Die Sprachlosigkeit der Fische. Margit Mössmer

Die Sprachlosigkeit der Fische - Margit Mössmer


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Geschrei von den Rängen war Domingo so weit. Er fokussierte den muskulösen, nass geschwitzt-blutigen Nacken des Stiers und hob seinen Degen zum tödlichen Stoß an, als ein plötzlich aufkommender Wind das rote Tuch ungewollt in Bewegung brachte. Das Tier machte einen Schritt zurück, senkte seinen Kopf ein weiteres Mal und versetzte Domingo einen Schlag, der ihn weit über die Ränge des Stadions, über die Fassade der Arena und die Calle Alcalá bis zur Turmspitze der Iglesia de los Angeles wuchtete.

      Von da an verbrachte Domingo sein Leben im Kirchturm. Junge und alte Frauen brachten ihm Rosen oder Kuchen, legten die Gaben auf die Treppe, die zum Turm hinaufführte. Ältere Herren kamen, breiteten Tücher aus und drapierten Stierohren oder Stierschwänze darauf. Der große Torero nahm die Geschenke an. Doch den Kirchturm hat Domingo Valderrama nie wieder verlassen.

       in Scherben

      »Was sollte das jetzt?« Sie wollte eigentlich eher cool als panisch klingen, aber sie merkte, dass sie das »das« viel zu sehr betont und wahrscheinlich auch deutlich zu laut gesagt hatte, also strich sie sich mit Daumen und Mittelfinger die Haare rechts und links vom Scheitel nach hinten, um wieder lässig zu wirken.

      »Du wolltest mir nicht glauben«, blieb Rike bewegungslos am Tisch sitzen und kritzelte scheinbar unbewusst Kugelschreiberlinien auf einen zerknitterten Zettel. Gerda ging zum Fenster und blickte durch das ausgefranste Loch nach draußen. Sie konnte den Stein nicht entdecken, die Wohnung lag zu weit oben.

      »Was denn? Was wollte ich nicht glauben?«

      »Dass alles, einfach alles, was uns umgibt, für uns da ist, damit wir es benutzen.«

      »Benutzen?«

      »Benutzen.«

      »Aber du hast einen Stein durch dein Wohnzimmerfenster geworfen. Rike, es hätte jemand da unten gehen können!«

      Rike ließ den Stift fallen, stand mit einem starken Ruck auf, sodass der Holzsessel, auf dem sie gesessen hatte, auf das mattgraue Parkett knallte, und verließ die Wohnung.

      Gerda kam sich dumm vor. In dieser Wohnung, mit diesem Menschen, den sie nicht kannte und der, wie es schien, verrückter war, als sie angenommen hatte. Ihre Sturmfrisur, ihre zerknautschte Haut, das verdreckte blassrote Shirt und die komischen Hochwasserhosen hatte sie bei ihrer ersten Begegnung vier Stunden zuvor schon als Signale empfunden, als Signale für etwas anderes. Anders als ihre Frisur, ihr Shirt, ihre Hose und ihre Haut.

      Gerda mochte die Art, wie Rike ihre Schultern an der Sessellehne platzierte, so, dass ihre langen schlanken Arme tatenlos über dem Boden hingen. Und sie bewunderte ihr Lächeln, das eine Mischung aus bedingungsloser Nähe und ständiger Koketterie transportierte. Gerda meinte, in Rike eine Art Negativraum entdeckt zu haben. Etwas, das all das war, was sie selbst nicht war. Aber das? Steine aus geschlossenen Fenstern werfen? Das war eindeutig mehr als das, was sie nicht war.

      Sie schob die großen Bögen Papier und den Eimer Farbe zur Seite, um sich auf die geblümte, durchgesessene Couch fallen zu lassen. Sie überlegte, was sie hier zu suchen hatte, ob sie nicht besser einfach gehen sollte. Warum war sie hier? Wo war Rike jetzt hingelaufen? Sie prüfte jede Ecke des Zimmers, als wäre irgendwo zwischen der abblätternden Farbe an den Wänden, dem dumpfen Boden, den getürmten Spraydosen und den verbeulten Werkzeugkisten eine Antwort zu lesen.

      Ob sie sich von ihr malen lassen würde, hatte Rike sie im Park gefragt. Das hätte ihr doch schon merkwürdig vorkommen sollen. Aber Gerda hatte da diesen Negativraum im Kopf, wenn sie Rike ansah. Sie ließ sich ihre Bilder zeigen, die sie in einer großen schwarzen Mappe unter ihren Arm geklemmt hatte. Eine Seite der Mappe lag auf Rikes Schoß, die andere auf Gerdas. Das lederne Band, das die beiden Deckel zusammenhalten sollte, kitzelte ihren Schenkel. Rike sprach zu jedem ihrer Bilder zwar wenig, aber gut. Und dann, als das letzte Tuscheporträt gewendet worden war, gingen sie in Rikes Wohnung.

