Die Früchte der Tränen. Ilse Tielsch
meinte ihre Eltern, die fortgegangen waren, um Bekannte zu treffen, es war ein Sonntagnachmittag, und die beiden Mädchen waren allein in dem Schrebergartenhaus.
Was sollen sie denn machen, fragte Anni. Es gibt keine Arbeit für deinen Vater, und es gibt keine Wohnungen, außer, wenn man dafür bezahlen kann.
Andere haben eine Wohnung durch das Wohnungsamt bekommen, sagte Judith trotzig.
Das sind Einzelfälle, erwiderte Anni, das weißt du ja. Das Wohnungsamt kann auch nicht zaubern, sagte sie. Sie dachte an ihren Besuch bei der Frau ihres Großonkels Hermann. Andere haben jedenfalls schon eine Wohnung, und sie haben auch eine Beschäftigung, rief Judith, irgend jemand hat sich gefunden, der sie ohne Arbeitsbewilligung beschäftigt hat. Sie schlug mit den Händen auf das hölzerne Bettgestell, auf dem sie saßen, Tränen schossen ihr in die Augen.
(Die Zeitspanne, in der alle Flüchtlinge die gleichen Möglichkeiten hatten, war sehr kurz, sagt 1980 eine ehemalige Beamtin des Wohnungsamtes einer westdeutschen Stadt, bald teilten sie sich wieder in verschiedene Schichten. Da waren jene, die hartnäckig waren, in gewisser Weise rücksichtsloser als die anderen, Ellenbogenmenschen, die auf der Treppe des Wohnungsamtes saßen, oder des Rathauses, die nicht weggingen, immer wieder kamen, bis man ihnen schon deshalb eine Wohnung gab, weil man sie endlich loswerden wollte. Die Bescheidenen, die Stillen, gerieten ins Hintertreffen. Schon vom Charakter her kann man nicht davon sprechen, daß alle die gleichen Chancen gehabt hätten, sagt sie. Das galt, wenn es überhaupt je gegolten hat, nur für die allererste Zeit.)
Andere sind ausgewandert, weggegangen, sagte Judith. Es gibt die verschiedensten Möglichkeiten, man muß sich nur darum kümmern, man muß sie wahrnehmen wollen.
Zum Auswandern sind unsere Eltern zu alt, sagte Anni. Ich sehe die beiden auf dem Stockbett im Gartenhaus sitzen, sehe ihre jungen Gesichter, in denen die Jahre noch keine sichtbaren Spuren hinterlassen haben, höre ihre noch unverbrauchten Stimmen, ich versuche mich an Sätze zu erinnern, die sie damals gesprochen haben. So wie du, meinte Judith, würde ich es nicht machen. Du hast dir das alles nicht überlegt.
Wie meinst du das, sagte Anni.
Du weißt schon, wie ich es meine, erwiderte Judith.
Die Burschen müssen jetzt vermögende Mädchen heiraten, das hatte eine Verwandte von Christian wenige Jahre zuvor zu einer Bekannten gesagt, zumindest war dies behauptet worden, die Bekannte hatte es weiter erzählt, Anni war das Gesagte zu Ohren gekommen. Nie ist geklärt worden, ob dieser Satz wirklich in der zitierten Form ausgesprochen worden ist, Anni fühlte sich trotzdem gekränkt, sie war arm, sie war nicht vermögend, sie hatte plötzlich das Gefühl gehabt, durch ihre Armut weniger wert geworden zu sein.
Hatte Judith nur ähnliches gemeint, hatte sie, auf ihre eigene Situation bezogen, ähnliches angedeutet, andeuten wollen? In Anni wurden Erinnerungen wach, sie hatte den vor Jahren gehörten Satz nicht vergessen, sie fühlte sich wieder gekränkt, weil sie nun von Judith Ausgesprochenes in umgekehrtem Sinn auf sich bezog. Nur Liebe, sagte Judith, das können wir uns in unserer Situation gar nicht leisten.
Man kann gemeinsam etwas aufbauen, sagte Anni, in ihrer Stimme waren Auflehnung und Trotz, vielleicht ist das dann mehr wert als etwas, das einem einfach in den Schoß gefallen ist.
Das genügt mir nicht, sagte Judith, das würde mir nicht genügen.
Anni war nach ihrer Hochzeit aus dem Eisenbett mit den goldenen Ranken und Blumen in der Küche der Eltern ausgezogen und bewohnte nun gemeinsam mit Bernhard ein Ausziehbett, das sich tagsüber in eine Polsterbank verwandeln ließ, über die Polsterung waren beigefarbene Blumen gleichmäßig verstreut.
(Damals habe ich mit meinen Kunden, was die Auswahl der Farben und Muster betraf, keine Schwierigkeiten gehabt, sagte ein Tapezierer Mitte der siebziger Jahre, damals hat es nur drei verschiedene Möbelstoffe gegeben, einer war rostrot, einer grün, einer beige. Zwischen diesen drei Farben konnten die Leute wählen. Heute muß ich zentnerweise Musterkataloge in die Wohnungen schleppen und mit den Leuten stundenlang über Muster und Farben verhandeln, mit denen ich ihre Polstermöbel beziehen soll, und selbst dann wissen sie in den seltensten Fällen, was sie wirklich wollen.
