Die Früchte der Tränen. Ilse Tielsch

Die Früchte der Tränen - Ilse Tielsch


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bestärkt?

      Josef und Anna, auch Hedwig verfolgten die Tagespolitik, aber auch und vor allem alle Berichte zum Flüchtlingsproblem in der Zeitung, die in ihrem Dorf gekauft und gelesen wurde, dem ERLANGER TAGEBLATT, der HEIMATZEITUNG FÜR ERLANGEN UND UMGEBUNG. Sie konnten dieser Zeitung am 10. Oktober desselben Jahres über den am vorhergegangenen Sonntag im ganzen Bundesgebiet abgehaltenen TAG DER HEIMAT einen genauen Bericht entnehmen, Zitate aus den bei diesem Anlaß an vielen Orten gehaltenen Ansprachen und Reden waren wiedergegeben.

      EINE ENTWURZELTE UND HOFFNUNGSLOSE BEVÖLKERUNG VON 12 MILLIONEN IN DER MITTE EUROPAS WIRD IMMER EIN ELEMENT DER UNSICHERHEIT UND UNRUHE DARSTELLEN, UND ES GEHT NICHT AN, SO ZU TUN, ALS OB DIESES PROBLEM ÜBERHAUPT NICHT EXISTIERE. Dies hatte der Kirchenpräsident der evangelischen Landeskirche, Martin Niemöller, in einer Rede gesagt, die auch vom australischen Rundfunk ausgestrahlt worden war, das Erlanger Tageblatt hatte sie in Auszügen abgedruckt. AUCH WENN ES KEINERLEI TENDENZEN ZUM KOMMUNISMUS BEI DIESEN LEUTEN GIBT, WERDEN SIE DOCH IMMER EINE NEIGUNG ZUM EXTREMISMUS HABEN.

      Wir sind keine Extremisten, ereiferte sich die kleine, zarte Großmutter Anna, wir sind friedliche Leute. Auch wenn es uns jetzt schlecht geht, auch wenn wir in Not sind, werden wir keine Unruhe stiften.

      (Sie sollte recht behalten. Was man befürchtet hatte, daß die Vertriebenen einen Unruheherd in Europa darstellen könnten, trat nicht ein.)

      In Düsseldorf, lasen Josef und Anna in ihrer Zeitung, habe der Bundesminister für Flüchtlingsfragen erklärt, daß er für eine friedliche Rückführung der Ostvertriebenen arbeiten würde.

      Der Präsident des Deutschen Bundesrates bezeichnete die Wiedergewinnung des deutschen Ostens als eine Angelegenheit der gesamten europäischen Politik und Zivilisation.

      Ein Redner der Sudetendeutschen Landsmannschaft forderte die Rückgabe des Sudetenlandes an Deutschland auf Grund des 1938 auch von England und Frankreich sanktionierten Münchner Abkommens.

      In Dortmund sagte ein Staatssekretär, NICHT AUSWANDERN, SONDERN RÜCKWANDERN sei die Parole. Nur in Stuttgart betonte ein Redner aus Riga, die Flüchtlinge müßten sich von ihren Träumen befreien und in den Westzonen eine Adoptivheimat schaffen.

      Es gibt nur eine Heimat, sagte Josef, eine Adoptivheimat gibt es nicht.

      Du wirst sehen, sagte seine Frau Anna, bald fahren wir wieder in die Heimat zurück.

      Der amerikanische Hochkommissar McCloy, stand in der Erlanger Zeitung, habe zum Problem der Heimatvertriebenen gesagt, wenn man in dieser Beziehung geschickt vorginge, könnte diese Massenwanderung eines Tages zu einer wirtschaftlichen Blüte für Deutschland führen, wie sie Amerika bei der Einwanderung der Pioniere erlebt habe.

      Das ist auch wahr, sagte die kleine Großmutter Anna. Unsere Leute sind fleißig, das wissen die Amerikaner, viele von ihnen stammen ja selbst von Sudetendeutschen ab.

      Sie dachte an ihren Bruder Ferdinand, der zu Beginn des Jahrhunderts nach Amerika ausgewandert, von dort jedoch niemals zurückgekommen war.

      Einmal, sagte die kleine Großmutter, ist man drüben vor der Entscheidung gestanden, ob Deutsch oder Englisch die Sprache der Vereinigten Staaten werden soll, so viele Deutsche hat es damals dort als Einwanderer gegeben. Das hat man bis heute nicht vergessen, das kann man ja gar nicht vergessen haben. Unsere Leute haben Amerika mit aufgebaut, wie es heute ist, sie könnten auch hier in Deutschland viel leisten, aber man gibt ihnen ja nicht die Gelegenheit dazu.

      Wenn man endlich erkannt haben wird, daß das falsch gewesen ist, dann werden wir längst nicht mehr hier sein. Aber, sagte die kleine Großmutter Anna, in der Heimat wird es für uns auch sehr viel Arbeit geben, wenn wir zurückkommen. In der Heimat wird auch viel wieder aufzubauen sein.

