Die Früchte der Tränen. Ilse Tielsch

Die Früchte der Tränen - Ilse Tielsch


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die von ihrer Person ausging, wissentlich dazu benützt, anderen zu schaden oder sie zu verdrängen. Trotzdem konnte man schuldig werden in ihrem Namen, sie gab den Anlaß zur Schuld, an der andere ein Leben lang zu tragen hatten, und einmal gab sie den Anstoß zu einem Unglück, das sich nicht mehr rückgängig machen, nicht mehr gutmachen ließ. Als es geschehen war, reagierte sie wie ein Kind, das sich im Bewußtsein seiner Schuld in einen Winkel verkriecht und sich die Augen zuhält, in dem Glauben, daß Unglück gelöscht werden kann, wenn man es nicht sieht.

      Ich hätte alles nur noch ärger gemacht, wenn ich geblieben wäre, sagte Judith, die in meinem Zimmer war.

      Du bist davongelaufen, sagte ich, das war schlimmer, als wenn du geblieben wärst. Du hast das Unglück nicht ertragen, das du verursacht hast, aber andere mußten es tragen.

      Du bist mit schuld daran, daß ich davongelaufen bin, sagte Judith.

      Ich weiß, sagte ich.

      Ich wollte es nicht, sagte Judith, DAS NICHT.

      Das habe ich immer gewußt, sagte ich. Du wolltest etwas ganz anderes. Hast du es wenigstens bekommen? Es kam keine Antwort, es konnte ja auch keine kommen.

      Nachdem Judith Wien verlassen hatte und nach Deutschland gegangen war, kam keine Nachricht mehr von ihr. Jahre später schickte man uns einen Zeitungsausschnitt zu, auf dem eine Reporterin zu sehen ist, die Passanten in Stuttgart nach ihrer finanziellen Situation befragt, der Name der Reporterin war nicht genannt, sie sah wie Judith aus, konnte Judith sein, sicher waren wir nicht, daß sie es wirklich war.

      Dann kam das Hochzeitsbild. Der Umschlag, in dem es steckte, trug keine Adresse, nicht einmal ihren durch ihre Heirat geänderten Namen gab sie uns bekannt. Wir haben geheiratet, Judith und Frank, stand auf der Rückseite der Fotografie, keine Anschrift, kein Datum, den verwischten Poststempel konnten wir nicht entziffern.

      Wer war dieser Frank, dessen Frau sie geworden war? Wir wußten es nicht, und es gab niemanden, der uns Auskunft geben konnte. Er konnte ein Deutscher, er konnte auch ein Ausländer sein, ein Nordländer vielleicht oder ein Amerikaner.

      Mir fiel auf, was die anderen anscheinend nicht bemerkten, weil sie nicht mehr an ihn dachten oder auch, weil sie ihn gar nicht gekannt harten, die Ähnlichkeit mit Christian. Frank sieht beinahe wie Christian aus, dachte ich sofort, als ich das Bild in der Hand hielt, äußerlich jedenfalls, er sieht ihm ähnlich, der Gesichtsschnitt, das glatte, zur Seite gebürstete Haar, die Haltung, die Körpergröße, die schmalen, zu den Schläfen hin leicht schräg verlaufenden Augenbrauen, die Nase, das Kinn. Ich erschrak über diese Ähnlichkeit, dann aber sah ich den fremden Ausdruck in Franks Augen, und ich sah vor allem die Hände, die eine, etwas unbeholfen herabhängend, die andere besitzergreifend um die Schulter der Braut gelegt. Vor allem diese eine Hand sah ich, die Judiths Oberarm umgriff, ihn umklammerte, sich in den dünnen Stoff des Brautkleides grub, so daß er an dieser Stelle Falten bildete. Die Spuren dieser Umklammerung mußten an Judiths Arm sichtbar geblieben sein, sie mußte am nächsten Tag blaue Druckstellen am Oberarm gehabt haben, dachte ich. Nein, das war nicht Christians Hand, und es waren vor allem nicht Christians Augen, nicht sein skeptischer, hinterfragender Blick. Franks Augen blickten zielstrebig, entschlossen, sie sahen am Betrachter des Bildes vorbei, waren auf einen imaginären Punkt gerichtet, der wahrscheinlich ZUKUNFT bedeutete, sonst nichts.

      Nichts von dem war in Franks Augen, was Anni und Valerie traurig gestimmt hatte, als sie die kleine Fotografie betrachteten, die Christian bald nach seiner Ankunft in Deutschland geschickt hatte, sie riefen kein Mitgefühl hervor, ließen keine Zweifel ahnen, keine Spuren von Verunsicherung durch Vergangenes waren aus ihnen abzulesen. Frank war nicht Christian, war ein völlig anderer Mensch, das war mir, als der erste Schreck über die äußerliche Ähnlichkeit abgeklungen war, klar. Alle anderen Überlegungen, die wir über Beruf, Staatszugehörigkeit, Nationalität, durch den ungewöhnlichen, in unseren Ländern kaum gebräuchlichen Namen angeregt, anstellten, gehörten in den Bereich der Phantasie. Es blieb uns, abzuwarten, ob doch eines Tages eine Nachricht von Judith kommen würde, aber das war nicht der Fall. Sie wollte keine Verbindung mehr zu uns, sie wollte vergessen werden und wahrscheinlich wollte sie selbst auch vergessen.

