Die Früchte der Tränen. Ilse Tielsch

Die Früchte der Tränen - Ilse Tielsch


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wir nicht auch umgesiedelt werden, dann würde man uns vielleicht eine Wohnung geben. Vielleicht wäre Mutter dann nicht immer krank, und die Kinder kämen in bessere Schulen.

      Die nächsten drei Zeilen in dem Brief waren von der Zensur mit schwarzer Farbe dick durchgestrichen worden. Valerie hielt den Brief mit der durchgestrichenen Stelle gegen das Licht, aber man konnte nichts von dem erkennen, was die schwarze Farbe verdeckte. In Stuttgart soll es schon wieder herrliche Geschäfte geben, schrieb Hedwig im nächsten Absatz, abends viele Lichtreklamen. Ferdinand ist dort gewesen, er hat mir geschrieben.

      Er sei in Stuttgart gewesen, schrieb Vetter Ferdinand an Hedwig, er sei über die Königsstraße gegangen, er sei WIE ERSCHLAGEN gewesen vom Anblick der Geschäfte und dem Angebot der Waren in den Auslagen, er habe geglaubt zu träumen, ein Geschäft neben dem anderen, dazwischen sogar schon Kaffeehäuser und Kinos, der Satz WIE IM FRIEDEN sei ihm eingefallen, jener Satz, den man gebraucht habe, wenn man sich während des Krieges nach unerreichbarem Luxus gesehnt habe. Seidenstoffe, Schuhe, Handtaschen, sogar Schmuck sei in den Auslagen ausgelegt, schön angeordnet und arrangiert, dann, als die Dämmerung eingefallen sei, die Lichtreklamen, er sei sich vorgekommen wie in einem Märchenland. Die Leute hätten sich vor den Schaufenstern gedrängt.

      Dahinter freilich hocke das Elend noch immer wie vorher. Er sei ja ein neugieriger Mensch, er sei durch die Tore gegangen und habe die hinter den Toren liegenden Höfe betreten. Dort liege der Schutt noch herum, die Mauern seien ohne Verputz, man trete in Abfallhaufen und in Pfützen, die Leute hätten Stricke gespannt und Wäsche zum Trocknen aufgehängt, WIE IN EINEM FLÜCHTLINGSLAGER, er habe notdürftig zusammengezimmerte Bretterhütten gesehen, in denen offensichtlich Menschen wohnten.

      So sei es fast auf der ganzen Königsstraße gewesen, vom Bahnhof weg bis zum Ende. Es ist mir eingefallen, schrieb Vetter Ferdinand, daß dies die beiden Seiten unserer Gegenwart sind, schon wieder Reichtum auf der einen Seite, noch immer bittere Armut auf der anderen. VORNE PRUNKFASSADEN, DAHINTER EIN NIEMANDSLAND, hinter der immer noch schönen Fassade des Kronprinzenpalais ein von Trümmern übersätes Gelände, aus dem Eisenträger hervorragten, ideal für lichtscheues Gesindel. Abseits von den schönen neuen Geschäften gäbe es, wie überall, aus Latten und Zeltplanen gezimmerte Notverkaufsstände, Behelfsläden. Und dann wieder ein Bürohaus mit großen Glasfenstern, er habe, schrieb Ferdinand, das Gefühl gehabt, die Menschen, die sich hinter den riesigen Scheiben bewegten, seien nur Puppen gewesen, von unsichtbarer Hand bewegte Marionetten.

      Papa hat man das zweite Bein abgenommen, schrieb Annis Freundin Helga aus Hessen, Mama ist sehr verzagt.

      Ich habe eine Lehrstelle bei der hiesigen Kleinbahn bekommen, die Leute dort sind sehr nett zu mir.

      (Fast eineinhalb Millionen Vertriebene und Flüchtlinge hatte man nach dem Ende des Krieges nach Hessen gebracht, obwohl über zwanzig Prozent des vorhandenen Wohnraums zerstört oder von der Besatzungsmacht beschlagnahmt worden waren.

      DIE AUS DEM GEDRÄNGTEN ZUSAMMENLEBEN DER FLÜCHTLINGE MIT DEN EINGESESSENEN RESULTIERENDEN SPANNUNGEN, DIE BESONDERS IN DEN LANDGEMEINDEN AUFTRETEN, sagte der zuständige Ministerialbeamte in einer Rede, BEHERRSCHEN HEUTE UNSER SOZIALES, WIRTSCHAFTLICHES UND POLITISCHES LEBEN.)

      Nein, immer noch kein Ende der Not. Immer noch grub man Tote aus den verschütteten Kellern, immer noch lebten sehr viele in Flüchtlingsbaracken, in Bunkern und Kellerlöchern, Flüchtlinge kamen über die Grenze nach Westdeutschland, die Mittel reichten nicht aus, um das Elend zu beseitigen und sie alle menschenwürdig unterzubringen.

      (Über zweieinhalbtausend Flüchtlinge aus Ostberlin kamen zu jener Zeit in den Westen der Stadt, sie konnten nicht weitertransportiert werden, da die russische Besatzungsmacht die durch die Ostzone führenden Züge streng kontrollierte. In Berlin nahm die Arbeitslosigkeit ständig zu, nur wenige der Flüchtlinge konnten ihren Fähigkeiten und ihrer Ausbildung entsprechende Arbeitsplätze bekommen.)

