Das letzte Jahr. Ilse Tielsch

Das letzte Jahr - Ilse Tielsch


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sich alles kaufen, was sie sich wünschen, und das ist so, weil der Hitler alles verändert hat. Arbeitslose, wie sie in manchen Gegenden massenhaft vorkommen, gibt es dort nicht mehr. Bei uns sind sie ohnedies selten, weil die meisten Leute auf den Feldern arbeiten, sagt mein Vater, und weil auch die ärmsten Leute ein kleines Stück Feld haben, wo sie ihre Erdäpfel und ihr Gemüse anbauen können. Schlimm soll es vor allem dort sein, wo nicht viel wächst und wo viele Fabriken sind. Dort, sagt mein Vater, glauben sehr viele Leute alles, was man ihnen von diesem Hitler erzählt.

      Über das alles ist geredet worden, wie die Leute im vergangenen Herbst wie in jedem Jahr zusammengekommen sind, um die Blätter von den gelben oder roten Kukuruzkolben abzureißen, oder später im Winter beim Federnschleißen. Da liegen die Gänsefedern in Haufen auf den Küchentischen und die Frauen ziehen von den Kielen den weichen Flaum ab, womit man die Kopfpolster und Tuchenten füllt. Dabei wird besonders spannend erzählt und besonders ausführlich berichtet, es wird auch, weil es draußen so kalt ist, viel Glühwein getrunken und die Stimmung ist gut. Beim Lachen muß man sich allerdings sehr beherrschen, und wir Kinder müssen ganz still dabei sitzen, weil sonst, durch die Luftbewegung, die Federn in der ganzen Küche herumfliegen.

      Bei solchen Gelegenheiten werden auch interessante Geschichten erzählt, meistens Liebesgeschichten, von denen wir Kinder leider immer nur den Anfang zu hören bekommen, denn während sie erzählt werden, fällt regelmäßig jemandem ein, daß es schon spät ist und daß wir schlafen gehen müssen, und dann werden wir ins Bett geschickt.

      Mich könnten sie ruhig zuhören lassen, weil die Marschenka mir schon sehr viele aufregende Liebesgeschichten erzählt hat, die sie aus ihren Romanen kennt. Die meisten haben ein glückliches Ende, aber manche gehen unglücklich aus und ich muß dann, ehe ich einschlafe, lang über sie nachdenken. Solche Geschichten, sagt die Marschenka, sind zwar erfunden, aber sie kommen genau so auch im wirklichen Leben vor.

      Wenn man nichts liest, sagt die Marschenka, weiß man nichts von der Welt. Darin muß ich ihr wirklich rechtgeben, wenn ich den »Schatz im Silbersee« nicht gelesen hätte, wüßte ich nichts über Amerika und die Indianer.

      Auch das Radfahren hat mir die Marschenka beigebracht. Geduldig ist sie neben mir hergetrabt und hat mein Fahrrad am Sattel festgehalten, bis ich imstande gewesen bin, selbst das Gleichgewicht zu halten, und ihr davongefahren bin. Beim erstenmal ist das nicht sehr gut ausgegangen, weil ich zwar schon gewußt habe, wie man das Gleichgewicht auf dem Fahrrad hält, aber nicht, wie man stehenbleibt und absteigt, wenn das plötzlich notwendig ist.

      Damals sind mir auf der Straße mehrere Fußgänger entgegengekommen, die mich für eine bessere Radfahrerin gehalten haben, als ich zu diesem Zeitpunkt gewesen bin, deshalb sind sie mir auch nicht ausgewichen, weil sie gedacht haben, daß ich ihnen ausweichen oder stehenbleiben und vom Rad steigen würde. Ich habe aber in meinem Schreck auf den Rücktritt vergessen und mit der Handbremse zu scharf gebremst, bin der Länge nach auf die Straße gestürzt und habe mir beide Knie und auch beide Ellbogen blutig geschlagen. Meine Mutter hat mir Jodtinktur draufgegeben, es hat entsetzlich gebrannt, aber sie hat gemeint, ich soll mich nicht so aufspielen, das werden die besten Ellbogen und die besten Knie.

