Die Früchte der Tränen. Ilse Tielsch

Die Früchte der Tränen - Ilse Tielsch


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empfand die Malerin Elisabeth aus Gablonz, als sie eines Tages in Berlin die Wohnung jenes Schleichhändlers betrat, dessen Adresse ihr im Zusammenhang mit dem Schwarzmarkt für Heizmaterial genannt worden war und den sie dann, alles Geld, das sie daheim hatte finden können, in der Tasche, aufsuchte, um etwas Kohle zu kaufen? Sie sei, sagt Elisabeth, wie im Traum durch die Räume dieser behaglich beheizten Wohnung gegangen. Sie sei in ein Zimmer geführt worden, in dessen Mitte ein Flügel stand, so jedenfalls sei es ihr in Erinnerung geblieben, dieser Flügel bilde einen zentralen Punkt in ihrer Erinnerung. Auf dem Flügel, der mit einer seidenen Decke abgedeckt gewesen sei, sei eine silberne Schale gestanden, die Schale sei angefüllt mit Früchten gewesen, die sie nur noch vom Hörensagen gekannt habe, Orangen, Bananen, Äpfel, sie habe sich gefragt, ob das Wahrheit sei oder ob sie träume, diese Wärme, dieser Überfluß, all dies inmitten des furchtbaren Elends, inmitten der zerstörten, zertrümmerten Stadt Berlin.

      WENN ICH SO ETWAS NOCH EINMAL IM LEBEN BESITZEN SOLLTE, habe sie beim Anblick des Flügels und der mit Früchten gefüllten Schale gedacht, dann werde ich immer an diesen Augenblick denken. Und sie habe auch daran denken, sich daran erinnern müssen, immer wieder, sagt sie, habe sie dieses Bild, das ihre Augen damals aufgenommen hatten, gesehen.

      Was empfand Anni, als sie die prachtvoll möblierten Räume der Wohnung betrat, in der ihr Großonkel Hermann mit seiner zweiten Ehefrau Esther lebte? Neid? Sehnsucht nach, wenn auch bescheidenerem Wohlstand, der sie zu Hause umgeben hatte, in dem sie aufgewachsen war?

      Durch Krieg und Kriegsfolgen Zerstörtes, Verlorengegangenes baldmöglichst in ähnlicher Form wieder erwerben zu können, hat sie sich das in jenen Augenblicken gewünscht?

      Soweit die Erinnerung damals Gefühltes festgehalten hat, empfand sie nichts Derartiges. Sie nahm wahr, was sie mit den Augen erfaßte, die angenehmen Formen der alten Möbel, die, wie sie wußte, noch nicht lange im Besitz der Verwandten waren, die große Wohnung in der Rotenturmstraße war einer Bombennacht zum Opfer gefallen, nichts war erhalten geblieben. Die neue Wohnung war noch prächtiger eingerichtet worden, als es die alte gewesen war. Annis Augen erblickten die weich gepolsterten Sitzmöbel, die schönen Kommoden, die hübschen Gegenstände auf dem Biedermeiertischchen, sie nahmen wahr und registrierten, aber Anni fühlte kein Verlangen danach, ähnliches zu besitzen. Der Prunk, den sie nicht gewohnt war, dieser zur Schau gestellte, geschickt arrangierte Prunk, irritierte sie, machte sie verlegen, sie fühlte eine Art Scham angesichts dieses Überflusses, all dieser überflüssigen, in ihrer nutzlosen Schönheit entbehrlichen Dinge, ein Unbehagen erfaßte sie, das erst wieder wich, als sie das Haus schon verlassen hatte. Dieses Unbehagen taucht mit der Erinnerung an den Besuch in der Wohnung ihres Großonkels Hermann wieder auf.

      Anni hatte einen Entschluß gefaßt, nichts davon ihren Eltern mitgeteilt, sie hatte sich heimlich zu diesem Besuch entschlossen, mit ihm einen Zweck verbunden. Sie wollte versuchen, was ihre Eltern unversucht ließen, wozu sich die Eltern nicht hatten entschließen können. Sie wollte die Frau ihres Großonkels um Hilfe bitten. Esther, das ahnte sie, verfügte über Mittel, diese Hilfe zu geben, sie würde, so hoffte Anni, dazu bereit sein, den Verwandten, die sie in glücklicheren Tagen so gerne besucht hatte, die sie umsorgt und bewirtet hatten, helfend zur Seite stehen.

      Verlegen also, aber entschlossen, durchschritt Anni die schön möblierten Räume, betrat mit schon schäbig gewordenen Schuhen das glänzende Parkett und den weichen Teppich, wartete höflich, bis sie aufgefordert wurde, sich niederzusetzen, nahm dann auf einem mit Seide bezogenen Bänkchen Platz.

      Was trinkst du, fragte die Tante, Tee oder Kaffee?

      Anni entschloß sich für Tee, obwohl sie sicher war, daß sie Mühe haben würde, ihn zu trinken, sie hatte keinen Durst, obwohl ihr Hals trocken war, sie hatte auch keinen Appetit auf den Kuchen, den das Mädchen auf einer schön geformten Platte servierte. Sie würde, das fühlte sie, keinen Bissen davon hinunterbringen, obwohl sie mittags nicht viel gegessen hatte.

