Die Früchte der Tränen. Ilse Tielsch
schon eiserne Militärbetten gegeben.
Von den Anfängen muß gesprochen werden. Wie sie nacheinander gekommen sind, erzählt Dr. K., der Apotheker, wie der Doktor, der Armeechirurg gewesen war, bei dem amerikanischen Offizier einen Blinddarmdurchbruch diagnostiziert hat, wie der Amerikaner ihn aufgefordert hat, ihn zu operieren.
Yes, habe der Doktor gesagt, ich werde operieren, habe den Amerikaner in der Baracke auf einen Tisch gelegt und mit seinen mehr als bescheidenen Instrumenten so operiert, daß er überlebte. Das hast du gut gemacht, sagte der Offizier, du wirst Chefarzt hier im Krankenhaus.
Was man überhaupt für Möglichkeiten gehabt hat, was man alles werden konnte, wenn man durch Zufall auf die maßgeblichen Leute der Besatzungsmacht gestoßen ist, wenn man es verstanden hat, die Möglichkeiten, die sich boten, wahrzunehmen.
Wie sie einander halfen, wenn ein Kind zur Welt kam, wie die Uralten sich der Kinder annahmen, weil die Jüngeren zur Arbeit gebraucht wurden. DA WAR DIE FAMILIE WICHTIG, DA WAR EINER AUF DEN ANDEREN ANGEWIESEN.
Im Wald hatte man rauchloses Pulver erzeugt, Granaten, Munition für den Krieg, den wenige gewollt hatten, der so viele Opfer gekostet hatte, der auch viel später noch Opfer forderte, weil Unzählige an den Spätfolgen, die sich einstellten, starben. Sie richteten sich in diesem Wald ein, um darin zu leben, sie gingen nicht, als man ihnen die Bewilligung zum Aufbau entzog, bauten mit dem Risiko, wieder vertrieben zu werden, erste, kleine Betriebe auf, blieben und arbeiteten mit Zähigkeit und Fleiß, halfen einander weiter, ließen sich nicht entmutigen, überzeugten schließlich die Behörden und die Besatzungsmacht. Sie erzeugten Ofenrohre, Puppen, Musikinstrumente, Spielwaren, Knöpfe, sie bearbeiteten und veredelten Glas. Von den Unternehmen, zu denen sie damals den Grundstein legten, haben mehrere internationale Bedeutung erlangt. Auch nordböhmische Glasfachleute waren in die Kraiburger Wälder gekommen, Glas sollte in der neuen Siedlung eine bedeutende Rolle spielen.
(Wenn Anna und Bernhard Gäste bewirten, dann trinken diese Wasser und Wein aus Gläsern, die in Waldkraiburg hergestellt worden sind.)
Ich bin durch Waldkraiburg gegangen und habe die Namen der Straßen gelesen, die an die alte Heimat erinnern. Troppauer Straße, Neutitscheiner Weg, Tilsiter Straße, Prager Straße, Adlergebirgsstraße. Ich habe in einem Hotel in der Berliner Straße geschlafen, das zu einem Teil noch aus einem der übriggebliebenen Bunker besteht. Oskar F. hat mir die anderen, noch existierenden Bunker gezeigt, das Jugendzentrum, die Polizeidienststelle in der Nähe des Annabergplatzes, eine Schlosserei. Der Jugendstilmaler Ferdinand Staeger hat bis zu seinem Tod in einem Bunker gewohnt, ich, Anna, habe ihn dort noch besuchen dürfen. Auch jene ersten Häuser, die man am Annabergplatz gebaut hat, sind noch bewohnt.
In einem Bildband sieht man die schmale Straße, die damals über das Bahngeleise geführt hat, hinter dem Bahngeleise ragt hoher Fichtenwald.
Überall ist hier Wald gewesen, sagt Oskar F., und hier war die alte Kirche, die Bunkerkirche, von der meine Frau erzählt hat, man hat sie erst vor ein paar Jahren abgerissen.
Hier liegt noch etwas Schutt davon.
Ich habe mir gedacht, daß Sie das sehen wollen, sagte Oskar F. Auf dem Waldfriedhof gibt es eine Gedenkstätte für die in der Heimat zurückgebliebenen Toten, sie ist aus Ziegeln erbaut, man konnte einen solchen Ziegel kaufen und die Namen und Daten der in der Heimat zurückgebliebenen Toten einbrennen lassen. Ich suchte im Telefonbuch nach Leuten aus dem Adlergebirge, die den gleichen Familiennamen tragen, der auch der meine gewesen ist, es könnten Nachkommen meines Vorfahren Adam, des um 1580 Geborenen, sein. Was ich nicht zu hoffen gewagt hatte, trat ein. Es fand sich eine Familie dieses Namens.
Was hatte ich, als ich die Nummer wählte, eigentlich gehofft?
Ja, sagte die Frau, die sich meldete, sie heiße so und sie stamme auch aus dem Adlergebirge.
