Die Sprachlosigkeit der Fische. Margit Mössmer

Die Sprachlosigkeit der Fische - Margit Mössmer


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ich Gerda erklärte, wie ich zu dieser Diagnose gekommen war, streckte sie ihren Arm aus und strich mit flacher Hand über den Rücken des Tieres. Samuel, mein Nachbar, fuhr sich ungläubig durchs Haar und sah mich an, als wollte er sagen: Wie ist das möglich? Er kannte seinen Hahn nun seit neun Jahren. Nur mit äußerster Mühe konnte man ihn fangen, mit noch größerer Mühe festhalten. Er sah zu, wie Gerda das Tier in aller Ruhe streichelte, aufhob, begutachtete und schließlich wieder zu Boden ließ. Der Hahn ging lautlos durch die regennasse Erde, bis er den asphaltierten Weg zum Gartentor erreichte. Dort plusterte er sich auf und schlug mit lauten Klauenschlägen einige Male auf den Beton.

      Gerda, Samuel und ich standen da und vergaßen plötzlich alles um uns herum. Wir waren nur noch von der Schönheit des Tieres beeindruckt. Seine gefleckten Schwanzfedern bewegten sich wie ein tropischer Farn, in einem weiten Bogen hängend, und sein Kamm war voll purpurnem Leben.

      ›Sehen Sie mal genauer hin, Doktor‹, sagte Gerda, ›dieser Hahn ist kerngesund. Ihm ist langweilig, das ist alles.‹

      ›Langweilig?‹

      ›Langweilig, fad, aburrido, bored to death.‹

      ›Woher wissen Sie das?‹

      ›Ich kenne mich ein bisschen aus mit Geflügel. Ich habe in meinem Leben bereits einige Hähne mit diesem Problem kennengelernt, glauben Sie mir. Es gibt sie überall, vor allem hier in Südamerika. Diese wunderschönen Tiere langweilen sich zu Tode. Für mich ist das zwar völlig unverständlich, denn ich kenne keine Langeweile, habe sie nie kennengelernt. Sie müssen sich diese Unkenntnis vorstellen wie bei einem Menschen, der noch nie Kopfweh oder einen Orgasmus hatte.‹«

      »Das hat sie gesagt?«, unterbrach ich den Doktor.

      »Quasi Wort für Wort. Ich merkte, dass Gerda versuchte, dem Tier noch einmal näherzukommen, doch sein verächtlicher Blick verunsicherte sie. Sie fragte: ›Haben Sie diesen Blick gesehen?‹ und blieb stehen. Da plusterte sich der Hahn auf, und sein Federkleid blendete uns in tausenden Farben schimmernd, so stark, dass wir unsere Augen bedecken mussten. Wir waren Zeugen einer Verwandlung. Der Gelangweilte wurde groß wie ein Schwein und bunt wie eine Disneyfigur. Dann lachte er über uns und verschwand im Dickicht.«

      »Wie meinst du das, er wurde groß wie ein Schwein?«

      »Na wie ein Schwein eben. Was wird denn so ein Schwein haben? Um die hundert Kilo vielleicht. Von diesem Tag an hörte er auf zu krähen, er war glücklich und zufrieden.«

      »Nicht mehr gelangweilt?«

      »Ganz und gar nicht.«

      »Seltsame Geschichte.«

      »Papito!«, rief der Doktor. »Bring uns doch noch zwei von deinen Steinzeitbrötchen! … Ich glaube, Gerda hat Europa vermisst. Sie hat mir viel von ihrer Zeit dort erzählt.«

      »Und du weißt wirklich nicht, wann und wo du sie zum letzten Mal gesehen hast?«

      »Ich weiß es nicht. Mit Gerda und der Zeit ist das so eine Sache, wirklich, keine Ahnung. Wo wirst du wohnen, Kindchen?«

      »Um ehrlich zu sein, hab ich mich noch nicht darum gekümmert.«

      »Du wohnst natürlich bei uns. María Luz richtet dir ein Bett im Erdgeschoss.«

      Das Bett war angenehm, mein Schlaf unruhig. Ich träumte, mein Gepäck wäre am Flughafen von Quito verloren gegangen. Stunden und Tage war ich auf den Gepäckbändern unterwegs, hüpfte über Koffer und Menschen, glaubte immer wieder, etwas entdeckt zu haben, das zu mir gehörte. Ich irrte mich jedes Mal. Einmal griff ich nach einem blitzblauen Koffer, der abfärbte und Spuren auf meinen Händen zurückließ. Ein Rucksack war bei näherer Betrachtung ein Fernseher, in dem eine Quizshow lief, und schließlich biss mich ein Hund in Militäruniform in die Hüfte. Ich beschloss, aufzustehen und eine Runde im Garten zu drehen. Leise öffnete ich die Tür, um niemanden im Haus zu wecken, da sah ich den Doktor rauchend am Pool sitzen. Als er mich bemerkte, dämpfte er die Zigarette wie ein verschrecktes Schulkind im Rasen aus.

