Die Früchte der Tränen. Ilse Tielsch
Geschäften, sie wissen nicht mehr, wie der Flachs auf den kargen Äckern ihrer Großeltern gediehen ist, wie er sich gegen den Spätsommer zu goldbraun färbte, wie die Körner der runden Samenkapseln schmeckten, wenn man sie aus der Kinderhand leckte. Aber auch meine Kinder wissen das ja nicht mehr.
Fünfzig Adlergebirgler liegen schon auf dem Waldfriedhof, früher hat man die Herkunftsorte auf die Grabsteine geschrieben, die Jungen tun das nicht mehr.
Ich, Anna, Urenkelin Josefs, der Färber in Schmole gewesen ist und ein Sohn Johann Wenzels aus Tschenkowitz war, versuche mir zu erklären, warum mich das mit Trauer erfüllt.
Heute interessiert sich niemand mehr für den anderen, sagte Hedwig, heute leben die Leute alle für sich, sie schließen sich ab, sie wohnen miteinander Tür an Tür und wollen doch nichts voneinander wissen. Früher ist das anders gewesen. Früher hat einer den anderen gebraucht, da war einer auf den anderen angewiesen. Es hat nicht so viele Einsame gegeben wie heute, weil einfach zu wenig Platz war, weil die Leute aneinander-gedrängt leben mußten, weil diese entsetzliche Wohnungsnot war.
Die Not überhaupt, sagte Hedwig, sie hat dazu beigetragen, daß die Menschen nicht so einsam wie heute gewesen sind. Ich meine die Zeit nach dem Krieg, sagte Hedwig. Das hat länger gedauert, als man es heute wahrhaben will, hier bei uns jedenfalls hat es sehr lang gedauert. Bis es erst einmal so weit gewesen ist, daß man von einem Dorf, in das man eingewiesen worden ist, in eine größere Stadt ziehen durfte. Bis man die Zuzugsgenehmigung bekommen hat. Und wenn man sie dann endlich hatte, wenn man sich einen Raum suchen durfte, in den man einziehen konnte, bis man dann einen solchen Raum überhaupt gefunden hat.
Uns ist das erst neunundfünfzig gelungen.
(Neunundfünfzig waren Großmutter Anna und Großvater Josef schon tot, in fremder Erde begraben, ohne die Heimat wiedergesehen zu haben.)
Der Mann, der uns damals zwei Zimmer in seiner Nürnberger Wohnung vermietet hat, ist freilich sehr einsam gewesen, sagte Hedwig. Sie erzählte mir die Geschichte von Karl Kodnik, der überallhin, wo es ihm möglich war, seinen Namen schrieb.
Auf jedes Ei, das er gekocht hat, sagte Hedwig, schrieb er: gekocht am soundsovielten, dann das Monogramm, K. K., Karl Kodnik. Neben den Lichtschalter schrieb er mit Tintenblei: nach rechts drehen. Karl Kodnik. Auf den Geschirrschrank schrieb er: Geschirr. Karl Kodnik. Wenn er ausging, legte er einen Zettel auf den Küchentisch: bin ausgegangen, Karl Kodnik. Überall schrieb er seinen Namen an, weil ihn sonst niemand geschrieben hat, sagte Hedwig, weil ihn auch niemand ausgesprochen hat, weil ihn niemand bei seinem Namen gerufen hat. Er hat keine Kinder gehabt, keine Verwandten oder Bekannten, er hat überhaupt niemals Post bekommen. Er hat mich oft mit allen möglichen Ausreden in der Küche zurückgehalten, nur um mit mir, der Flüchtlingsfrau, sprechen zu können. Er war schon sehr alt, aber das war nicht der Grund, er hat uns auch später noch, als wir ans andere Ende von Nürnberg gezogen sind, oft besucht, auch dann noch, als er nur noch auf Krücken gehen konnte.
Nachdem mir Hedwig die Geschichte von Karl Kodnik erzählt hatte, erzählte ich ihr die Geschichte des alten Schmieds von Mühlfraun. Als ich damit zu Ende gekommen war, weinte sie.
Du könntest mit dem Wagen nach Bubenreuth fahren, sagte Hedwig, das ist nicht weit von hier, gleich bei Erlangen, es wird dich interessieren. In Bubenreuth sind die Geigenbauer aus Schönbach zu Hause.
Nur versprich mir, daß du nicht wieder im Telefonbuch nach Verwandten suchst.
Im Egerland hatten wir keine Verwandten, sagte ich.
Auch die Geigenbauer von Schönbach im Egerland waren, wie die Adlergebirgler, auseinandergerissen, in verschiedene Richtungen verstreut worden. Auch sie brauchten erst wieder einen Ort, um sich zu sammeln. Sie waren aufeinander angewiesen, was die Arbeit betraf, in der alten Heimat hatten sie einander in die Hände gearbeitet, jeder war ein Spezialist auf seinem Gebiet gewesen, die Meistergeigen aber wurden von einem Geigenbauer in allen Teilen allein erzeugt.