      Über die Trümmerfelder deutscher Großstädte zogen Kinder und suchten nach Eisen, Kupfer und Blei. Für ein Kilogramm Kupfer zahlten Händler eine Mark und zehn Pfennig, für ein Kilo Blei fünfzig Pfennig, für ein Kilo Messing fünfundvierzig Pfennig, für ein Kilogramm Stahlschrott zwei Mark. Zwölfjährige schleppten Eisenträger, zogen Handwagen über den Schutt, kleine Schwerarbeiter, die zum Unterhalt der Familien beitrugen und ihre Schulaufgaben aus Müdigkeit nicht erledigen konnten. Siebenjährige handelten mit amerikanischen Zigaretten und machten Geschäfte mit Besatzungssoldaten. Waisen suchten ihre Eltern, Väter und Mütter suchten ihre verschollenen Kinder. Unter der schwarzen Bevölkerung Amerikas wurden Adoptiveltern für farbige Mischlingskinder gesucht.

      ÄTSCH, MIR HAM HALT A ECHT’S NEGERLA, sagt der Anführer einer Gruppe von Sternsingern zum Sternträger einer anderen Gruppe, die Karikatur findet sich in der Zeitung NÜRNBERGER NACHRICHTEN vom 5. Jänner 1950. Ein schüchterner Versuch, die Öffentlichkeit zugunsten der kleinen Farbigen günstig zu beeinflussen.

      Ein Flüchtlingssprecher ermahnte die Flüchtlinge und die Heimatvertriebenen, treu zusammenzuhalten, ABER NICHT, UM EINE REVOLUTION ZU ENTFACHEN, SONDERN UM DIE MENSCHENRECHTE ZU WAHREN.

      Was das Elend der Heimatvertriebenen betrifft, sagte der österreichische Innenminister, so sei die Regierung bestrebt, das Los dieser Menschen in jeder Beziehung zu erleichtern. ALLERDINGS, ICH WARNE DAVOR, BEI DIESER HEIKLEN FRAGE MIT GROSSEN VERSPRECHUNGEN ZU ARBEITEN. WER MIT VERSPRECHUNGEN ARBEITET, WER DEN ARMEN TEUFELN HOFFNUNGEN MACHT, DIE NICHT IN ERFÜLLUNG GEHEN KÖNNEN, DER WIRD SEHEN, DASS ER DIESE LEUTE NICHT NUR SICH SELBER, SONDERN AUCH DIESEM LAND ZU FEINDEN MACHT. WIR MÜSSEN UNSER LAND NACH UNSEREN BEDÜRFNISSEN AUFBAUEN, UND WIR MÜSSEN IN ERSTER LINIE AN UNSERE EIGENEN STAATSBÜRGER DENKEN.

      Valerie, die sich als Staatsbürgerin fühlte, fragte sich trotzdem in Augenblicken der Depression, ob es nicht besser gewesen wäre, mit den vielen anderen nach Deutschland zu gehen.

      In Deutschland, sagte sie zu Heinrich, hätte man uns besser geholfen, dort hat man die Heimatvertriebenen als Neubürger angenommen und hat ihnen wenigstens für den Anfang etwas Geld zum Leben gegeben.

      (Wäre ich nur nach Deutschland gegangen, sagte Edith K. aus Siebenbürgen, die man zu Kriegsende nach Rußland verschleppt hatte und die erst vier Jahre später nach Österreich entlassen worden war. Für jeden Tag der Gefangenschaft hätte ich acht Mark bekommen. Sie können sich ausrechnen, wie viel Geld das gewesen ist.)

      Heinrich warf seiner Frau, wenn sie solches sagte, einen traurigen Blick zu. Du weißt, sagte er dann immer, warum ich nicht von hier weggegangen bin.

      Valerie schwieg, sie wußte Bescheid. Schon als Student hatte Heinrich sich gewünscht, in Wien leben zu dürfen, er hatte alle seine Hoffnungen auf dieses Leben in Wien gesetzt, er hatte sich den Anfang in Wien hart, aber doch etwas anders vorgestellt.

      Daß ich damals nach Deutschland gegangen bin, sagt Hedwig, Valeries jüngere Schwester, ist unser Glück gewesen. In Österreich wären wir Bettler geblieben, in Österreich hätte ich nicht gewußt, wie ich die Eltern und die Kinder ernähren soll. Auch hier, sagt sie, war der Anfang sehr schwer. Auch die Einheimischen haben Not gelitten. Aber man hat uns wenigstens anerkannt, und man hat uns geholfen, wo es möglich war.

      (Deutsche Zeitungen veranstalteten 1950 eine Umfrage mit dem Ergebnis, daß die meisten Menschen über zu niedrige Einkommen und zu hohe Lebenshaltungskosten klagten. Ein Lehrer verdiente etwa vierhundert Mark, ein mittlerer Beamter zweihundertfünfzig, ein Facharbeiter zweihundert Mark. Ausgebombte Familien sahen keine Möglichkeit, die nötigsten Möbelstükke, Wäsche oder Hausgerät anzuschaffen, selbst der Kauf eines Kleides, eines Mantels für den Winter, die Anschaffung von Schuhen bedeuteten unlösbare Probleme.)

      Du kannst dir vorstellen, sagt Hedwig, wie es uns und den Flüchtlingen gegangen ist, auch wenn wir kleine Unterstützungsbeiträge bekommen haben.

      Dann die Arbeitslosigkeit, sagt Hedwig. Sie half bei den Bauern auf den Feldern mit, auch der alte Vater arbeitete noch schwer, später fuhr sie mit dem Fahrrad in die nahe Stadt Erlangen und wusch die Wäsche einer amerikanischen Familie.

      Nie, sagt Hedwig, hat mir die Amerikanerin etwas zu essen für mich und für die Kinder mitgegeben, sie ist wahrscheinlich gar nicht auf den Gedanken


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