Die Früchte der Tränen. Ilse Tielsch
und sehen, wie das Bett aufgeht, ohne daß jemand es auch nur anrührt, sie versuchen, dahinterzukommen, wie das funktioniert, aber normalerweise kommen sie nicht dahinter, das freut sie, das bringt Spannung in die Sache. Sie sind dankbar für den gut gemachten Trick, die Leute, das ist fast wie wenn sie im Zirkus gewesen wären, aber sie mußten dazu nicht in den Zirkus gehen und Geld ausgeben, sie haben den Trick ganz umsonst mit dem Eintrittsgeld für die Messe mitgekauft. Und wenn sie dann wieder zu Hause sind, erinnern sie sich daran und reden davon.
Zum Glück ist ja ein ständiges Kommen und Gehen auf dieser Messe, sagte Plotzner, also einmal ist keinmal, die Sache ist nicht so schlimm.
Da bin ich aber beruhigt, sagte Bernhard.
Komm, sagte er zu Anni, wir gehen.
Plotzner packte ihn am Arm. Nein, sagte er, so ist das nicht gemeint. Sie haben mir versprochen, mich abzulösen, ich brauche eine Pause bei diesem Betrieb und bei dieser Hitze, auch meine Frau braucht eine Pause. Wir haben einen Preis für die Stunde ausgemacht. Wo soll ich jetzt, mitten im Messebetrieb, jemand anderen herbekommen?
Sie haben doch einen Sohn, sagte Bernhard.
Der Peter ist im Geschäft, sagte Plotzner. Einer muß im Geschäft sein, sonst machen die Angestellten, was sie wollen. Kommen Sie, sagte er, ich gebe Ihnen einen Schilling mehr für die Stunde.
Das Angebot würde ich annehmen, sagte Judith.
Na ja, meinte Anni.
Also gut, sagte Bernhard, gehen wir.
Ich komme mit, sagte Judith.
Sie schoben sich wieder durch das Gedränge, an dem Mann mit dem Milchtopf vorbei, der Erfinder des Schraubenziehers drehte immer noch Schrauben in ein Stück Holz, die Dame mit dem Strumpfhalter ohne Knöpfe schob ihren Rock hoch und wies auf ihr Bein, der Student, der die Dachziegel anpries, warf ihnen einen vielsagenden Blick zu, er deutete auf die Koje, vor der sich schon wieder die Menge staute. Auf dem Patentbett, das jetzt aufgeschlagen war, lag ein junger Mann, die Arme unter dem Kopf verschränkt, und täuschte laute Schnarchtöne vor.
Plotzner zog sein Taschentuch aus der Rocktasche, wischte damit über die Stirn und steckte es wieder ein. Wünsche wohl geruht zu haben auf Plotzners Patentbett, sagte er scharf.
Plotzner junior öffnete die Augen und gähnte. Die Menge brach in Gelächter aus. Plotzner senior tat, als wäre die Sache mit Absicht so arrangiert worden, er vermied im Hinblick auf die drohende Blamage einen Familienstreit und nützte die Situation.
Peter Plotzner schüttelte Bernhard und Anni die Hand und entfernte sich, er hatte den beiden den Nebenverdienst in der Möbelkoje seines Vaters vermittelt. Viel Spaß und überarbeitet euch nicht, rief er ihnen noch zu, dann war er verschwunden.
Diesmal lief alles zu Karl Plotzners Zufriedenheit ab. Bernhard hielt seinen Vortrag über die Qualitäten der raumsparenden Möbel, vor allem der Polsterbank, Anni zog im richtigen Augenblick kräftig am Seil, das sich nicht verklemmt hatte, sondern prompt funktionierte. Die Bank glitt lautlos nach vorne und öffnete sich zum Bett, das Publikum staunte und applaudierte.
Plotzner, hinter dem Wandschirm stehend, nickte zufrieden. So müssen Sie es machen, so ist es richtig, sagte er zu Anni, wenn Sie es jedesmal so machen, dann wird es ein Erfolg, dann lasse ich vielleicht mit mir reden und gebe Ihnen noch einen Schilling mehr.
Im selben Augenblick ereignete sich draußen auf dem Podest etwas, womit er nicht gerechnet hatte. Judith, die unten im Publikum gestanden war und die Vorstellung interessiert verfolgt hatte, sprang, ihren roten Rock mit beiden Händen festhaltend, auf das Podest. Dieses prachtvolle Bett muß man aber auch ausprobieren, rief sie, ich möchte wissen, wie man darauf schläft. Ehe Bernhard es verhindern konnte, war sie, leicht wie eine Tänzerin, auf das Patentbett gesprungen, nicht ohne die Schuhe vorher abzustreifen, hatte, auf und ab hüpfend, die Federung erprobt, sich dann hingelegt, der Länge nach ausgestreckt. Nun räkelte sie sich behaglich auf den rotbraunen Polstern, ihr Rock verrutschte, eines ihrer schlanken Beine wurde bis zum Schenkel hinauf sichtbar, wofür sich vor allem der männliche Teil der Zuschauer mit lautem Beifall bedankte.