Nun saßen sie in verschiedenen Gegenden Deutschlands, die Boden- und die Deckenmacher, die Boden-und Deckenleimer, die Schachtelmacher, die Korpusmacher, die Griffbretterzeuger, die Wirbeldreher und die Stegmacher, die Saitenspinner und die Bogenmacher, die Geigenbauer, welche die Teile zusammensetzten, die fertigen Instrumente zuletzt lackierten und polierten. Nur einen Teil von ihnen hatte es in ein Lager bei Erlangen verschlagen, dort saßen sie jetzt, fingen einzeln wieder in bescheidenstem Rahmen zu arbeiten an, hofften im übrigen, daß man ihnen die gemeinsame Ansiedlung eines Tages doch noch gestatten würde.
WIR BRAUCHEN KEINE DEVISEN, WIR BRAUCHEN UNSERE WIESEN, hatte man in dem Ort Möhrendorf gerufen, als in einer Gemeinderatssitzung die wirtschaftliche Bedeutung als Argument für eine mögliche Ansiedlung in die Waagschale geworfen worden war.
Seit Jahrhunderten hatten sie Geigen hergestellt, und sie waren für die Qualität ihrer Instrumente in der Welt bekannt und berühmt gewesen, nun standen sie als Bettler vor Leuten, die nichts von Geigen verstanden und zu denen ihr Ruf nicht gedrungen war. Niemand kümmerte sich um sie, man wies ihnen elende, halb verfallene Baracken zu, sie mußten die wertvollen Hölzer, die sie im Fluchtgepäck mitgenommen hatten, zur Ausbesserung der Löcher in den Barackenwänden verwenden.
WAS ABER EIN RICHTIGER GEIGENBAUER IST, DER LÄSST DAS GEIGENBAUEN NICHT, sagte der Bürgermeister von Bubenreuth, als ich in seinem Wohnzimmer saß. Er war, als er hierher kam, elf Jahre alt. Schon in den Baracken fingen sie wieder mit ihrer Arbeit an. In einem Stall schmiedete ein Werkzeugmacher aus Eisenstücken, die er gesammelt hatte, die ersten Werkzeuge. Tag und Nacht arbeitete er, es waren harte Jahre, ABER JETZT HABEN WIR WIEDER EIN DAHEIM, UND WIR SIND DANKBAR DAFÜR.
Nein, niemand wollte diese Flüchtlinge haben, niemand wollte sie aufnehmen, man verglich sie mit den Besenbindern eines Nachbardorfes, das war das Erbärmlichste, was an Vergleich möglich war, denn es bedeutete, daß sie nicht nur arm waren, sondern daß man ihnen nicht traute.
Scheinbar kleine Begebenheiten, die verletzt haben, sind im Gedächtnis geblieben. Wie die Einheimischen zum Beispiel bei den Fronleichnamsprozessionen in der Reihe aufgeschlossen haben, GROSSER GOTT, WIR LOBEN DICH, wenn sich ein Vertriebener einreihen wollte. WIR SIND MENSCHEN DRITTER KLASSE GEWESEN.
Die nur 695 Einwohner des Nachbardorfes Bubenreuth hatten damals einen klugen Bürgermeister, er schätzte die Situation richtig ein, die Bewohner seines Dorfes schlossen sich seiner Meinung an.
Ob es damit zu tun hatte, daß die Bubenreuther vielleicht musikalischer waren als die Bewohner der umliegenden Gemeinden? (Es ist immerhin vorstellbar, daß es so gewesen ist.) Oder haben sie nur die Argumente begriffen, mit denen man ihnen die Vorteile einer positiven Entscheidung dargelegt hat? (Auch wenn dies vorwiegend der Fall gewesen sein sollte, wären sie zu loben, denn sie haben zweifellos richtig entschieden.)
Großvater Josef, der eine besondere Beziehung zu Musik hatte und seine Flöte im Fluchtgepäck mitgenommen hatte, las die Berichte von der Grundsteinlegung zur neuen Siedlung in Bubenreuth, die am 20. Oktober 1949 stattfand und über die ausführlich geschrieben wurde, er schnitt sie aus dem Erlanger Tageblatt aus und bewahrte sie auf. Den Satz, der bei der Grundsteinlegung gesprochen wurde, las er den Seinen vor: GOTT ZUR EHRE, DEN GEIGENBAUERN ZUR FREUDE, ZUM GLÜCK FÜR BAYERN UND REICH.
Vergelt’s Gott, sagte die kleine Großmutter Anna gerührt, daß man unseren Leuten wenigstens erlaubt, hier zu zeigen, was sie können.
Die meisten der Vertriebenen aus den im Süden Mährens gelegenen Gebieten waren fromm, sie dankten ihrem Herrgott, wenn ihnen etwas Gutes widerfuhr.
Aber, fügte sie nachdenklich hinzu, was wird aus dieser Siedlung, wenn die Geigenbauer wieder nach Schönbach heimgekehrt sind?
(Am Beginn des großen WUNDERS trugen sich die kleinen Wunder zu, sie ereigneten sich, eines hier, eines dort. Die Not hatte in den aus ihrer Heimat Vertriebenen Energien freigesetzt, die dazu beitrugen, die Länder, in die man sie gebracht hatte, zu verändern. Ihre Kraft mischte sich unter die in diesen Ländern vorhandenen Kräfte. Mit dem verzweifelten Wunsch, eine neue Heimat zu schaffen, in der man wieder leben, in der man arbeiten konnte, halfen sie wesentlich mit, die Heimat der anderen, denen dieses Land gehörte, aus dem Schutt und aus den