Die Früchte der Tränen. Ilse Tielsch
Ziel, die Beseitigung der Kontrollen überhaupt zu erreichen oder wenigstens die Erleichterung, daß an Stelle der bisherigen Kontrollstelle an der Ennsbrücke die amerikanische Kontrolle bereits ab Linz im fahrenden Zug, die sowjetische Kontrolle, wenn sich nicht die gleiche Praxis ab der Station Ennsdorf erreichen lassen sollte, in der Bahnstation Sankt Valentin vorgenommen wird. Bei Eisenbahnfahrten von Linz in Richtung Budweis sollte die Kontrolle in die Züge oder in die Bahnstation Steyregg verlegt werden.
Schließlich verlangten die Antragsteller, daß die Kontrollorgane der Besatzungsmächte von je einem Organ der österreichischen Exekutive begleitet werden sollten. (Heinrich nimmt diese Meldung mit Genugtuung zur Kenntnis. Seine Tochter Anni ist von einem die Ausweise kontrollierenden Russen auf der Ennsbrücke aus dem Zug geholt worden, obwohl ihre Papiere ordnungsgemäß ausgestellt und mit der vorgeschriebenen Anzahl von Rundstempeln versehen waren.
Es ist Annis einzige Fahrt über die Demarkationslinie gewesen, bei der sie ordnungsgemäß ausgestellte und gestempelte Papiere besaß. Mehrmals vorher und nachher hat sie die Demarkationslinien mit von Freundinnen geborgten Ausweisen und Passierscheinen ohne Schwierigkeiten überschritten.)
Welche Gedanken tauchen vor Valeries innerem Auge auf, während sie sich der geliebten Beschäftigung hingibt, die kleinen Teigkugeln formt, knetet, betastet, mit den Fingerspitzen streichelt, ihre seidige Oberfläche befühlt? Welche Erinnerungsbilder befallen sie, versetzen sie in eine lange vergangene Zeit zurück, in jene Zeit, in der sie mit Heinrich und der kleinen Tochter in dem mährischen Landstädtchen, in dem sie geboren wurde und aufwuchs, glücklich gewesen ist? Vielleicht sieht sie sich in der Küche, ZU HAUSE, mit viel größeren Teigkugeln hantierend, vielleicht sieht sie sich selbst, den großen, bis zur Decke reichenden Christbaum schmükkend, während im Kachelofen das Feuer brennt, knistert, in jene Glut zusammenfällt, von der die Wärme langsam in die Kacheln steigen, von dort in das große Eckzimmer ausstrahlen, es am Heiligen Abend gemütlich erwärmen soll, während Schnee in weichen Flokken vor den Fenstern fällt, herabsinkt, die Geräusche der Straße dämpft. Vernehmen ihre Ohren das leise Gleiten von Schlittenkufen, das Tappen der Pferdehufe, das Klingeln von Glöckchen, die an den Pferdegeschirren befestigt sind, hört sie die Stimmen der Kinder, die sich im Schnee balgen, mit kleinen Rodelschlitten unterwegs sind, dem Abend entgegenfiebern, der mit seinem Glanz alle anderen Abende des Jahres überstrahlt?
Sieht sie nur freundliche Bilder, hat sie die anderen, dunkleren Bilder mit Absicht vergessen, verdrängt, sieht sie, während die Melodie eines Weihnachtsliedes aus dem Radio in ihre Küche dringt, wie sich Türen öffnen, Kerzen brennen, Christbäume erstrahlen, O JUBEL, O FREUD, es wäre vorstellbar, obwohl sie eigentlich nie dazu neigte, die Vergangenheit in rosaroten Farben zu sehen und auch hinsichtlich der Weihnachtsfeiern vergangener Zeiten hin und wieder kritische Bemerkungen in die vorweihnachtliche Stimmung eingestreut hat. (Der Kachelofen, weißt du noch, dieser verdammte Kachelofen, der im Eckzimmer gestanden ist, er hat niemals richtig brennen wollen, er ist überhaupt nicht richtig warm geworden, hätten wir den AMERICAN HEATING im Herrenzimmer nicht gehabt und die Türen aufgemacht, dann hätten wir zu Weihnachten immer gefroren.) Sie hätte Anlaß genug, weniger freundliche Bilder zu sehen, sie hat fünf lange Jahre der Not hinter sich, davor die bitteren Jahre des Krieges, davor die Hungerjahre nach dem ersten Krieg. Nur eine kurze Periode des Glücks als Liebende, als junge Ehefrau, liegen dazwischen.
Vielleicht denkt sie auch vor allem, während sie ihre winzigen Teigkugeln knetet, an ihre Eltern und an die jüngere Schwester, die jetzt in ihrer Dachkammer in dem Dorf bei Erlangen ebenfalls Weihnachtsvorbereitungen treffen, fragt sich, ob die kleine Kammer auch warm genug beheizt ist, ob die Familie genügend zu essen hat, ob sie nicht friert, ob sich die Mutter nach ihrer Krankheit wieder erholt hat. Vielleicht ist sie auch ihrer Tochter wegen von Sorge erfüllt. (Ich hab es dir gleich gesagt, das kann nicht gut ausgehen, du bist nichts und hast nichts, und wir haben nichts, was wir dir geben können, warum hast du dir diese Heirat nicht aus dem Kopf geschlagen?)
