Die Früchte der Tränen. Ilse Tielsch
sei ohnedies sofort und von Anfang an für den Plan des Vaters gewesen, nur die Mutter und die Tante hätten sich gefürchtet, hätten Angst gehabt. Nicht vor dem Abspringen allein, sagte Judith, vorne auf dem Bremserhäuschen hinter der Lokomotive sei ein russischer Wachtposten mit einer Maschinenpistole gestanden, bereit, zu schießen, wenn er etwas gemerkt hätte.
Er habe aber zum Glück nichts bemerkt.
Judith erinnerte sich an den Ort LOMATSCH, dort sprangen sie vom fahrenden Zug, es war dunkel, sie rollten eine Böschung hinunter, liefen ein Stück, lagerten in einem Gebüsch, bis es hell wurde, gingen dann weiter, von Dorf zu Dorf. Dem Vater gelang es, einen Handwagen aufzutreiben, darauf hätten sie ihr geringes Gepäck gelegt.
Von Ort zu Ort zogen sie, bis sie schließlich in einer Kleinstadt, nahe der Stadt Chemnitz, Unterkunft und Arbeit fanden.
Dann, wiederum eines Nachts, seien sie über die GRÜNE GRENZE gegangen, der Vater habe nicht bleiben wollen, die Zustände seien unerträglich gewesen, er wollte nach Österreich, dort hätten sie ja Verwandte gehabt. Nur die Schwester der Mutter habe nicht mehr mitgehen wollen, die sei geblieben.
Eigentlich sind wir ja nicht gegangen, sagte Judith, sondern gekrochen, eine Hochspannungsleitung entlang, so hatte man uns den Weg beschrieben, GEROBBT, beinahe nichts von dem, was wir noch hatten, konnten wir mitnehmen, alles mußte zurückbleiben. Sie hätten dann die Orientierung verloren oder sie verloren zu haben geglaubt, sie hätten es auch dann noch nicht gewagt, sich aufzurichten, aufrecht zu gehen, als sie sich schon längst auf westdeutschem Gebiet befunden hätten, der Vater habe es schließlich gewagt, an die Tür eines Bauernhauses zu klopfen und nach dem Weg zu fragen. Die Bäuerin habe sofort Bescheid gewußt, Sie sind schon im Westen, habe sie gesagt, nicht weit hinter Plauen sei das gewesen, in der Nähe der Stadt Hof.
Sie sind nicht die ersten, sagte die Bäuerin, und Sie werden nicht die letzten sein.
Sie habe ihnen etwas Milch und zu essen gegeben.
Ich habe schon einen Blick dafür, wo die Leute herkommen, die bei uns anklopfen, sagte sie.
(Jahrzehnte später der Anblick der MAUER in Berlin, die elektrisch geladenen Zäune, die Wachttürme, die TODESSTREIFEN.
Hunderttausende, sagt eine Berlinerin, Hunderttausende sind in der Zeit, von der Sie reden, in den Westen gegangen.)
Zu Fuß zogen sie weiter, in WEIDEN hätten sie einen Zug erreicht, seien mit diesem Zug ein Stück gefahren, dann wieder zu Fuß gegangen, schließlich hätten sie Schärding erreicht, hätten mit einem Boot den Inn überquert, ein amerikanischer Posten habe sie aufgehalten, dann aber weitergehen lassen.
Er hat wohl ein Mädchen bei sich gehabt, sagte Judith, als sie mir dies erzählte, irgendwo im Gebüsch versteckt hat sicherlich ein Mädchen auf ihn gewartet, er hat die längere Unterbrechung einer Liebesstunde befürchtet oder gar deren Verhinderung, er hat mit seinem Gewissen gekämpft, sich dann aber für die Liebe entschieden. Er hat sich einfach umgedreht und uns gehen lassen. Wiederum überquerten sie, nachts und in einem bezahlten Boot, in der Nähe von Urfahr, die Donau. Ihr Ziel war Wien.
(Ein Stück weiter südöstlich, bei Mauthausen, hat Anni zwei Jahre vorher, um das Weihnachtsfest mit den wiedergefundenen Eltern verbringen zu können, die Donau ebenfalls in einem Boot, ebenfalls nachts, überquert. Es sind damals, in den Nächten, sehr viele in Booten unterwegs gewesen.)
Ich dachte an Judith und erinnerte mich an das winzige Schrebergartenhäuschen in Wien, das die Cousine des Vaters ihnen zur Verfügung gestellt und in dem sie mit ihren Eltern lange gelebt hatte. Die Wände waren dünn gewesen, obwohl die kleinen Räume beheizbar gewesen waren, froren im Winter die Lebensmittel, fror das Brot im Schrank, zogen sich Judith und ihre Mutter Erfrierungen an den Beinen zu. Morgens, im Winter, hatte mir Judith erzählt, sei die Decke vor ihrem Mund weiß bereift von der Feuchtigkeit ihres Atems gewesen.
Erst Jahre später fand sich eine bessere Unterkunft für die Familie. Zur Zeit der Herbstmesse neunundvierzig, als sie Plotzners Patentbett erprobte, hat Judith noch mit ihren Eltern in jenem Holzhäuschen am Wiener Stadtrand gewohnt.