Plotzner, der mit geschärftem Ohr die zu diesem Zeitpunkt nicht erwartete Bewegung in der Menge wahrgenommen hatte, lugte durch einen Spalt im Wandschirm, erblickte zwischen den Blättern eines der Gummibäume Judiths roten Rock und Judiths nacktes Bein, wollte erst wütend aus seiner Ecke hervorbrechen, die freche Person von seinem Patentbett verjagen, besann sich dann, blieb still und wartete ab. Er vernahm, wie die Menge, nachdem Bernhard Judith endlich bewogen hatte, sich wieder aufzurichten und das Bett zu verlassen, Unmut darüber äußerte, daß die Vorstellung zu Ende war, dann lachend weiterzog. Erst dann trat er hinter dem Wandschirm hervor und auf Judith zu, die eben dabei war, ihre Schuhe wieder anzuziehen.
Fräulein, sagte Plotzner, Sie verstehen etwas vom Geschäft, Sie müssen das unbedingt wiederholen.
Judith sah ihn erschrocken an. Das fällt mir nicht ein, sagte sie zornig.
Aber Fräulein, sagte Plotzner, haben Sie nicht gesehen, was für ein Erfolg das war?
Judith hörte ihn nicht mehr, sie hatte sich schon durch die Menge gedrängt und lief durch die Halle dem Ausgang zu.
(Ich, Anna, sehe Judith mit wehendem roten Rock durch die Tür der Halle verschwinden. Ich sehe Anni und Bernhard wiederum das Podest besteigen, auf dem Plotzners Patentmöbel stehen. Sie werden, indem sie diese anpreisen, mithelfen, eine Epoche zu prägen. Die Verhältnisse werden sich bessern, aber die Architekten werden auf ihren Reißbrettern weiterhin kleinräumige Wohnungen entwerfen, das kleine Glück wird in kleine Räume gedrängt bleiben, auch dann noch, wenn keine Patentbetten mehr nötig sind. Manches wird überflüssig werden, weil es in den zu kleinen Zimmern keinen Platz mehr dafür geben wird, zum Beispiel Klaviere. Die Kinder werden nicht mehr Klavier spielen lernen wie Anni, wie Heinrich, wie auch Valerie, sie werden auf Knöpfe drücken, Knöpfe erfordern nur wenig Platz. Die Knopffabriken werden erweitern, in großen Hallen werden kleine Knöpfe erzeugt werden, die Knöpfe werden an kleinen Apparaten angebracht werden, die Apparate werden in den kleinen Wohnzimmern die Klaviere ersetzen. Die Zeit wird anbrechen, in der man Klaviere nachts heimlich von den Brücken in die Donau kippt, weil niemand sie mehr braucht und niemand sie mehr haben will, vielleicht auch in andere Flüsse von einiger Breite und Tiefe, Architektur und Technik werden den heimlichen Tod der Klaviere verursacht haben, das Ertrinken der Klaviere, das Verstummen der Klaviere. Niemand wird mehr Klavierauszüge von Opern oder Operetten auf Notenpulte legen und daraus Opern- oder Operettenmusik spielen.
Anni vor dem schwarzen Flügel, auf dem in Goldbuchstaben HANSMANN geschrieben steht, Valerie vor dem braunen Flügel im Bauernhaus ihrer Eltern in B., Heinrich vor dem Flügel in Mährisch Trübau, Friederike vor dem Flügel in Sankt Ägyd, Kinder, die Musik durch Klavierspiel erzeugen, nur der Musik zuliebe, dies alles wird Vergangenheit sein.
Heinrich ging, im Ersten Weltkrieg in Polen, auf ein fremdes Klavier zu, das in einem polnischen Herrenhaus stand, er spielte Musik von Lehár und Strauß. Klaviermusik, spontan auf fremden Klavieren gespielt, wird es kaum noch geben, was bleiben wird, werden die Kriege sein. Der Tod der Klaviere, das Verschwinden der Klaviere wird nicht dazu beitragen, die Welt friedlicher werden zu lassen, die Knöpfe werden eine furchtbare Bedeutung erlangen. Dies aber sind Entwicklungen, die Plotzners Patentbett nicht direkt verursacht hat.)
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Der fünfte Winter nach dem Ende des Krieges war kalt. Eine böse Zeit für jene, die noch in Notunterkünften saßen, keine warme Kleidung, keine festen Schuhe hatten, kaum Brennmaterial und die nötigsten Lebensmittel kaufen konnten. Zwei Jahre nach der Währungsreform war im Westen Deutschlands die Rationalisierung der Lebensmittel zum großen Teil aufgehoben worden, trotzdem spürte man den Mangel überall, denn es fehlte an Arbeitsplätzen und damit auch an Geld. Ein Ei kostete achtzehn Pfennig, die Butter konnte man um zwei Mark fünfzig für das halbe Kilo kaufen, ein Kilo Brot kostete eine Mark. Hedwig hatte mit hundertvierzig Mark im Monat für die Familie auszukommen. Sie war eine der 469.000 Kriegerwitwen, die zu versorgen waren.
Obwohl man