Die Sprachlosigkeit der Fische. Margit Mössmer

Die Sprachlosigkeit der Fische - Margit Mössmer


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zur Hüfte hinunterhängen und fasste ihre Taille damit ein.

      »You lost weight«, sagte er.

      »Lost?«, fragte Gerda.

      Er ging ins Lager, um die neuen Stoffe, die er gerade erst aus Bangladesch bekommen hatte, zu holen. Gerda schaute sich in der Zwischenzeit um. Staubig war es. Richtig verdreckt. In der Ecke unter der Schneiderpuppe saß Anoops Leguan. Er sah viel größer aus als sonst. Und warum konnte sie ihn hören? Die knackenden Geräusche, die er machte, weil er gerade einen Wurm verschlang?

      An der Garderobenstange, die von der Tür bis zum Verkaufstisch reichte, hingen fertige Kleidungsstücke zur Abholung. Gerda ging die Stange entlang, streifte mit ihren Fingern über die Anzüge, Kleider und Blusen. Mrs. D’Antal, Mr. Ryosuke Ho, Mrs. Brown … Anoop hatte jedes Kleidungsstück sorgfältig mit einem kleinen Zettel gekennzeichnet. Sie zog ihre Hand von Miss Deedles Leinenhose. Ihre Finger waren völlig verschleimt. Die Masse rann schneller als Wasser zu ihrem Ellbogen hinab. Sie warf einen Blick zu der zum Lager hin offen stehenden Tür. Eine Maschine hatte angefangen zu arbeiten. Taktaktaktaktak. Zu laut für eine Nähmaschine. Mit ihrer linken Hand griff sie nach einem roten Samtkleid. Das Namensschild fehlte. Es war ein klassisch geschnittenes Etuikleid, an den Rändern des Dekolletés mit dunkelblauer Baumwolle eingefasst.

      Wie von selbst legte sich der Stoff an Gerdas Haut, bewegte sich das Kleid über ihren Kopf, ihren Körper hinab. Sie blickte an sich herab, als sich der Saum am Dekolleté zu öffnen schien. Ihr Gesicht, dann ihr Kopf, dann ihr ganzer Körper wurden von einer angenehm mächtigen Sogwirkung in den Saum gezogen und verschlungen. Es war nun ganz dunkel. Nur in einer Ecke, vielleicht am Boden, sah sie verkümmerte, weinerlich schreiende Lipizzaner. Die Pferde waren dicht aneinandergedrängt, und über ihre strahlend weißen Körper flossen Blut und Eidotter. Sie gab einem der Ekel Zucker. Das Tier verschlang ihre Hand, und schließlich Gerda selbst.

      Gerda hörte dumpfe Stimmen und klapperndes Geschirr. Und jetzt sah sie auch wieder Licht. Das Pferd hatte sie ausgespuckt. Auf den Michaelerplatz, in den Gastgarten des Café Griensteidl. »Haben gnä’ Frau noch einen Wunsch?«, fragte der Kellner. Gerda nickte. Sie gefiel sich in der neuen Bluse und leerte ihre Melange darüber.

       in Bad Aussee

      Jedes zweite Jahr im November fuhr Gerda nach Bad Aussee, um das Grab ihrer ehemaligen Schulfreundin Edith zu besuchen. Edith war vor zwölf Jahren an einem Lebkuchenbrösel in der Altausseer Konditorei Zandler erstickt. Der Zandler war eigentlich für seine Steirische Nusstorte mit Cremefüllung berühmt, Edith aber hatte an jenem Tag im Frühling trockenen Lebkuchen bestellt. In ihrer Jugend hatte sie sich während eines Schulausfluges ins Salzkammergut in einen Altausseer Förster verliebt. Einen Mann mit Oberlippenbart und schmalem Gesicht, der stets in Tracht und mit Hut zu sehen war und der von gut dreizehn Jahren mehr Vergangenheit erzählen konnte als Edith. Dafür war Fritz Rauhnagel kurz nach ihrer Hochzeit bei Waldarbeiten tödlich verunglückt: Ein starker Westwind hatte dazu geführt, dass sich eine am Berg wachsende Fichte entwurzelte und wuchtig in Richtung Tal donnerte. An der Stelle, die der Baum rammte, löste sich ein Brocken vom Kalkfels, der nach seinem Weg hinab, auf dem er immer wieder gewaltig an den Berg stieß, nur noch als Kieselstein an der Bergsohle ankam und dort Hubert Rauhnagel, Fritzens Bruder, so am Kopf traf, dass er vor Schreck hastig um sich schlug und dabei vergaß, dass er eine Hacke in der Hand hielt. Fritz war neben ihm gestanden. Vom »Brudermord auf der Seewiesen« war die Rede im Ort.

      Gerda liebte die Seewiese vom Altausseer See. Weil hier an diesem »geografischen Mittelpunkt Österreichs« alles aussah wie in Kanada. Und Gerda liebte Kanada. Für die Seeumrundung hatte sie sich in einem kleinen Trachtengeschäft in Bad Aussee neue Stiefel gekauft. Sie stellten sich schnell als schick und praktisch heraus, ein Eindruck, den sie mit anderen zu teilen schien. Denn als sie gerade einmal eine halbe Stunde unterwegs war, erhob sich eine Frauengestalt im blassblauen Umhang aus dem Wasser, die von einem Licht umgeben war und ihre Hände gütig gebend ausbreitete. »Gib mir deine Schuhe«, sprach sie. Dabei rieselte Salz von ihren Lippen, klatschte laut ins ansonsten glatte Wasser. Die Salzkruste in ihrem Gesicht war so dick, dass man weder Augen noch Nase sehen konnte. »Deine Schuhe!«, wiederholte die Erscheinung Salz bröckelnd.