Ich lag und dachte an Judith in dieser Nacht, sah sie über die klebrige Erde kriechen, geduckt über nasse Wiesen laufen, sah sie vom Kohlenwaggon auf den Bahndamm springen, über eine dreckige Böschung fallen, sich wieder erheben, nein, an ihren Kleidern klebte kein Schmutz, ich hatte Judith niemals schmutzig gesehen, selbst wenn sie im Sommer daheim auf den Feldern mithalf, als während des Krieges keine Arbeitskräfte zu bekommen waren, wenn sie Obst pflückte und Trauben von den Stöcken schnitt, selbst dann sah sie aus, als hätte sie eben erst gebadet oder frisch gewaschene Kleider aus dem Schrank angezogen. Nie hing ihr das Haar schweißnaß und verklebt in die Stirn, nie waren ihre Arme von Mückenstichen geschwollen, ihre Augen vom Staub gerötet oder von Kornhalmen zerstochen. Die Arbeiter auf den Feldern drehten sich nach ihr um, wenn sie kam, lachten ihr zu, sie lachte und winkte zurück. Wie Judith wollte ich sein, als ich Anni war, stand vor dem Spiegel, versuchte mein Kopftuch zu binden, wie sie es gebunden hatte, es gelang mir nicht, ich versuchte, mein Haar offen zu tragen, wie sie es trug, es wehte mir über die Stirn in die Augen, vergeblich strich ich es immer wieder seitlich zurück. Wie siehst du denn aus, sagte meine Mutter, WIE EINE ZIGEUNERIN, hast du denn deinen Kamm verloren? Es blieb mir nichts übrig, als wieder meine Zöpfe zu flechten, bis man mir endlich erlaubte, sie abschneiden zu lassen. Das Ergebnis war lächerlich, heute noch kann man es nachprüfen anhand einer damals entstandenen Fotografie, nie würde Anni wie Judith aussehen, nie würde Anni wie Judith sein.
Nein, es gelang mir nicht, Judiths Vollkommenheit auch nur annähernd zu erreichen, nicht in der Kleidung und nicht in der Frisur, nicht in der Haltung und nicht in der Sprache, es dauerte eine ganze Weile, bis ich zu dieser Einsicht kam, bis Anni nicht mehr versuchte, wie Judith zu sein, bis sie sich trotzig dazu entschloß, mit ihren Fehlern zu leben.
Dennoch, Jahre später, die Szene mit Christians silbernem Ring, als Anni wahrheitsgemäß Antwort gab und Judith zornig reagierte, sich von ihr abwendete und davonlief, dennoch das dunkle Gefühl, daß Christians Liebe ihr eigentlich gar nicht zustand, daß er sich nicht ihr, sondern Judith hätte zuwenden müssen, weil Judith klüger, schöner, geschickter, mit einem Wort, in jeder Hinsicht vollkommener war als sie.
Ich dachte an Judith, vielleicht war sie wirklich in meinem Zimmer, was wissen wir von den Toten, von ihrer Freiheit, von ihrem Losgelöstsein, eine Ahnung ihrer Gegenwart wehte mich aus den Vorhängen an, in denen die zitternden Schatten der Baumzweige tanzten, stieg aus den blassen Lichtschatten, die auf dem Teppich lagen. Ich hörte ihre Stimme, mit der sie auf Mutter und Tante einredete, ihnen Mut zusprach, sie überzeugte.
Spring, sagte Judith, und die Mutter, eine sonst ängstliche und vorsichtige Person, sprang vom Kohlenwaggon in die Nacht hinein, es geschah ihr nichts, sie verletzte sich nicht bei diesem waghalsigen Sprung vom fahrenden Zug, die Überzeugungskraft der mutigen Tochter hatte sie stark gemacht.
Von der Geschichte, die sie mir über den amerikanischen Wachtposten erzählt hatte, der die Familie nicht, wie es seine Pflicht gewesen wäre, am Überschreiten der Demarkationslinie ohne Papiere hinderte, sondern ziehen ließ, hatte ich mir von Anfang an ein anderes Bild gemacht als jenes, das sie dargestellt hatte. Wahrscheinlich hatte es dieses Mädchen, das angeblich irgendwo im Gebüsch auf den Liebsten gewartet hatte, gar nicht gegeben, dachte ich, es hatte nur in Judiths Phantasie existiert, wahrscheinlich hatte einzig und allein ihr Anblick den Amerikaner veranlaßt, sie ungehindert gehen zu lassen. Er konnte nicht widerstehen, als sie ihn erschrocken und bittend ansah, er konnte sich der Wirkung ihrer Stimme nicht entziehen, er vergaß einfach, was ihm aufgetragen war, und widersetzte sich nicht. Es gingen Veränderungen in ihm vor, gegen die er sich nicht zur Wehr setzen konnte. Vielen ist es vorher und nachher ähnlich ergangen, auch Georg, dachte ich, mußte es ähnlich ergangen sein.
Vielleicht war sich Judith der Wirkungen, die von ihrer Person ausgingen, gar nicht bewußt, oder jedenfalls nicht so sehr, wie man später behauptet hat. Sie versuchte einfach, etwas zu erreichen, was sie erreichen wollte, und es gelang, in den meisten Fällen jedenfalls gelang es, sie wünschte sich etwas und bekam es, selten schlug man ihr eine Bitte ab, wenn sie erfüllbar war. Sie war so sehr daran gewöhnt, Erfolg