Die Früchte der Tränen. Ilse Tielsch

Die Früchte der Tränen - Ilse Tielsch


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VERMISSTEN WERDEN AUFGEFORDERT, VOR DEM GEFERTIGTEN GERICHTE ZU ERSCHEINEN ODER AUF ANDERE WEISE VON SICH NACHRICHT ZU GEBEN. Wie konnte einer, der für tot erklärt werden sollte, weil er seit Jahren mit unbekanntem Aufenthalt verschollen, wahrscheinlich schon irgendwo begraben lag, vor einem Gericht erscheinen oder auf andere Weise von sich hören lassen, wie konnte er Nachricht geben?

      Hedwigs Antrag wurde, wie unzählige andere Anträge gleichen Inhalts, von einem deutschen Gericht erledigt, Richard wurde in Deutschland, andere wurden in Österreich für tot erklärt, amtlich aus dem Leben genommen, aus dem Leben ausgestrichen, in ein papierenes Grab gelegt. Der amtliche Totenschein bedeutete eine Witwenrente für die Not leidende Frau, eine Waisenrente für die hinterbliebenen Kinder, bedeutete häufig, wie im Fall Hedwigs, nicht das Ende der Hoffnung auf die immer noch mögliche Heimkehr des Totgesagten, amtlich für tot Erklärten.

      In den meisten Fällen jedoch hat sich diese Hoffnung, wie jene Hedwigs, niemals mehr erfüllt.

      Immer noch fehlten Väter, Söhne und Brüder, immer noch trafen auf Bahnhöfen Transporte mit Heimkehrern ein, mit solchen, auf deren Rückkehr man mit Sehnsucht gewartet hatte, aber auch mit solchen, die nach ihrer Rückkehr vor Gräbern oder vor verschlossenen Türen standen. Der Krieg hatte zahllose Opfer gefordert, das Leben war trotzdem weitergegangen. Nach der furchtbaren Tragödie des Krieges spielten sich in der Heimat die einzelnen privaten Tragödien ab. In der Zentrale des Internationalen Roten Kreuzes in Genf waren allein 1949 hundertzwanzigtausend Briefe mit Suchmeldungen eingegangen, hundertvierunddreißigtausend Briefe wurden abgeschickt, nur fünfzehntausend Einzelfälle konnten gelöst werden. Zwei Drittel aller Anfragen betrafen deutsche Staatsangehörige, die an der Ostfront verschollen waren, auch zahllose Kinder wurden gesucht, die man den Eltern entrissen hatte. Aus der Gefangenschaft Entlassene berichteten über andere, die in ihrem Beisein verstorben waren oder die keine Nachricht geben konnten, obwohl sie noch lebten. Zu Kriegsende verschleppte Mädchen kamen als Frauen wieder und brachten in der Gefangenschaft geborene Kinder mit. Die jüngste Heimkehrerin aus Rußland, die wenige Tage vor Weihnachten neunundvierzig auf dem Wiener Südbahnhof ankam, hieß Gertrude Noll und war drei Monate alt.

      Jetzt vor Weihnachten, rief die leitende Schwester der Bahnhofsmission, JETZT VOR WEIHNACHTEN KÖNNEN WIR SO EIN KLEINES KIND NICHT BRAUCHEN!

      Die junge Mutter drückte die kleine Trude an sich und brach in Tränen aus. Sie hatte schwere Jahre hinter sich, schreckliche Jahre, Verschleppung, Gefangenschaft, Zwangsarbeit, sie war nicht verweichlicht worden, sie hatte in Rußland einen Mitgefangenen zum Mann genommen, hatte ihr Kind im Gefangenenlager geboren, sie hatte vieles ertragen müssen, aber auf diesen Satz war sie nicht gefaßt gewesen. Zu Weihnachten wurde das Kind in der Krippe gefeiert, das Kind, das in einem Stall geboren worden war, die Welt kniete nieder vor diesem Kind, die Menschen beschenkten einander, die Priester in den Kirchen standen in prächtigen Gewändern vor den Altären, die Glocken läuteten, Kerzen brannten, Weihrauchwolken verströmten exotische Düfte, tausendfach ertönte das Lied von der Heiligen Nacht, die diesem Kind gewidmet war, das den Frieden in die Welt bringen sollte. An den Fronten hatten, dem Kind zuliebe, die Waffen geschwiegen. Ihr Kind aber, das ebenso in Armut geboren war wie jenes vor zweitausend Jahren, wurde nicht aufgenommen, wurde in die Kälte verstoßen. Sie stand vor verschlossener Türe mit ihrem Kind, IN DER HERBERGE WAR KEIN PLATZ FÜR SIE.

      Waren die Menschen in zweitausend Jahren nicht um einen Schritt weitergekommen, hatte sich an ihrer Dummheit und Selbstsucht seither überhaupt nichts geändert?

      Eine Hilfsschwester hatte Mitleid und nahm die verstörte Mutter in ihre Wohnung mit, versorgte sie dort drei Tage lang und vermittelte schließlich über die evangelische Pfarrgemeinde eine Unterkunft bei der Heilsarmee.

      Wie hätte Valerie, wäre ihr diese Geschichte zu Ohren gekommen, gesagt? Immer und überall, hätte sie gesagt, kommt es auf den einzelnen Menschen an.

