Das letzte Jahr. Ilse Tielsch
geglüht und die schönen weißen Haare der Frau Bürgermeister waren rosarot. Einige Leute sind dann weiter über den Stadtplatz hinuntergelaufen, weil sie das Feuer aus der Nähe sehen wollten, und auch ich wollte losrennen, aber meine Mutter hat mich am Arm festgehalten und gesagt, daß man uns dort, wo es brennt, jetzt sicher nicht brauchen kann.
Dann aber hat der Herr Oberlehrer Wessely, der in der Nähe von uns gestanden ist, gesagt, daß das kein irdisches Feuer sein kann, das da brennt. Ein Nordlicht ist es, hat er gesagt, das kann nur ein Nordlicht sein, ein gewöhnliches Feuer ist das nicht, da müßten dort unten ja ganze Stadtteile in Flammen stehen.
Sehen Sie nur diese Farben, hat er gerufen, und es sind jetzt tatsächlich aus dem Rot hinter den Dächern noch gelbe und grünliche Strahlen hervorgeschossen und alles, die Hauswände, der Kirchturm, sogar die Steine am Stadtplatz, hat ausgeschaut wie in Blut getaucht.
Das hat jedenfalls die Frau Lehrerin Karwat gesagt, die immer so gute Vergleiche findet, und die Leute in ihrer Nähe haben genickt und ihr recht gegeben.
Von Blut ist dann auch in den folgenden Tagen häufig die Rede gewesen, als man dann sicher gewußt hat, daß es ein Nordlicht gewesen ist. Es hat nämlich irgendjemand behauptet, daß so eine Himmelserscheinung großes Unglück bedeutet, wie sich angeblich leicht feststellen läßt, wenn man sich in der Geschichte auskennt. Das hat sich sehr schnell in der Stadt herumgesprochen und die Leute in Angst versetzt. Manche haben gemeint, daß uns ein Krieg bevorsteht, und die Männer, die im Weltkrieg gewesen sind, haben sich daran erinnert, wie schrecklich das gewesen ist, was sie erlebt haben. Mehrere Wochen lang hat es in der Stadt kein anderes Gesprächsthema gegeben als das Nordlicht und ob es ein Zeichen dafür ist, daß ein großes Unglück auf uns zukommen wird. Wenn jemand behauptet hat, daß er das alles blödsinnig findet, wie zum Beispiel die Marschenka, hat man ihn nicht ernst genommen.
In den Zeitungen hat man lesen können, daß das Nordlicht nicht nur bei uns beobachtet worden ist und daß sich nicht nur unsere Feuerwehrleute mit ihrem Einsatz blamiert haben. In Brünn sollen zwanzig Feuerwehren ausgerückt sein. Brünn, hat mein Vater gesagt, ist eine große Stadt, wenn man dort an einen Großbrand gedacht hat, muß man sich bei uns für so einen Irrtum wirklich nicht schämen.
Angst, sagt er, brauchen wir keine zu haben. Daß uns ein Unglück bevorstehen soll, ist einfach lächerlich. Wer, hat er gesagt, sollte denn so wahnsinnig sein, einen neuen Krieg anzufangen? Der Krieg, den wir hinter uns haben, war schrecklich genug.
3
Jetzt haben wir schon Frühling und ich sitze auf einem Fensterbrett der Wohnung, in der ich mit meinen Eltern wohne, und schaue in unsere Gasse hinunter. Von dem Nordlicht wird in der Stadt nur noch selten gesprochen.
Während ich daran denke, kommt mein Cousin Albert mit einer Wasserkanne vom Stadtplatz herauf, sieht mich auf dem Fensterbrett sitzen und stellt seine Kanne ab, um ein bißchen zu rasten und mit mir zu reden. Er ist zwei Jahre älter als ich und sehr gescheit und weiß immer etwas Neues zu berichten.
Das Schwimmbad wird schon ausgelassen, sagt er zum Beispiel jetzt.
Es wird nämlich das alte Wasser vom vergangenen Jahr abgelassen und das Becken gereinigt, so daß man es anschließend mit frischem, sauberem Bachwasser anfüllen kann. Weil der Bach nicht sehr viel Wasser hat, wird es einige Wochen dauern, bis das Becken wieder voll sein wird. Das ist eine angenehme Neuigkeit, denn jetzt weiß ich, daß der Sommer nicht mehr weit ist und daß wir bald wieder viel Zeit im Schwimmbad verbringen können. Im Winter ist das Wasser zugefroren und wir laufen Schlittschuh auf der einen Hälfte der Eisfläche, die andere Hälfte bleibt für die Gastwirte, die sich das Eis in großen Blöcken für ihre Getränkekeller holen.
Manchmal wird auch ein Loch in das Eis gehackt und der Herr Oberlehrer Wessely steigt, nur mit der Badehose bekleidet, in das fürchterlich kalte Wasser, taucht dreimal kurz unter und kommt mit roter Brust und rotem Bauch wieder heraus. Das ist jedesmal ein Ereignis, wenn wir gerade mit unseren Schlittschuhen dort sind, schauen wir ihm dabei zu. Der Herr Oberlehrer Wessely ist Mitglied beim Verein »Verkühle dich täglich« und behauptet, das Eintauchen in das eiskalte Wasser ist sehr gesund, er hat deshalb niemals Schnupfen und der Verein, sagt er, hat viele Mitglieder, die alle so gesund sind wie er. In unserer Stadt hat er aber nur eines, nämlich ihn.
