Schon die Kontur eines Hügels, den wir als Kinder kannten, schon der Geruch des Unkrauts am Straßenrand, selbst der Staub, den der Wind von den Äckern treibt, bewegt unser Herz.
Bei Judiths Begräbnis, oder vielmehr davor oder danach, würde, das wußte ich, vor allem von Judith gesprochen werden. Es würden Vermutungen angestellt werden, die nicht beweisbar sein würden, verschiedene Leute würden verschiedene Geschichten erzählen. Aber auch unsere Herkunftsorte würden wiedererstehen, ihre Häuser und Straßen würden sich mit Leben füllen. Wir würden durch die Jahrzehnte zurückfallen und wieder zu jenen Kindern werden, die wir einmal waren. In unseren Erzählungen würden die Spiele, die wir gespielt hatten, wilder, die Streiche, die wir ausgeheckt hatten, verwegener sein, als sie in Wirklichkeit gewesen sind. Anni würde wieder zum Leben erwachen, das Kind, das auf seinem weinroten Fahrrad über den abschüssigen Stadtplatz von B. gefahren ist, mit wehenden Zöpfen und so wild, daß es stürzte und sich die Knie aufschlug, das auf der Wiese hinter dem Haus über die Springschnur sprang, mit von der Sonne erhitzter Haut auf den hölzernen Liegebrettern des Schwimmbads lag und Helga, der blonden Freundin, Geheimnisse ins Ohr flüsterte, von dieser wiederum Geheimnisse erfuhr. Judith würde im Zusammenhang mit dieser Erinnerung ebenfalls wieder Kind sein, Judith, die niemals vom Rad fiel, weil sie weniger wild als Anni war, die alles besser konnte als andere, die alle Geheimnisse kannte. Nein, darüber würde nicht gesprochen werden, aber ich, Anna, würde mich daran erinnern, auch an die älter gewordene Anni, die Feldpostbriefe von Christian in der Tasche trug, MEINE LIEBE ANNI, die sie beantwortete, MEIN LIEBER CHRISTIAN, die, mit Christian über eine weit im Ungewissen liegende Zukunft sprechend, die Angst zu verdrängen versuchte, WENN DER KRIEG ZU ENDE IST, WENN WIR ES ÜBERLEBEN, die von Christian im April fünfundvierzig Abschied nahm.
Auch daran würde ich mich erinnern, wie Judith auf den silbernen Ring wies, den Anni von einem bestimmten Zeitpunkt an am Ringfinger trug.
Was hast du da für einen Ring, hatte Judith gesagt.
Der ist von Christian, erwiderte Anni, Trotz und Triumph mischten sich in ihrer Stimme.
Judith wurde rot im Gesicht, wußte es, wendete sich ab, weil sie dachte, daß Anni es dann nicht bemerken würde.
Das verzeih ich dir nie, sagte sie, schon im Gehen, nein, sie schrie es, schrie es Anni über die Schulter zurück zu. DAS VERZEIHE ICH DIR NIE!
3
Anfang September neunundvierzig stand Europa unter dem Einfluß eines Hochdruckgebietes. In Wien lagen die Tagestemperaturen trotz nächtlicher Abkühlung zwischen dreiundzwanzig und fünfundzwanzig Grad, während der Herbstmesse herrschte ausnahmslos schönes, für die Jahreszeit viel zu warmes Spätsommerwetter. Auf dem Ausstellungsgelände im Prater drängten sich die Besucher zu Tausenden vom frühen Vormittag bis zum Abend, die angebotenen Waren lockten, obwohl sie nicht für den Einzelkäufer gedacht waren und den meisten Besuchern zum Kauf ohnedies das nötige Geld gefehlt hätte. Sehen wollte man, sich an der Vielfalt des Gebotenen erfreuen. Zu lange hatte