Die Sprachlosigkeit der Fische. Margit Mössmer
Margit Mössmer
Die Sprachlosigkeit
der Fische
Roman
Der Tag, an dem Doktor Jorge Oswaldo Muñoz bei dem Hahn des Nachbarn Alzheimer diagnostizierte
Als ich von der alten Kathedrale kommend die Calle Luis Rosas erreichte, sah ich Doktor Jorge Oswaldo Muñoz, den Arzt und Fabrikleiter, zum ersten Mal. Er stand in eine weiße ecuadorianische Morgensonne getaucht vor dem Café, in dem er mich treffen sollte, und unterhielt sich mit einem Mann im Coca-Cola-Overall, der ein Bein auf eine Sackrodel mit Leergut gestellt hatte und sich mit einer Hand immer wieder auf den Oberschenkel klopfte, weil ihn die Worte des Doktors so amüsierten. Jorge stand mit dem Rücken zu mir, aber ich konnte sehen, wie er dem Cola-Mann auf den Oberarm boxte, woraufhin der Mann seinen Kopf in den Nacken warf und laut auflachte. Einige Sekunden blieb ich hinter dem Männerpaar stehen, überlegte, den Doktor an der Schulter anzutippen:
Jorge?
Doch da drehte er sich schon zu mir um. Er sah viel besser aus, als ich erwartet hatte. Meine Mutter meinte, er hätte die besten Zeiten bereits erlebt, doch er war gut beisammen, sportlich gekleidet, trug eine Sonnenbrille und einen Haarschnitt wie Michael Douglas in jungen Jahren.
»Kindchen!«, drückte er mich an sich heran. »Du bist da!«
»Hola Jorge, mucho gusto.« Ich ließ die feste Umarmung dieses Fremden geschehen, und es war mir nicht unangenehm.
Er stellte mich dem Mann im Overall als Nichte vor. Der schüttelte mir begeistert die Hand, witzelte ein paar Worte in einem Spanisch, das ich nicht verstehen konnte, stieg in seinen Lieferwagen und fuhr davon.
»Wer war das?«
»Der Cola-Mann.«
Wir setzten uns an einen der drei Tische des Cafés, das zur Straße hin keine Mauer hatte. Es war zugeräumt mit religiösen Statuen und Plastikblumen, an den Wänden hingen alte Stadtaufnahmen und Werbeplakate des Präsidenten. Jorge bat den greisen Besitzer, das Radio leiser zu machen.
»Das ist meine Nichte!«, schrie er den Alten an.
»Es stört dich doch nicht, dass wir hier einen auf Onkel und Nichte machen, oder?«
»Nein, schon okay. Ist ja auch irgendwie …«
»Sie kommt aus Europa!«, schrie er.
Der Alte tat, als würde er verstehen, und servierte uns ungefragt mit Frischkäse bestrichene Brote zum Kaffee. »Oye papito, dein Brötchen hier hat aber schon mehr Jahre auf dem Buckel als deine Alte, was?« Jorge lachte, der Mann lachte, ich beschloss, auf das Brötchen zu verzichten.
»Der Flug war gut?«
»War okay.«
»Sehr gut, sehr gut. Wie lange bleibst du hier?«
»Zwei Wochen.«
»Zwei Wochen! Das ist ja keine Zeit für dieses Land.«
»Ich bin ja wirklich nur hier, um …«
»Ja, Kindchen, deine Mutter hat es mir geschrieben. Aber ehrlich, ich habe keine Ahnung, wo Gerda steckt.«
»Ich weiß, das hat Mama auch schon gesagt. Niemand weiß es.«
»Niemand.«
»Sie hat mir aber auch gesagt, dass du sie am besten kennst.«
»Ach ja? Ich weiß nicht, ob man Gerda am besten kennen kann. Papito, das Radio!«
»Vielleicht könntest du mir sagen, wo du sie zuletzt gesehen hast, und ich könnte dann versuchen …«
»Noch ein bisschen warme Milch, Väterchen, por favor!«
»Ich dachte, wenn ich erst mal hier bin …«
»Ich glaube nicht, dass sie noch in Ecuador ist.«
»Wann hast du sie denn zuletzt gesehen?«
»Lass mich nachdenken.«