Der Mann erinnert sich ungenau, die vierte der möglichen Farben, die damals zur Auswahl stand, war ein mattes Braun.)
Die Polsterbank, die man dem jungen Paar zur Hochzeit geschenkt hatte, stand in einer Ecke des Wohnzimmers, das Bernhards Eltern gehörte, in der gegenüberliegenden Ecke, rund um den Tisch mit der Eckbank und den beiden Fauteuils, lief tagsüber und vor allem abends das Familienleben ab. Die Polsterbank stammte nicht aus Plotzners Patentmöbelfabrik, und die Unterschiede in der Handhabung waren beträchtlich. Nicht nur einmal, sehr häufig, haben Anni und Bernhard einander während der abendlichen Beschäftigung des Bettaufziehens an Plotzners Patentbank erinnert.
Wenn Anni jedoch in den ersten drei Jahren der zweiten Jahrhunderthälfte zu irgendeinem Ort der Welt eine Art Heimatgefühl entwickelt hat, dann ist es dieses sperrige, nur mit großer Mühe und viel Kraftanstrengung aufzuziehende, in den Nächten mit Bernhard bewohnte Ausziehbett im Wohnzimmer ihrer Schwiegereltern gewesen. Der Rest dieses Zimmers, die übrigen Räume der Wohnung mit allem Mobiliar, das Haus, in dem diese Wohnung sich befand, sogar die Umgebung dieses Hauses, blieben ihr feindlich und fremd.
Es kann kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß zum HEIMATGEFÜHL die Gewißheit gehört, als gleichwertig angenommen zu sein, sich als zugehörig betrachten zu dürfen. Das Papier, das den Fremden zum gleichberechtigten Bürger macht, ist von eminenter Bedeutung, aber die Beziehung, die zwischen Menschen geknüpft wird, wiegt mehr. Der Staat weist dir einen Platz zu, an dem du das Recht hast, zu bleiben, aber du brauchst Menschen, die dir sagen: Hier bei uns ist dein Platz, von jetzt an gehörst du zu uns, wenn du dich dazu entschließen solltest, wieder von uns wegzugehen, uns zu verlassen, würdest du uns fehlen. Es liegt auf der Hand, daß hier mehr verlangt wird als eine rechtliche Situation. Zuneigung wird verlangt, vielleicht sogar Liebe.
Das ist sehr viel.
Daß diese Zuneigung in den Anfängen nicht häufig gewährt wurde, ist wahrscheinlich einer der Gründe dafür gewesen, daß in den ersten Nachkriegsjahren Ehen zwischen Heimatvertriebenen und Einheimischen selten waren. Erst zu Weihnachten 1955 sollte man feststellen, daß die Zahl der Ehen, die in Deutschland zwischen heimatvertriebenen Partnern geschlossen wurden, im Abnehmen sei. Die Neigung der Vertriebenen, untereinander zu heiraten, hieß es, habe nachgelassen. ES WIRD SICHTBAR, WIE SEHR DIE ZEIT MITHILFT, DEN STROM DES ZUSAMMENLEBENS ZU VERBREITERN.
Von den über dreißigtausend in Bayern im Jahre 1951 eingegangenen Ehen wurden dreißig Prozent allein unter Vertriebenen geschlossen. Von den über fünfzigtausend Paaren, die 1954 Kirchen und Standesämter betraten, um miteinander den Bund fürs Leben zu schließen, waren nur noch fünfundzwanzig Prozent reine Vertriebenenehen, die Zahl jener Ehen, bei denen nur einer der Partner ein Heimatvertriebener war, hatte sich beträchtlich erhöht.
DAS SOZIOLOGISCHE AUFGEHEN DER GRUPPE DER VERTRIEBENEN IN DIE GRÖSSERE GRUPPE DES GESAMTVOLKES IST EIN ALLMÄHLICHER PROZESS, DER WOHL NICHT MEHR AUFZUHALTEN IST.
Warum ist der einundzwanzigjährige Nürnberger zu seiner siebzehnjährigen Ehefrau in das Flüchtlingslager Schafhof gezogen, um ihr Schicksal zu teilen, warum zog nicht die junge Ehefrau aus dem Lager zu ihrem Mann? Wahrscheinlich wird großer Mangel an Zuneigung von seiten der Eltern und Verwandten des Ehemannes bestanden haben. Vielleicht hat auch in diesem Fall gegolten, was nicht verallgemeinert werden kann, was aber von vielen Fällen berichtet wird und als realistischer Beweggrund akzeptiert werden muß: Man darf Töchtern völlig verarmter, durch welche Umstände auch immer zu Zigeunern gewordener Leute ein gewisses Wohlwollen entgegenbringen, aber man verheiratet sie nur sehr ungern mit seinen Söhnen und man nimmt sie nur widerwillig in die Familie auf. Völlige Mittellosigkeit ist ein Makel, der schließlich auch zu anderen Zeiten nur selten gerne in Kauf genommen worden ist. Wer selbst nach Besitz strebt, zieht keinen Besitzlosen an sein Herz.
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