Heinrich nimmt inzwischen zur Kenntnis, daß, einer Meldung der Prager Zeitung SVET PRACE zufolge, alle Hotels und Restaurants in der Tschechoslowakei verstaatlicht, die Dorfwirtshäuser den landwirtschaftlichen Genossenschaften angeschlossen worden sind. Die kommunistische Partei, liest er, habe Weisungen zur Liquidierung der DORFREICHEN und zum Zusammenschluß der Kleinbauern und der mittleren Grundbesitzer herausgegeben.
Von dem Wort LIQUIDIERUNG erschreckt, läßt Heinrich die Zeitung sinken, zögert einen Augenblick, ehe er sie wieder aufnimmt und weiterliest.
Für den Fremdenverkehr wird schon wieder geworben, die Zonengrenzen stellen jedoch, liest Heinrich, ein Hindernis dar, eine Einreise aus Deutschland ist nur mit einem Militärpermit möglich, dieses gilt nur für die westlichen Besatzungszonen (das hat Heinrich ohnedies gewußt), der mitgenommene Geldbetrag dürfe nur vierzig Mark, also etwa zweihundertvierzig Schilling, betragen (das hat er nicht gewußt, aber zweihundertvierzig Schilling sind für ihn eine Menge Geld). In Deutschland sind Tagespensionen schon ab sieben Mark zu finden, in Österreich kosten sie zwischen sechs und zwölf Mark. In Spitzenhotels sind für den Tag bis zu zwanzig Mark zu bezahlen.
Auch vor Heinrichs innerem Auge tauchen wahrscheinlich jetzt Bilder aus lange vergangenen Tagen auf.
Im Radio sind die Weihnachtslieder verklungen, es ist jetzt von Weihnachtsbräuchen die Rede, Valerie dreht am Knopf, der Sender RADIO WIEN bringt die Sendung WEIHNACHTSFEST IN EINEM USIA-BETRIEB, sie stellt das Radio ab.
Was steht denn in deiner Zeitung, sagt sie zu Heinrich, während sie nach der Teigrolle greift, lies mir etwas vor.
Heinrich, im Hinblick auf die vorweihnachtliche Stimmung, die er nicht verderben will, wählt erfreuliche Nachrichten aus. Ein wichtiger Verhandlungspunkt der Gemeinderatssitzung am Tag vorher, liest er, ist die Neugestaltung des Stephansplatzes gewesen. Dieses Problem ist in bisher insgesamt achtunddreißig Sitzungen behandelt worden, es geht die gesamte Wiener Bevölkerung an, GANZ WIEN IST DARAN INTERESSIERT.
Die PUMMERIN würde in Sankt Florian neu gegossen werden, eine Spendenaktion sei geplant, um die nötigen dreihunderttausend Schilling aufzubringen. Es bestehe der Plan einer festlichen Überführung der fertigen Glocke auf der Donau, mit Anlegepausen in allen Ufergemeinden, als eine Art Bekenntnis zu Österreich.
Wenn die Besatzungsmächte damit einverstanden sind, sagte Valerie.
In den Zeitungen jener Tage blätternd, finde ich heute, nach so vielen Jahren, Nachrichten, die Heinrich, um seine Frau nicht zu beunruhigen, wahrscheinlich nicht vorgelesen hat. Ich finde auch die Listen mit den Namen derer, die ZUM VERFAHREN DER TODESERKLÄRUNG AUFGEBOTEN waren.
AUF ANSUCHEN DER ANTRAGSTELLER WIRD DAS AMTLICHE VERFAHREN ZUR TODESERKLÄRUNG VERMISSTER EINGELEITET UND DIE AUFFORDERUNG ERLASSEN, DEM GERICHT NACHRICHT ÜBER IHREN VERBLEIB UND IHR SCHICKSAL ZU GEBEN.
Namen und Geburtsdaten, vage Angaben über letzte Aufenthalte, Angabe von Orten, an denen die Verschollenen, Vermißten, noch nicht Heimgekehrten zum letztenmal gesehen wurden oder von wo ihre letzte Nachricht gekommen ist.
Verschollen in der Weite Rußlands, bei Rückzugsgefechten, in Gefangenenlagern, aber auch aus Häusern, Wohnungen geholt, in Züge, Lastwagen gestoßen, nie mehr aufgetaucht, nie mehr zurückgekommen. Alte Männer und Kinder werden gesucht, der deutschen Wehrmacht letztes Aufgebot, Verschleppte werden gesucht, Deportierte, von denen nie mehr eine Nachricht gekommen ist, Österreicher und Deutsche jüdischer Religion. Orte werden genannt, letzte Stationen ihrer Leidenswege, SEITHER FEHLT JEDE NACHRICHT.
Reinhard S., geboren 1917, wird seit den Kämpfen bei Breslau im Jahre 1945 vermißt. Seither fehlt jede Nachricht.
Peter B., geboren 1910, wurde vorhandenen Nachrichten zufolge mit einem Kriegsgefangenentransport von Stalingrad nach Uspestipan gebracht. Seither fehlt jede Nachricht.
Henoch K., geboren 1885 als Sohn des Aron K. und der Chane, geborene D., zuletzt wohnhaft in Wien, wurde Nachrichten zufolge 1942, von Wien nach Minsk gebracht. Seither fehlt jede Nachricht.
Hedwig hatte sich nach langem Zögern und aus Gründen der Not doch dazu entschlossen, einen Antrag auf Todeserklärung für ihren in Rußland verschollenen Mann Richard zu stellen. Wie aber hätte sie dem Gericht Nachricht geben