      Die österreichische Regierung setzte sich für die noch nicht Zurückgekehrten ein. WIR WOLLEN KEINE KRIEGSVERBRECHER SCHÜTZEN, WIR WEHREN UNS ABER DAGEGEN, DASS MENSCHEN WEGEN EINER KOLLEKTIVSCHULD UNSCHULDIG VERURTEILT WERDEN, NACHDEM SIE BEREITS FÜNF JAHRE IHRER FREIHEIT BERAUBT WURDEN UND DURCH SCHWERE KÖRPERLICHE ARBEIT GENÜGEND SÜHNE GELEISTET HABEN.

      Nur die Frauen, Mütter, Schwestern der Heimatvertriebenen warteten vergeblich auf eine diesbezügliche Bitte oder ein hilfreiches Wort.

      In Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage bedauerte der österreichische Außenminister, daß nach einer allgemein anerkannten Norm des Völkerrechts ein Staat bei einer ausländischen Regierung Interventionen nur zugunsten seiner eigenen Staatsbürger durchführen könne.

      DEN ÖSTERREICHISCHEN VERTRETUNGSBEHÖRDEN FEHLT DAHER JEDE LEGITIMATION, OFFIZIELL FÜR NICHTÖSTERREICHISCHE KRIEGSGEFANGENE WEGEN ENTLASSUNG AUS DER GEFANGENSCHAFT ZU INTERVENIEREN. AUCH WENN DIE IN ÖSTERREICH BEFINDLICHEN ANGEHÖRIGEN DER KRIEGSGEFANGENEN ODER IN DER ANFRAGE GENANNTEN STAATEN ZURÜCKGEHALTENEN VOLKSDEUTSCHEN ZUM TEIL SCHON DIE ÖSTERREICHISCHE STAATSBÜRGERSCHAFT ERHALTEN HABEN, IST DIES KEINESFALLS AUTOMATISCH FÜR DIE GENANNTEN KRIEGSGEFANGENEN UND ZURÜCKGEHALTENEN GEGEBEN.

      DAHER BESTEHT IN SOLCHEN FÄLLEN FÜR DEN ÖSTERREICHISCHEN STAAT KEINE VÖLKERRECHTLICHE LEGITIMATION ZU OFFIZIELLEN SCHRITTEN IM INTERESSE DIESER PERSONEN.

      Wie hatte Heinrich zu dem Kind Anni gesagt, das nach seinen Vorfahren und nach deren Volkszugehörigkeit gefragt hatte?

      Früher, hatte Heinrich gesagt, als du noch nicht geboren warst, sind wir alle Österreicher gewesen.

      Den Leuten sind die Hände gebunden, sagte Valerie, diese Regierung darf ja nicht tun, was sie für richtig hält.

      Fünf Jahre nach dem Krieg und noch immer besetzt, sagte Valerie, was das kostet.

      Drei Monate später informierte die WIENER ZEITUNG ihre Leser in einem Bericht über die bisherigen Besatzungskosten.

      Bis 1949 waren an die Amerikaner 407 Millionen, an die Engländer 841 Millionen, an die Franzosen 735 Millionen Schilling, an die Russen 2,5 Milliarden Schilling bezahlt worden.

      1949 hatte die vierfache Besetzung Österreich 518,7 Millionen Schilling gekostet. Zusammen mit dem Umtausch alliierter Militärschillinge hatte der Betrag, der für die Besatzungsmächte ausgegeben werden mußte, über fünf Milliarden Schilling betragen. (Das monatliche Einkommen eines Beamten mit Maturastatus im gehobenen Verwaltungsdienst machte am 1. Jänner 1950 vierhundertsechsunddreißig Schilling aus.)

      Fünf Jahre nach dem Krieg und noch immer kein Friedensvertrag, sagte Valerie, dabei wollen wir doch nichts als den Frieden!

      Bewußt die erste Person der Mehrzahl verwendend, die eigene Person einbeziehend, engagierte sie sich für den Staat, der sie als gleichberechtigte Bürgerin angenommen hatte. Genoß sie die Rechte dieses Staates, fielen ihr auch Pflichten zu. Es gibt niemanden in diesem Land, der nicht den Frieden will, sagte sie.

      Am letzten Tag des fünften Friedensjahres erwähnte der Wiener Bürgermeister diesen leidenschaftlichen Friedenswillen des Volkes, aber er sprach auch von Kriegsangst, welche die Menschen erfüllte, er äußerte sich sorgenvoll im Hinblick auf das kommende Jahr. Nur der amerikanische Sonderbotschafter Averell Harriman sagte Österreich eine hoffnungsvolle Zukunft voraus. Vergeblich warteten die Heimatvertriebenen in Österreich an ihren eigenen oder an fremden Radioapparaten auf einen Satz in den Neujahrsbotschaften und Neujahrsreden der Großen des Landes, der sich auf ihr Schicksal bezogen hätte. Niemand gedachte ihrer mit einem an sie gerichteten, tröstenden oder Hoffnung gebenden Wort.

      8

      Briefe kamen aus Deutschland. Die Bewirtschaftung der Butter sei aufgehoben worden, schrieb Hedwig, jetzt könne man Butter frei kaufen, das Pfund koste zwei Mark vierundfünfzig Pfennig. Man hat gefürchtet, daß es Hamsterkäufe geben wird, schrieb sie, aber das ist nicht eingetreten. Die Leute kaufen nicht mehr, als sie früher gekauft haben, sie haben ja auch nicht mehr Geld als vorher. Man kauft ja nur, was man braucht. Nur für den Zucker wird es noch eine Zeitlang Marken geben.

      Nach Baden-Württemberg sollen jetzt achttausend Flüchtlinge


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