      Die Sehnsucht der Alten war groß, und die Heimat war weit entfernt, nur wenige, die aus der Umgebung von B. stammten, hatte es in die Föhrenwälder rund um Erlangen verschlagen. Sie legten an Sonntagen oft weite Fußwege zurück, um einander beim Kirchgang zu treffen. Nach dem Gottesdienst standen sie dann auf der Straße beisammen und besprachen die politische Lage. Manchmal hatte auch der eine oder der andere einen Brief erhalten, in welchem Wissenswertes aus anderen Landesteilen oder über in anderen Gegenden Deutschlands lebende Bekannte mitgeteilt wurde, ein Kind war geboren worden, ein Verschollener hatte sich über das Rote Kreuz gemeldet, ein Mädchen aus einer heimatvertriebenen Familie hatte einen einheimischen Mann geheiratet, dies allerdings kam selten vor, noch seltener gab man einem der besitzlosen Vertriebenen ein einheimisches Mädchen zur Frau. Erst 1955 stellte man anhand von Statistiken fest, daß die Neigung der Vertriebenen, untereinander zu heiraten, nachgelassen habe, daß die Verschwägerung zunehme, daß DIE ZEIT MITHELFE, DEN STROM DES ZUSAMMENLEBENS ZU VERBREITERN. Man zog zu diesem Zeitpunkt die Folgerung, daß das soziologische Aufgehen der Vertriebenen in die größere Gruppe des einheimischen Gesamtvolkes als allmählicher Prozeß nicht mehr aufzuhalten sei.

      Wenn ich an jene Zeit zurückdenke, sagt Heidi, wenn ich mich daran erinnere, wie der Großvater bei jedem Wetter den weiten Weg nach Röttenbach zur Kirche gegangen ist, um die Leute, die er gekannt hat, zu treffen und mit ihnen zu sprechen, wenn ich mich daran erinnere, wie sie bei jedem Wetter vor der Kirche beisammengestanden sind, auch wenn es geregnet hat, auch im Winter, wenn es sehr kalt gewesen ist, dann verstehe ich die Fremdarbeiter, die sich auf den Bahnhöfen treffen. Weil sie miteinander in ihrer Sprache reden wollen, weil sie Sehnsucht nach ihren Heimatländern haben. Gerade wir Heimatvertriebenen, sagt Heidi, die sich heute als Nürnbergerin fühlt, gerade wir, die wir unter der Fremdheit gelitten haben, als wir hierherkamen, müßten diese Leute besser als andere verstehen.

      5

      Ich weiß nicht, was du dir vorgestellt hast, sagte Hedwig, als ich in ihrem Wohnzimmer in Nürnberg saß, aber was sollte diese Frau für ein Interesse daran gehabt haben, mit dir in Verbindung zu treten?

      Ich hatte ihr von dem Telefongespräch in Waldkraiburg und von der ablehnenden Reaktion der Frau aus dem Adlergebirge erzählt.

      Wenn es sich um eine nahe Verwandtschaft gehandelt hätte, sagte Hedwig, aber nur, weil diese Frau so heißt wie du?

      Wahrscheinlich, sagte sie, ist sie mißtrauisch gewesen und hat überhaupt nicht verstanden, was du von ihr willst.

      Ich weiß selbst nicht, was ich von ihr gewollt habe, sagte ich.

      Alles, was du über die Landschaft und über die Leute aus dem Adlergebirge wissen willst, kannst du wahrscheinlich aus Büchern erfahren, sagte Hedwig. Man ruft keine wildfremden Leute an, wenn man keine guten Gründe dafür hat.

      Da hast du wahrscheinlich recht, sagte ich.

      Spurensuche, die Sucht, Altes und Gegenwärtiges zu einem Ganzen zu fügen, wie sollte ich das meiner Tante, wie sollte ich es mir selbst erklären?

      Im Museum der Adlergebirgler, in Waldkraiburg, hatte ich alte Kalender gesehen, in einem dieser Kalender ein Kinderlied, ich hatte es wieder und wieder gelesen, der Leiter des Museums, der die Sammlung zusammengetragen hat, hat mir den Kalender geschenkt. Die Melodie, zu der es gesungen worden ist, kennt heute niemand mehr.

      Schloof, Kendla, schloof,

      dr Voatr hitt de Schoof,

      schloof Kendla, sisse,

      doas Schoof hoot weiße Fisse,

      schloof ock, Kendla, lange,

      dr Tuud hockt off dr Stange,

      a hood a lemta Jackla oa

      on schmeißt gebacken Bärna roa.

      Hat dieses Liedchen, frage ich mich, das in einer Mundart abgedruckt worden ist, die niemand von den Jungen heute noch wirklich sprechen kann, Anna Josefa, die Großmutter meines Großvaters väterlicherseits, ihren zehn Kindern als Schlaflied vorgesungen? Hat ihr Sohn Josef es seinen eigenen Kindern aus dem Dorf Tschenkowitz nach Schmole mitgebracht, wo er Färber und Leinendrucker gewesen ist? Der Tod hockt auf der Stange und hat ein Jäcklein aus Leinen an, das in der alten Heimat gesponnen und gewebt worden ist, manche von denen, die heute auf dem


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