      »Ah, du bist es«, lachte er. »Ich dachte, es wäre meine Frau.«

      Ich bat Jorge um eine Zigarette und setzte mich neben ihn ins Gras. Ich ließ meine Füße ins Wasser hängen und veränderte damit die Silhouetten der sich im Wasser spiegelnden Ölpalmen. Eine Zeit lang ließen wir nur die Frösche und Nachtvögel sprechen. Dann stieß Jorge mit einem lauten Schnaufen Rauch aus der Nase: »Weißt du Kindchen, ich habe da auf einmal so viele Bilder im Kopf.«

       in Madrid

      Nur weil Abigail Adams bei einem Straßenfest in Covarrubias von einem jungen Mann darauf aufmerksam gemacht wurde, dass »die Österreicherin« und sie in derselben Gasse wohnten, hatte sie das Gefühl, sie müsste sich mit Gerda verbünden, da sie beide »Ausländerinnen« waren, hier in Madrid. Gerda aber verabscheute Abby. Sie hasste es, wenn sie mit den Fingern an ihren Lippen zupfte, weil ihr nicht einfallen wollte, wie das neue Restaurant am Plaza Santa Ana hieß. Und sie hasste es auch, wenn sie über Werke von Goya oder Picasso sprach, als wären es Kleidungsstücke: »This one has nice colors!« Dennoch geschah es an einem Sonntag, dass sie sich überreden ließ, Abby zu einem Stierkampf in die Arena Las Ventas mitzunehmen, da diese, wie sie meinte, Angst habe, sich einem solchen Ereignis alleine auszusetzen, aber zu neugierig sei, um es nie kennengelernt zu haben. Gerda, die von März bis Oktober beinahe jeden Sonntagnachmittag in der Arena verbrachte, willigte ein, unter der Bedingung, dass Abby die Karten besorgte. Abby hatte Sonnenplätze gekauft. Sie hatte keine Ahnung, welche Tortur das bedeutete. Hier auf der Sonnenseite der Arena bewegten sich die Fächer der Damen wie ein Schwarm ungleicher Fische, und die bestickten Taschentücher der Herren verdunkelten sich mit dem aufgesogenen Schweiß um einige Nuancen.

      »Oh he’s such a cutie!«, kleinkindelte Abby, als sie auf dem Programmzettel das Foto des Toreros sah, der gleich in der Arena auftreten würde. Dummes Illinois-Girl, dachte Gerda. Natürlich war Domingo Valderrama kein »cutie«. Er war ein Gott. Gerda schlief mit ihm. Morgens, wenn sie in seiner weitläufigen Wohnung im Stadtteil Lavapiés die Augen öffnete, sah sie Domingo am Bettende nackt vor dem Spiegel stehen, wie er sich auf den Kampf vorbereitete. Die Füße hielt er gestreckt, die Knie durchgedrückt, das Becken stark nach vorne und die Schultern in der gleichen Strenge zurückgeschoben, das Kinn seitlich nach unten gereckt, sodass ihn die Spannung im Nacken schmerzen musste. Die Luft, die durch die geöffnete Terrassentür ins Zimmer kam, ließ den Vorhang um seine Beine tanzen, so als wäre er die muleta – das rote Tuch.

      Nicht nur, dass Domingo Valderrama die Bullen mit der muleta unverschämt nah an seinem schmalen Körper vorbeiführte und immer bis zum letzten Moment wartete, bevor er das Tuch wendete und es mit der dann gelben Farbe für das gereizte Tier unattraktiv werden ließ. Was er vor allem beherrschte, war das Töten.

      Manch ein Torero hatte den Sandboden von Las Ventas das warme Blut in Litern aufsaugen lassen, bevor das Tier endlich aus der Arena geschleift werden konnte. Doch nicht Domingo. Er setzte seinen Degenstoß immer dann, wenn er den Stier dazu gezwungen hatte, seinen Kopf tief zu senken, derart punktgenau zwischen die Schulterblätter, dass jedes der 235 bisher von ihm getöteten Tiere nach spätestens vier Schritten zu Boden fiel. Das Volk liebte ihn dafür. Denn nichts hasste man in Madrid mehr als einen Stierkampf ohne schnelles Ende.

      Die Bedingungen für den Kampf waren an jenem Sonntag, an dem Gerda Abby lieber in der Arena gegenübergestanden wäre, als mit ihr eine Tüte maiz frito auf den billigen Sitzplätzen zu teilen, hervorragend. Kein Windhauch konnte die angespannte Konzentration eines Toreros in einen Gedanken an den Tod umlenken, und kein Mann der sechs erfahrenen picadores und banderilleros, auf die sich selbst ein Matador wie Domingo auf Leben und Tod verlassen können musste, war ein leichtsinniger. Domingos Gegner wurde bereits zu Mittag ausgelost: ein ausgewachsener Bulle mit 630 Kilogramm Gewicht. Ein Tier, das zuvor noch nie im Kampf gewesen war, was essenziell für das Überleben eines jeden Matadors in der Arena war, schließlich sollte der Stier das Tuch und nicht den Mann, der es führte, als Aggressor verstehen. Dieser 236. Bulle, der sein bisheriges Leben auf einer zwanzig Hektar großen Ranch südlich


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