Tschenkowitz, ja, das sei ihr bekannt.
Nein, sagte die Frau, es interessiere sie nicht, mit mir in Kontakt zu treten.
Warum denn? fragte die Frau.
Der Plotzner kommt, sagte Anni erschrocken, gehen wir schnell weg.
Nein, sagte Bernhard, das hat keinen Sinn, er hat uns ja schon gesehen.
Ihr werdet euch doch nicht fürchten, sagte Judith.
Plotzner kam mit rudernden Armbewegungen direkt auf sie zu, ein Zweifel war ausgeschlossen, er hatte sie gesucht und auch gefunden. Kleine Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, er schien gelaufen zu sein.
So geht das nicht, Herr Student, sagte er zu Bernhard, das können Sie mit mir nicht machen. Zuerst machen Sie mich lächerlich vor den Leuten, und dann rennen Sie einfach davon.
Anni blickte besorgt, sie dachte daran, was Plotzner ihnen angedroht hatte, er würde Schritte unternehmen, hatte er gesagt, es blieb abzuwarten, wie das gemeint gewesen war.
Das Seil ist hängengeblieben, sagte sie, wir können gar nichts dafür, daß das passiert ist.
Das müssen Sie mir nicht sagen, das haben wir ja alle gesehen, bemerkte Plotzner, aber deswegen brauchen Sie ja nicht den Wandschirm umzuwerfen.
Sie hat sich vor Ihnen gefürchtet, sagte Bernhard.
Lächerlich, sagte Plotzner, und ein Gummibaum ist auch abgebrochen.
Was kostet ein Gummibaum, rechnete Anni. Plotzners Schritte würden den Preis eines Gummibaums einbeziehen.
Sie sind auf sie zugestürzt wie ein wild gewordener Hund, sagte Bernhard.
Hund, wiederholte Plotzner drohend, das sagen Sie nicht noch einmal zu mir, Herr Student!
Ich wollte Sie nicht beleidigen, erwiderte Bernhard. Aber Sie hätten sich sehen sollen, wie Sie losgestürzt sind.
Ja, sagte Anni, das ist wahr.
Plotzner zog ein Taschentuch aus der Rocktasche und wischte sich damit den Schweiß von der Stirn. Sie können leicht reden, sagte er, Sie kommen her, spielen ein bißchen Theater und wollen noch Geld dafür, aber ich muß dieses Geld erst verdienen. Ich muß Ideen haben, ich muß mir etwas einfallen lassen, damit die Leute später in die Geschäfte gehen und meine Möbel kaufen und keine anderen. Es sind gute Möbel, und auf das Bett habe ich schließlich ein Patent, es geht ganz leicht auf, auch ohne das Seil, es gibt andere Ausziehbetten.
Und warum machen Sie dann das ganze Theater, fragte Anni.
Junge Frau, entgegnete Plotzner, verstehen Sie denn überhaupt nichts vom Geschäft? Die Leute brauchen das, man muß ihnen etwas bieten, was sie nicht überall sehen. So lang hat man bei uns nichts zu kaufen bekommen, die Geschäfte waren leer, jetzt wird überall angeboten, seit achtunddreißig oder neununddreißig haben die Leute nicht mehr so viele verschiedene Sachen gesehen. Wenn sie von dieser Messe nach Hause kommen, haben sie ein Durcheinander von Sachen im Kopf, die sie alle gesehen haben und die sie sich gerne kaufen würden, wenn sie das Geld dazu hätten.
Aber sie haben ja das Geld gar nicht, sagte Anni, die meisten haben es nicht.
Eben, sagte Plotzner. Jetzt haben Sie ins Schwarze getroffen, junge Frau. Es gibt zwar wieder Leute, die Geld haben, aber die haben auch andere Wohnungen und die brauchen auch keine Ausziehbetten, die Ausziehbetten sind für die kleinen Wohnungen und für die armen Leute gedacht. Die Leute, für die sie erfunden sind, müssen sparen, ehe sie sich ein Möbelstück kaufen können, und weil sie sparen müssen, überlegen sie sich gut, was sie kaufen. Das ist eine Katze, die sich in den Schwanz beißt, junge Frau, das muß ein Geschäftsmann heute bedenken. Sie wissen ja nicht, was ein Geschäftsmann alles bedenken muß. Überall werden jetzt raumsparende Möbel angeboten, überall werden sie gemacht, deshalb ist es wichtig, daß man den Leuten etwas Besonderes bietet, etwas, was ihnen im Gedächtnis bleibt.
Die Leute, die meine Koje besuchen, sagte Plotzner, wissen sehr gut, daß das mit dem Blasen ein Trick ist, sie sind ja nicht blöd. Aber wie dieser Trick funktioniert, das können sie nicht so leicht herausbekommen, das Nylonseil ist ja beinahe unsichtbar, und außerdem ist es unter dem Teppich versteckt, und die Leute achten nur auf das Bett, sie kommen nicht dahinter,