Das letzte Jahr. Ilse Tielsch
man kein Fahrrad hat und zu Fuß gehen muß, dauert es entsprechend länger, jedenfalls muß man sich rechts halten, wenn man unser Wohnhaus verläßt. Man geht oder fährt auf der Landstraße zwischen zwei Reihen von Kirschbäumen auf Klein Tarowitz oder Tarowitschky zu. Links steigen die Hügel zu den Weinbergen an, rechts ist das Land flach und in Feldstreifen unterteilt. Im Hintergrund sieht man das Bahnhofsgebäude der Lokalbahn, die man benützen muß, wenn man zum großen Bahnhof kommen will, der an der Hauptstrecke liegt.
Vor vielen Jahren haben sich die Bauern dagegen gewehrt, daß unsere Stadt direkt an der Hauptstrecke zu liegen kommt. Sie haben gemeint, daß der Wein und die Marillen und die Zwetschken vom Rauch der Lokomotiven vergiftet würden, und darum mußten die Eisenbahnschienen mehrere Kilometer weit von unserer Stadt entfernt verlegt werden. Zwischen diesen Eisenbahnschienen hat man den kleinen Schurl gefunden, damals war ich aber noch nicht geboren. Ganz allein ist er dort gesessen und hat dem Zug nachgeschaut, der ohne ihn nach Brünn weitergefahren ist, nie hat sich später jemand gemeldet, der ihn dort hingesetzt oder ihn dort vergessen hat.
Unsere Gemeinde hat den kleinen Buben dann als Waisenkind aufgenommen, und sie haben ihm den Namen Georg gegeben, aber alle haben ihn nur Schurl genannt. Schon als kleiner Bub hat er bei verschiedenen Bauern auf den Feldern helfen dürfen und sich so sein Essen verdient, und ein größerer Bauer hat ihm erlaubt, in einer Kammer neben dem Kuhstall zu schlafen. Leider hat sich herausgestellt, daß er nicht ganz richtig im Kopf ist, in die Schule hat man ihn also nicht schicken können. Lesen und Schreiben hätte er aber, so heißt es, ohnehin nie erlernt. Die Marschenka sagt aber, daß man das nicht so genau wissen kann.
Vielleicht, sagt die Marschenka, hätte der Schurl mit der Zeit besser denken gelernt, wenn sich jemand mit ihm nur ein bißchen abgegeben hätte, dazu hat aber niemand die Zeit gehabt. Jetzt, da er erwachsen ist, ist es dazu auf jeden Fall schon zu spät. Aber, sagt sie, ich soll mir keine Sorgen deswegen machen, dem Schurl geht nichts ab, er hat alles, was er braucht.
Weil also der große Bahnhof, auf dem die Züge halten, nicht direkt in unserer Stadt liegt, muß man, wenn man verreisen will, mit der Lokalbahn dorthin fahren.
Wir haben aber wenigstens diese Lokalbahn, in den umliegenden Dörfern wie Tarowitschky gibt es so etwas nicht. Wenn die Leute, die dort leben, verreisen wollen, müssen sie zu Fuß zum Bahnhof gehen oder mit dem Fahrrad oder mit dem Pferdewagen dorthin fahren.
In Tarowitschky sind die Häuser nicht so langweilig weiß oder gelblich gestrichen wie in den anderen Dörfern, sie sind rosarot oder himmelblau, und manche haben waschblau gefärbte Sockel. Typisch böhmisch, sagen die Leute, denn in diesen Häusern wohnen nur tschechisch sprechende Familien, und böhmisch bedeutet bei uns so viel wie tschechisch, obwohl die Leute hier ja gar keine Böhmen sondern Mährer sind. Das ist, wie jedermann zugeben wird, ein bißchen kompliziert, für mich ist es aber normal.
Ich bin mit dem Fahrrad immer nur bis zu den ersten Häusern von Tarowitschky gefahren, weiter hinein habe ich mich, weil ich dort ja niemanden kenne, nur mit der Marschenka getraut.
Öfter bin ich in Groß Tarowitz. Um dorthin zu kommen, wendet man sich, hat man unser Wohnhaus verlassen, nach links, saust, wenn man ein Fahrrad hat, über den steilen Stadtplatz hinunter, biegt, wenn man ohne einen Stern zu reißen und sich die Knie blutig zu schlagen am unteren Ende angekommen ist, scharf nach rechts und radelt dann, in noch beschleunigter Fahrt, am neu erbauten Tschechischen Gymnasium und am Schwimmbad vorbei, zwischen Kukuruz-, Rüben- und Getreidefeldern, hügelauf, hügelab, bis zur Abzweigung, die nach Groß Tarowitz führt. In diesem Dorf leben nur Deutsche, es hat keinen tschechischen Namen, ich habe jedenfalls nie einen gehört.
Groß Tarowitz ist zu Fuß in etwas mehr als einer dreiviertel Stunde zu erreichen, viele Kinder, die in die Hauptschule oder in die Realschule gehen, legen diese Strecke täglich zweimal zurück, weil es in Groß Tarowitz keine Hauptschule und keine Realschule gibt.
Ich muß, wenn ich nach Groß Tarowitz will, nicht zu Fuß gehen, da ich ja seit einigen Monaten ein Fahrrad besitze, meine Eltern haben es mir nach der Mandeloperation geschenkt.