Auf der Milch im Porzellankännchen hatte sich eine dünne Haut gebildet. Er schob sie mit einem Löffel zurück und ließ das dampfende Weiß in seinen Kaffee laufen. Er bemerkte die Zigarettenschachtel, die vor mir auf dem Tisch lag, doch ehe ich ihm eine Zigarette anbieten konnte, schüttelte er den Kopf, als wollte er einen lästigen Gedanken loswerden. Er sah mich an, klopfte die Steinzeitbrösel, die in seinen Schoß gefallen waren, von der Hose, sah mich wieder an, nahm einen Schluck und stellte die Tasse ab:
»Ich weiß es nicht. Ich kann dir nicht sagen, wann ich sie zuletzt gesehen habe. Ich weiß, wann ich sie zum ersten Mal gesehen habe. Das war bei mir zu Hause in Quinindé. Gerda ist mir quasi zugelaufen! Du weißt ja, meine Frau María Luz und ich, wir haben uns da draußen ein kleines Grundstück gekauft, damals. Gott, waren wir jung, ein paar Hektar Palmen, ein paar Mulis, eine Handvoll Arbeiter. Kaum jemand kannte die Gegend, kaum jemand hatte sich jemals dorthin verirrt. Ich erinnere mich an diesen regnerischen Tag. Es war ein Tag wie jeder andere. Das heißt, das stimmt so nicht, es war der Tag, an dem ich beim Hahn meines Nachbarn Alzheimer diagnostizierte. Eine Diagnose, die ich noch nie zuvor jemandem gestellt hatte. Doch ich konnte mir nur so erklären, warum das Tier den halben Tag lang krähte. Meine Theorie war, dass es deshalb unaufhörlich krähte, weil es dachte, es hätte noch nicht. Der Verwirrte begann in der Morgendämmerung zu krächzen, mehr oder weniger ordnungsgemäß. Doch dann hörte er bis zu sieben Stunden lang nicht mehr damit auf. Seine Stimmbänder waren völlig am Ende, sein Krähen war erbärmlich. Äußerlich sah man ihm nichts an. Sein Kamm leuchtete, sein Federkleid war dicht, er sah blendend aus. Er lebte umgeben von einer Schar kräftiger Hennen, einheitlich schwarz oder rötlich gefärbte Exemplare, deren Schenkel- und Brustmuskulatur ihm täglich entgegenquollen. Fortpflanzungstechnisch war nichts zu beanstanden. Manche der gallinas zogen einen Schwarm kleiner Federbüschel hinter sich her, flauschige Küken, die noch nichts verstehen konnten von der Welt. ›Und der Hahn selbst soll nun so einer sein? Einer, der nichts verstehen kann von der Welt?‹, fragte mein Nachbar. ›Sind Sie sicher, Doktor? Alzheimer?‹ Nun bin ich klarerweise kein Tierarzt, aber ja, auf gewisse Weise war ich mir sicher. Ich bat ihn, den Hahn zu fangen, damit ich ihm ein wenig Blut abnehmen konnte. Da stand auf einmal eine junge Frau in Gummistiefeln und Regenponcho vor dem Gartentor. Ja, ich erinnere mich an Gerdas knallgelben Regenponcho. Es nieselte nur ein wenig, also zog sie die Kapuze vom Kopf und kam näher. ›Buenos días, Señores. Entschuldigen Sie, ich kam gerade zufällig hier vorbei und wollte Sie fragen, ob Sie wissen, wem diese wunderbaren Palmen gehören. Sie sehen so ewiglich aus, wie vor hunderten von Jahren aus dem Boden gestoßen.‹
Ich war völlig perplex, so ein Kompliment bekomme ich nicht alle Tage, verstehst du? Und überhaupt, die Erscheinung dieser Gringa mitten auf unserer Hacienda … Wie hatte sie uns nur hier oben gefunden? ›Das sind meine Palmen‹, sagte ich viel zu kindisch zu ihr.
›Nun, dann möchte ich Ihnen gratulieren, Señor …‹
›Muñoz. Doktor Jorge Oswaldo Muñoz.‹
›Doktor?‹
›Arzt, ja.‹
›Mucho gusto.‹
›Gleichfalls Señora, das hier ist Samuel Cordero, mein Nachbar.‹
›Mucho gusto.‹
›Darf ich fragen, wie Sie sich hierher verirrt haben?‹
›Ich hörte ein ungewöhnliches Krähen, ein Krächzen eher. Da, dachte ich, kann ein Mensch auch nicht weit sein. Wissen Sie, ich würde mich sehr für ein kleines Abendessen interessieren, ich bin schon ziemlich lange unterwegs.‹
›Sie haben unseren Patienten gehört‹, sagte ich, ›der Gute hier hat Alzheimer.‹ Ich zeigte auf den Hahn, der uns unruhig umkreiste, und