      Die Tante bemerkte Annis Verlegenheit, aber sie ließ sich Zeit, goß den Tee in die Tassen, schob Anni die Zuckerdose zu, Anni nahm ein Stück Zucker, nahm auch von dem Kuchen, aß aber nicht.

      Nun, sagte die Tante schließlich, warum bist du gekommen?

      Jetzt mußte gesagt werden, was zu sagen war, nun hatte sich herauszustellen, was Hermanns Großnichte wollte, und es stellte sich heraus. Anni bat Esther um Geld.

      Nicht für mich, versicherte sie, nein, für die Eltern, die nicht in der Lage waren, die Mittel zum Kauf einer Wohnung aufzubringen, nicht einmal den Betrag, der zur Anzahlung nötig war. Anni schilderte die Zustände, die der Tante bekannt sein mußten, sie beschrieb die Verhältnisse, unter denen die Eltern immer noch zu leben gezwungen waren, sie stieß mit rauhem Hals und trockener Zunge Sätze hervor, andere Sätze, als sie zu sagen vorgehabt hatte, sie redete eine ganze Weile und blickte dabei auf den Tee in ihrer Tasse, in dem der Zukker langsam zerging. Erst als es nichts mehr zu sagen gab, blickte sie auf.

      Die Tante trug eine Brille mit goldenem Rand, hinter den Gläsern wirkten ihre Augen groß und kalt.

      Um welchen Betrag handelt es sich, fragte Esther.

      Anni nannte den Betrag.

      Was kannst du für Sicherheiten bieten, fragte Esther.

      Anni stockte. Daran hatte sie nicht gedacht.

      Die Augen hinter der Brille veränderten sich, es schien, als ob Esther sich über die Verlegenheit der Nichte amüsiere. Bei diesem Betrag mußt du mir doch Sicherheiten bieten, sagte sie.

      Wir würden das Geld zurückzahlen, sagte Anni trotzig. Das genügt nicht, erwiderte Esther. Du wirst zugeben, daß ich mich darauf nicht verlassen kann.

      Auf meine Eltern kann man sich immer verlassen, stieß Anni hervor.

      In der Situation, die du eben geschildert hast? sagte die Tante. Kannst du mir wenigstens etwas als Sicherheit geben, was Wert hat, fügte sie hinzu, irgendein Pfand? Anni überlegte, dann zog sie den Ring vom Finger, den der Vater ihr an jenem letzten Weihnachtsabend überreicht hatte, den sie noch daheim in B. verbracht hatten, jenem letzten Weihnachtsabend vor dem Ende des Krieges, es war ein Ring aus rötlichem Gold, geschmückt mit einem altmodisch gefaßten Brillanten. Der Ring hatte jenem Mädchen namens Luise gehört, das Heinrich seit seiner Schülerzeit in Mährisch Trübau gekannt hatte, mit dem er verlobt gewesen war, jener Luise, die jung gestorben war. Er hatte ihn ihr gekauft, es war ihr Verlobungsring gewesen. Nun sollte die Tochter ihn tragen, und Anni trug ihn auch, sie nahm ihn mit auf ihre im letzten noch möglichen Augenblick beschlossene Flucht, sie liebte diesen Ring und legte ihn niemals ab. Jetzt aber schien der Zeitpunkt gekommen, es trotzdem zu tun.

      Ich habe nur diesen Ring, sagte Anni, ich gebe ihn dir als Pfand.

      Die Tante lächelte, nahm den Ring, drehte ihn vor ihrer Brille hin und her, trat damit ans Fenster, um ihn besser betrachten zu können, kam wieder zurück.

      Der Ring ist nicht viel wert, sagte sie, aber ich werde ihn schätzen lassen.

      Da griff Anni nach dem Ring und steckte ihn wieder an den Finger zurück. Ihr Hals war noch trockener geworden. Nein, sagte sie, lieber nicht. Wir werden schon einen Weg finden, um das Geld zu bekommen.

      Wie du meinst, sagte die Tante.

      Abends lag Anni mit Fieber im Bett, besorgt legte ihr Valerie kalte Kompressen auf die Stirn, sie halfen nicht, am nächsten Tag stieg das Fieber auf vierzig Grad. Heinrich brachte aus dem Krankenhaus Medikamente nach Hause, aber das Fieber wollte nicht sinken. Eine besonders bösartige Grippe kursiere in Wien, sagte der Kollege, den Heinrich ans Bett der schwerkranken Tochter gebeten hatte, überall lägen die Leute krank, einige seien gestorben.

      Anni träumte von kalten Augen hinter großen, in Gold gefaßten Brillengläsern. Es dauerte lange, bis sie gesund wurde und sich wieder erholte.

      Ich will hier raus, sagte Judith, ich will wieder wie ein Mensch leben.

      Das glaub ich dir, sagte Anni, das wollen wir alle.

      Aber sie tun nichts dafür, sagte Judith, sie tun viel zu wenig dafür. Sie sitzen in diesem Stall und finden


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