In der Kanne, die der Albert auf dem Gehsteig abgestellt hat, ist das Trinkwasser für seine Familie. Häufig wird nämlich das Holen des Trinkwassers bei uns den jüngeren männlichen Familienmitgliedern übertragen, weil die erwachsenen Männer keine Zeit dazu haben.
Unser Trinkwasser bringt uns die Frau Bittmann täglich zweimal ins Haus. Sie trägt es in einer Holzbutte auf dem Rücken, und während sie es aus der Butte in den großen Behälter leert, der in der Küche steht, erzählt sie der Marschenka, was sich in den anderen Familien, denen sie auch Trinkwasser bringt, oder in den Familien ihrer Nachbarn und Bekannten an Bemerkenswertem ereignet hat. Auf diese Weise, sagt meine Mutter, werden die neuesten Nachrichten in unserer Stadt verbreitet, ohne daß man Zeitungen lesen oder das Radio aufdrehen muß.
Daß wir keine Wasserleitung haben, macht uns nichts aus. Zum Waschen der Wäsche nehmen wir das weiche Wasser, das bei Regen über die Dächer rinnt, sich in den Dachrinnen sammelt und dann in daruntergestellte Tonnen oder Fässer fließt. Wenn man sich die Haare damit wäscht, werden sie besonders weich und glänzend, weil dieses Wasser weniger Kalk enthält als das aus den Hausbrunnen. In Wien rinnt das Regenwasser von den Dächern gleich in den Kanal. Meine Mutter hält das für eine arge Verschwendung, so weich kann das berühmte Wiener Leitungswasser gar nicht sein, sagt sie, daß man es mit dem Regenwasser vergleichen könnte.
Mein Cousin Albert teilt mir also mit, daß das Schwimmbad schon ausgelassen wird, und wir freuen uns beide sehr darüber. Das Schwimmbad ist eine ungeheuer wichtige Sache für uns Kinder, ein Sommer ohne Schwimmbad wäre gar kein Sommer für uns. Wann es eröffnet wird, werden wir vom Herrn Stadttrommler Fritschka erfahren, der für die Verbreitung der amtlichen Nachrichten verantwortlich ist. Er geht von Zeit zu Zeit in einer dunkelblauen Uniform durch die Stadt, bleibt an genau festgelegten Stellen stehen, zieht zwei hölzerne Trommelstöcke aus einer Schlaufe am Ledergurt, der quer über seine Brust gespannt ist und an dem die Trommel hängt, und schlägt damit einen perfekten Trommelwirbel. Er tut das so lang, bis er sicher sein kann, daß die meisten Leute, die in den umliegenden Häusern wohnen, die Fenster geöffnet haben oder vor die Haustür getreten sind. Ist das zu seiner Zufriedenheit geschehen, steckt er die Stöcke wieder in die Schlaufe zurück, zieht ein Papier aus der Tasche, entfaltet es, streicht es glatt und liest mit lauter Stimme vor, was die Stadtgemeinde den Bürgern mitzuteilen hat. Alle Mitteilungen beginnen so: Es wird kundgetan, daß.
Eine Entschuldigung dafür, daß man nicht hat hören können, was der Stadttrommler mitzuteilen hatte, gibt es nicht. Der Herr Fritschka ist also, wie jedermann einsehen wird, einer der wichtigsten Leute in unserer Stadt.
Es wird kundgetan, so wird er in ein paar Wochen mit lauter Stimme mitteilen, daß das Schwimmbad am kommenden Samstag eröffnet wird! Wir Kinder werden dann auch offiziell wissen, daß der Sommer angefangen hat, ich werde schon am Tag der Eröffnung meinen Badeanzug nehmen, auf mein Rad steigen und ins Schwimmbad fahren, so schnell ich nur kann.
Wir reden noch ein bißchen, dann nimmt Albert seine Kanne wieder und geht weiter, denn bei ihm zu Hause wartet man schon auf ihn.
Im selben Stockwerk, in dem unsere Wohnung liegt, ist übrigens die Städtische Bücherei, dort hole ich mir regelmäßig die Bücher, in denen ich noch unter der Bettdecke weiterlese, nachdem meine Mutter abends ins Zimmer gekommen ist und das Licht abgedreht hat. Die Taschenlampe zum Lesen borgt mir die Marschenka.
Die Marschenka ist schon achtzehn Jahre alt und aus Klein Tarowitz oder, wie die Tschechen sagen, Tarowitschky. Man erreicht diesen Ort mit dem Fahrrad in etwa fünfzehn Minuten, wenn man tüchtig in die Pedale tritt und unterwegs keine Pausen einlegt, um im Frühling unter die Akaziensträucher zu kriechen, die am Straßenrand wuchern, und die hellblauen und weißen Veilchen zu sammeln, die dort wachsen, oder um später Kirschen zu pflücken, oder noch später, im Sommer, um ein paar Pfirsiche oder Marillen von fremden