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Die Mandeln haben sie mir im vergangenen Jahr in Wien herausoperiert. In Wien ist nämlich alles besser, darum haben meine Eltern gemeint, auch die Ärzte, die Kindern die Mandeln herausoperieren, müßten dort besser sein. In Wien ist überhaupt alles größer, vornehmer und herrlicher als bei uns, und wenn es auch keinen Kaiser mehr gibt, der das alles so groß, so vornehm und so herrlich gemacht hat, etwas von der kaiserlichen Herrlichkeit ist trotzdem geblieben.
Mehrere unserer Verwandten sind deshalb als junge Leute nach Wien gezogen, sie wollten es zu etwas bringen, und manchen ist das auch gelungen. Einige haben sogar eigene Häuser oder Wohnungen mit Badezimmer und Zentralheizung und einer von ihnen hat sogar ein Auto und dazu einen Chauffeur, mit diesem Auto und mit dem Chauffeur ist er schon bei uns gewesen und hat uns besucht. Während er mit meinen Eltern im Wohnzimmer gesessen ist und sich unterhalten hat, ist der Chauffeur im Auto geblieben, und wenn ihn die Marschenka nicht herausgeholt und ihm in der Küche einen Kaffee gekocht hätte, wäre er bis zum Abend brav dort sitzengeblieben.
Das war anständig von der Marschenka, sagt meine Mutter, ihr selbst ist es vor Aufregung über den unerwarteten Besuch nicht aufgefallen, daß der arme Chauffeur im Auto geblieben ist, und sie hat deshalb nachher ein schlechtes Gewissen gehabt. In der Küche ist er dann sehr lustig gewesen und hat sich mit der Marschenka gut unterhalten.
Die Marschenka, sagt meine Mutter, ist ein guter Mensch und das ist wahr, sonst würde sie mir nicht ihre Taschenlampe borgen. Sie hilft meiner Mutter im Haushalt, weil uns die Josefka, die früher bei uns gewesen ist, wegen dem Glasermeister Platzek, den sie geheiratet hat, verlassen hat.
Auch meine ziemlich junge Tante Rosi ist nach Wien gezogen, ihre Kindheit hat sie noch in einem kleinen Haus am Rand unserer Stadt verbracht. Wenn sie in den Ferien zu ihren Eltern auf Besuch kommt, spricht sie nur noch wienerisch, unseren Dialekt hat sie komplett verlernt, Tschechisch kann sie überhaupt nicht mehr verstehen, jedenfalls tut sie so, als könnte sie es nicht. Sie trägt auch an gewöhnlichen Wochentagen Stöckelschuhe, mit denen sie, wenn es regnet, nicht über die Wasserlacken steigen kann, riecht nach Kölnischwasser und rümpft die Nase, weil wir im Klosett keine Wasserspülung haben.
In Wien ist so etwas selbstverständlich, sagt die Tante Rosi, ein Leben ohne Wasserspülung auf dem Klosett kann sie sich nicht mehr vorstellen. Sie hat zwar kein Badezimmer und keine Zentralheizung in ihrer Wiener Wohnung, aber auf dem Gang vor ihrer Wohnungstür hat sie eine Wasserleitung, sie muß das Trinkwasser nicht vom Brunnen holen. Trotzdem kommt sie, vor allem im Sommer, gern wieder her. Zur Kirschenzeit holt sie sich Kirschen, später dann Marillen und Pfirsiche, im Herbst die blauen Zwetschken oder ein Glas von dem Powidl, den ihre Mutter im großen Kessel der Waschküche kocht und der zur Füllung von Backwaren aus Germteig, zum Beispiel von Buchteln, aber auch für Powidltascherin unbedingt notwendig ist. Sie schwärmt von ihrem Wiener Trinkwasser und sagt, eigentlich müßte man unser Wasser abkochen, ehe man es trinkt, auch wenn es aus dem Brunnen am unteren Stadtplatz kommt. In unserem Wasser, sagt die Tante Rosi, sind sicher unheimlich viele Bazillen, von denen man krank werden kann. Das haben wir ihr ziemlich übel genommen.
Du bist ja von unserem Wasser auch nicht krank geworden, hat meine Mutter gesagt, und deine Mutter hat es ganz sicher nicht abgekocht. Die Tante Rosi hat aber gemeint, daß sie nur deshalb nicht krank geworden ist, weil ihr Körper sich schon an die Bazillen gewöhnt hat. Und Glück, hat sie gesagt, ist sicherlich auch dabei gewesen. Meine Mutter hat ihr darauf keine Antwort mehr gegeben, aber später hat sie die Geschichte meinem Vater erzählt und die Tante Rosi eine dumme Urschel genannt.
Wien ist die Hauptstadt von Österreich und für uns wird das auch so bleiben, sagt mein Vater, auch wenn Österreich jetzt »Ostmark« heißt. Es sind dort nämlich im März die deutschen Soldaten vom Hitler einmarschiert und der Hitler hat gleich darauf den Namen geändert.
Die Ostmark gehört jetzt zum Deutschen Reich, das frühere Deutsche Reich wird von den früheren Österreichern, die jetzt Ostmärker geworden sind, aber auch von vielen Leuten in unserer Gegend, das