      7

      Das letzte Weihnachtsfest der Jahrhunderthälfte, eine Gelegenheit, noch einmal rückblickend anzuhalten, Heinrich und seine Frau Valerie, Annis Eltern, in jener Küche zu besuchen, die ihnen wohlmeinende Verwandte drei Jahre zuvor als Wohnung zur Verfügung gestellt haben und die sie immer noch bewohnen. Auch das Mobiliar hat sich noch nicht verändert, es besteht immer noch aus den beiden eisernen Betten, der Waschkommode, auf deren gelb-rot geflammter, zerrissener Marmorplatte die Waschschüssel aus Zinkblech steht, die Valerie für eine einzige amerikanische Zigarette eingehandelt hat, dazu der Wasserkrug aus dem gleichen Material, aus einem schmalen Schrank, drei hölzernen Sesseln und einem Tisch. Wie vielen anderen ist auch ihnen der Schritt aus der Not der Anfänge heraus noch nicht gelungen. Es gibt zu viele im Land geborene Ärzte, die ohne Anstellung sind.

      Am vierundzwanzigsten Dezember neunundvierzig sind auf Abschnitt achtzehn der Lebensmittelkarten zwei Eier aufgerufen worden, man konnte zwischen Kühlhauseiern und Kalkeiern wählen, die Kalkeier kosteten sechsundneunzig Groschen, die Kühlhauseier einen Schilling und achtzehn Groschen, durchschnittliche Einkommen haben zu jener Zeit zwischen 300 und 400 Schilling betragen.

      Valerie hat sich, trotz des höheren Preises, für die Kühlhauseier entschieden, nun steht sie vor dem Tisch, der zugleich als Arbeitstisch, Eßtisch und Schreibtisch verwendet wird, und knetet Teig für die Weihnachtsbäckerei, die sie, in kleinsten Mengen, nach den seit langer Zeit in ihrer Familie vererbten Rezepten herstellen wird. Der kleine eiserne Ofen ist warm beheizt, es hat vor einiger Zeit eine Zuteilung an Brennmaterial gegeben. Valerie vermengt Zucker, Mehl, Fett und die erwähnten Kühlhauseier, die sie sorgfältig in Dotter und Eiweiß getrennt hat, zu kleinsten Mengen verschiedener Teigsorten, aus dem Radio, das immer noch auf dem Wandbrett steht, tönt Weihnachtsmusik. Heinrich hat einen der Sessel zum Fenster gestellt und liest in der Zeitung.

      Eine Delegation der Interessengemeinschaft volksdeutscher Heimatvertriebener hat beim Bundesministerium für soziale Verwaltung vorgesprochen und um Gleichstellung der Volksdeutschen mit den österreichischen Staatsbürgern auf arbeitsrechtlichem Gebiet ersucht. Die Delegation begründete ihre Bitte mit der seit Generationen bestehenden Verbundenheit der Volksdeutschen mit Österreich sowie mit deren aktivem Anteil an der Arbeit des Wiederaufbaus. Sie ersuchte auch um Gleichberechtigung volksdeutscher Schulentlassener hinsichtlich der Besetzung von Lehrstellen und um Anerkennung des Berufsnachweises von Facharbeitern. Der Sozialminister versprach, die Vorschläge eingehend zu prüfen. Im Entwurf des Inlandarbeiterschutzgesetzes würde, sagte er, DER BEGRIFF DES AUSLÄNDERS EINGEHEND ZU PRÄZISIEREN SEIN.

      (Heinrich und Valerie dürfen sich seit wenigen Monaten Staatsbürger nennen, bis dahin sind sie nicht nur keine österreichischen, sie sind überhaupt keine Staatsbürger gewesen. Auch Ausländer waren sie nicht, der Begriff des Ausländers war noch nicht GENAU PRÄZISIERT worden. Obwohl sie alle Nachteile zu tragen hatten, die mit der Situation von Ausländern verbunden waren, wurden sie auch der Rechte nicht teilhaftig, die Ausländern immerhin, in bezug auf ihre Zugehörigkeit zu einem als Ausland benennbaren anderen Staat, zugestanden werden mußten, sie konnten sich auf die Rechte keines Staates berufen, sie waren nicht nur heimatlos, sie waren auch rechtlos geworden. Obwohl der Bescheid, der ihnen zugegangen ist und der ihnen das Recht zusichert, sich wieder Staatsbürger nennen zu dürfen, bisher nur eine ideelle Verbesserung ihrer Situation gebracht hat, steht nun doch fest, daß sie im Lande bleiben dürfen. Wovon sie in diesem Lande leben werden, wissen sie noch nicht.)

      Die Sendung, die vom Sender ROT-WEISS-ROT ausgestrahlt wird, während Valerie ihre kleinen Teigmengen mischt, heißt O, JUBEL, O, FREUD, GLÜCKSELIGE ZEIT.

      Zwei Bundesräte der Volkspartei, liest Heinrich, haben in einer schriftlichen Anfrage an das Innenministerium darauf hingewiesen, daß die Kontrollstellen an den Demarkationslinien, an der Steyregger Brücke und an der Ennsbrücke, in unbewohntem Gebiet liegen, was, wie verbrecherische Vorfälle der letzten Zeit bewiesen haben, SCHWERE GEFAHREN AN LEBEN UND GUT für die Bevölkerung mit sich bringt. Die Bundesräte


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