      Gerdas Weg führte vorbei am sparsam beleuchteten Seehotel, das Balkone aus der Fassade stöhnte, an verlassenen Fischerhütten, die einen frischen Anstrich hätten vertragen können, am Seerestaurant, das für diese Saison längst geschlossen hatte, über die Laichschonstation bis zur Jägerhütte auf der Seewiese, von wo aus sie den einmaligsten Blick über den See und auf den Loser (1838 m) hatte. Sie machte Rast auf der Veranda der Jägerhütte, wo sich die wenigen Gäste um die aufgestellten Heizstrahler gruppierten. Die Worte der Wanderer waren wenige und in einem Dialekt gewechselt, den Gerda nur mit Mühe verstehen konnte. Von Blättern war die Rede, die durch den plötzlichen Wintereinbruch an den Bäumen hängend erfroren waren, noch bevor sie überhaupt zu Boden fallen konnten. Zu sterben, ohne mit dem Leben fertig zu sein. Von Tieren, die irgendetwas spüren würden, sprach der Wirt. Vielleicht Neuschnee, oder etwas anderes. Jedenfalls würden sie mehr wissen als »wia aulle«.

      Gerda konzentrierte sich auf jedes Geräusch: die Worte des Wirtes, das Rutschen des Schnees, der noch am Dach liegen geblieben war, das Knacksen der Holzbank, das Surren der Heizstrahler. Kleine Geräusche wurden ganz groß. Wenn das jetzt ein Film wäre, dachte sie, würde in dieser Verdichtung bald etwas Großes passieren. Sie stellte die Teetasse ab, wünschte den übrigen Gästen einen guten Tag und bemühte sich, den Rundgang ohne ihre Schuhe zu beenden. Ein Förster hatte ihr auf halbem Weg angeboten, sie im Jeep mit in den Ort zu nehmen. Doch Gerda wusste bereits, dass Müßiggang aller Psychologie Anfang war, und ging weiter.

       in love

      Am 27. April hatte Gerda bei ihrem täglichen Weg vom Kindergarten in der Blackfriars Road zum Haus der Scotts in der Upper Thames Street den Künstler und späteren Knopfproduzenten Gilbert Rose kennengelernt. Gilbert nutzte seine freien Nachmittage, um am Ufer der Themse auf sich aufmerksam zu machen. Manchmal grub er tiefe Löcher in den Sand, die er mit alten, veralgten Fischernetzen bedeckte, oder er häufte Steine und Unrat zu großen Bergen, um diese dann mit roter und blauer Farbe zu begießen. An jenem Nachmittag hatte Gilbert gerade eine Unmenge an rostigen Schiffsteilen ans Ufer geschleppt, auf denen er wie selbstverständlich puren Punk in den Wind trommelte. Die Töne trafen die vorbeigehenden Menschen wie ein magischer Trank, der sie ganz vergessen ließ, wo sie ursprünglich hinwollten.

      Gerda hatte Gilberts Aktionen schon öfter gesehen. Immer wenn sie von Weitem eine manchmal kleine, manchmal größere Menschengruppe an der vom Ufer erhöhten Promenade sah, ließ sie die beiden Kinder ins Eisgeschäft laufen, um in einem Moment der Ruhe und im Schutz der umstehenden Menschen Gilbert zu beobachten, was sie auch diesmal tat.

      Emma D’Antal, das ältere der beiden Mädchen, konnte nicht wissen, dass sie Gerdas Leben bald in neue Bahnen lenken würde. Sie kehrte mit ihrer Schwester zum Ufer zurück und entdeckte ihr Kindermädchen beim Rauchen.

      »Don’t tell your mom and dad, hm?«, sagte Gerda, ohne den Blick von Gilbert abzuwenden. Sie sagte es wenig eindringlich, weil sie wusste, dass sie sich der Verschwiegenheit der Kinder sicher sein konnte.

      Zur selben Zeit war Gilbert bereits dabei, die Einzelteile seines Instrumentariums einzupacken und die Geldstücke, die die Leute vom Gehweg zu ihm hinunter in den Sand geworfen hatten, einzusammeln. Gerda, die im Haus der D’Antals zwar mit Essen versorgt wurde, deren Taschengeld aber selten für ein schönes Konzert in Chelsea oder einen bescheidenen Einkaufsbummel in Soho reichte, konnte und wollte nichts geben. Emma D’Antal aber verspürte den dringlichen Wunsch – sei es aus kindlicher Nächstenliebe oder aus Freude an der Schwerkraft –, etwas zu Gilbert hinunterzuwerfen. Sie griff in ihre Manteltasche und holte einen rosafarbenen Knopf heraus, den Gerda ihr schon vor Wochen an ihr Kleid hätte nähen sollen. Sie strich noch einmal mit ihren zarten Fingern über die glatte Oberfläche und warf den Knopf zwei Meter nach unten in den Sand. Es dauerte nicht lange, bis ihn Gilbert, der seinen Kopf auf den Boden gerichtet hielt, um bloß keine Münze zu übersehen, entdeckte. Er blickte nach oben und sah Gerda und die Kinder am Geländer stehen.


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