      Es machte einen lauten Knall, als Gerda in der Küche nach einem Besen suchte. Sie lief ins Wohnzimmer zurück, und da lag der Stein wieder auf dem Boden. Sie hob ihn auf und ging vorsichtig zum Fenster. Unter ihren Füßen knirschten die Scherben. Sie blickte hinunter auf die Straße und sah Rikes kupfrigen Haarschopf vom Gehsteig Richtung Haustür fliegen. Einen Moment später stand sie schnell atmend vor ihr.

      »Hast du das gesehen?«, band sie die verwirrten Haare zu einem riesigen Knödel ganz oben an ihrem Kopf. Gerda beachtete sie nicht, sondern rieb ihre Sohlen am Tischbein, um die Glassplitter abzustreifen. Sie strich über die raue Oberfläche des dunkelgrauen Klumpens in ihrer Hand und fragte sich, ob man solche Steine im Park finden konnte.

      »Ob du das gesehen hast?« Rike fasste sie etwas zu grob an der Schulter.

      »Ja.« Gerda hing noch an ihrer Berührung und musste kein »aber« aussprechen, damit Rike weiterredete: »Ich habe den Stein wieder zurückgeworfen! Erscheint dir das jetzt immer noch zerstörerisch? Habe ich jetzt nicht eine völlig andere Aussage erreicht? Eine Umkehrung mit Effekt, auch wenn der Effekt nicht die Umkehrung des ersten Effektes ist? Ist das nicht eine schöne Form von Gleichgewicht?«

      Gerda musste nachdenken. Sie bewegte den Stein in ihrer Hand auf und ab, als hätte sie so herausfinden können, wie schwer er war, und als wäre das in diesem Moment wichtig gewesen zu wissen. Rike hockte sich auf den Boden und schaute von unten durch das jetzt noch größere Loch ins Freie. Richtig gut sah sie aus, beim Denken über das, was gerade war. Andererseits, dachte Gerda, konnte das, was sie so gut aussehen ließ, auch Selbstverliebtheit sein.

      »Sinnloses Gleichgewicht ist das schönste Gleichgewicht.« Rike griff sich in den aufgeregt geröteten Nacken. »Das Loch hat mir eine neue Chance verschafft, Gerda.«

      Zum ersten Mal an diesem Nachmittag hörte Gerda sie ihren Namen sagen.

      Rike kramte in einer der metallenen Kisten unter dem Tisch und holte einen Fotoapparat heraus. Für einen Moment war sie ganz bei sich. Sie knirschte mit ihren abgefuckten Espadrilles über die Scherben zum Fenster, schaute nach oben, tastete die Mauer mit ihrem Handrücken ab und knirschte wieder zurück.

      »Brauchst du Hilfe?«, flüsterte Gerda so leise, dass sie es sicher nicht hören konnte. Natürlich brauchte sie Hilfe, dachte Gerda. Die hatte sie ja nicht mehr alle. Eine Frau, die Steine aus dem Fenster warf, um Argumente zu untermauern! Hätte Gerda das geahnt, hätte sie sie ganz sicher nicht gefragt, wo sie die Inspiration für ihre Bilder hernahm. Denn daraufhin hatte Rike von der Eroberung des Raumes gesprochen und den Stein durchs Fenster geworfen.

      »Okaaay …«, zog Gerda die As lang, um ihren Aufbruch zu signalisieren, und ihre neue Bekanntschaft bat sie zu bleiben.

      Am nächsten Tag stand Rike früh auf. Sie holte Frühstück und machte auf dem Rückweg schöne Fotos von hässlichen Fassaden. Als sie zurückkam, sah sie Gerda in der Unterhose in ihrem Wohnzimmer stehen, wie sie mit einem Vorschlaghammer gewaltig auf die Wand einschlug. Sie sah, wie Gerdas Haut auf den Fingern schon ganz aufgerissen war, wie ihr der staubige Schweiß an den Schläfen, zwischen den Brüsten und den Nacken hinunterfloss. Nach und nach holte Gerda Ziegel aus der Wand und stapelte sie sorgfältig neben sich auf den Boden.

      »Fuck, Gerda, was machst du da!?«

      Gerda schlug noch einmal gegen die Mauer, bevor sie sich in eine weißgraue Staubwolke gehüllt zu Rike umdrehte: »Ich besorg’ uns neue Steine.«

       in London

      Gerda hatte das West End schon immer verabscheut. Diese heuchlerische Gegend, die einem ein London vorspielt, das es nie gegeben hat, nie geben wird. Diese schicken Häuser von Notting Hill, deren rote, blaue, türkise Türen ja nur in die Bedeutungslosigkeit einladen. Darum hielt sich Gerda seit Jahren im Osten der Stadt auf. Authentizität, sagte sie sich, Authentizität. Zum Jahreszeitenwechsel ging sie zu Anoop Akhtar, dem Schneider. Anoop war nicht der beste Schneider in Whitechapel, aber er hatte die schönsten Stoffe. Gerda liebte deren Gerüche und Beschaffenheiten. Samt, Spitze, Besticktes, weich fließende Baumwolle oder Leinen.

      Anoops Geschäft lag am Ende der Brick Lane, in


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