      Bis du heiratest, ist das alles gut, hat meine Mutter gesagt. Weil ich sie nicht unnötig aufregen wollte, habe ich ihr nicht geantwortet, daß ich ja gar nicht heiraten will.

      Ich bin später noch ein paarmal ganz schön hingeflogen, dann aber sind die Stürze seltener geworden und schließlich haben sie aufgehört. Jetzt kann ich nicht nur sehr schnell fahren und entgegenkommenden Leuten ausweichen, ich kann sogar freihändig fahren oder, wenn ich dazu Lust habe, besonders kräftig in die Pedale treten, damit Schwung holen und dann die ausgestreckten Beine rechts und links von der Lenkstange an den vorderen Kotflügel lehnen. Vielleicht kann ich meine Beine, wenn sie erst einmal länger geworden sind, sogar auf die Lenkstange legen und überhaupt mit der Zeit noch ein paar besondere Kunststücke lernen, etwa einen Kopfstand auf dem Sattel machen und dabei mit Bällen oder glitzernden Kugeln jonglieren oder Mundharmonika spielen und ähnliche Sachen. Damit könnte ich dann im Zirkus auftreten und dort das Geld verdienen, das ich zum Leben brauche. Diese Möglichkeit stelle ich mir jedenfalls vor.

      Daß meine Wiener Tante Hannelore Zirkuskünstlerin geworden ist, habe ich übrigens nur durch Zufall erfahren, meine Eltern haben mir nichts davon erzählt. Über meinen Plan, mich vielleicht für denselben Beruf zu entscheiden, sage ich aber nichts zu meiner Mutter, weil sie von meiner Zukunft wahrscheinlich andere Vorstellungen hat, wenn sie auch bis jetzt noch nie gesagt hat, daß ich vielleicht Handarbeitslehrerin oder Sparkassenbeamtin werden soll.

      Weil die Marschenka Heimweh nach Tarowitschky hat, sind wir, wie sie mir das Radfahren in den Grundbegriffen beigebracht hat, immer auf derselben Straße und immer in dieselbe Richtung gelaufen. Ich habe das Radfahren und nach mehreren Stürzen auch das Stehenbleiben und Absteigen, nebenbei aber auch viele tschechische Wörter und auch ganze Sätze auf der Landstraße nach Tarowitschky erlernt. Manche dieser Sätze haben mir meine Eltern aber, wenn ich sie beim Mittagessen gesagt habe, leider wieder verboten.

      5

      Eine meiner zwei besten Freundinnen ist die Alenka. Wir sind viel zusammen und sie sitzt in der Schule neben mir.

      Wenn die Marschenka und ich mit dem Fahrrad in Richtung Tarowitschky unterwegs sind, kommen wir immer an dem Haus vorbei, in dem die Alenka mit ihren Eltern und Geschwistern wohnt. Gleich nebenan ist das Deutsche Haus, in dem die Deutsch sprechenden Bewohner unserer Stadt ihre Feste feiern. Dort gibt es auch einen Gastbetrieb, wo sich die deutschen Familien an den Sonntagnachmittagen treffen. Die Damen haben sich dafür besonders schön gemacht, sind beim Friseur gewesen und haben sich die Lippen geschminkt, sie besprechen die neuesten Nachrichten und die Herren rauchen Zigarren und spielen das schwierige Kartenspiel Tarock.

      Der Narodný dum, in dem sich die Tschechen treffen, liegt in einer anderen Straße. Ob dort auch Karten gespielt und Geschichten erzählt werden, weiß ich nicht.

      Mein Vetter Albert wohnt in der Nähe des Deutschen Hauses. Sein Vater ist Hutmacher, das ist ein gutes Geschäft und er ist, weil er so schöne Männerhüte macht, ziemlich angesehen, denn für Männer gehört der Hut bei uns unbedingt zur kompletten Bekleidung. Vor gar nicht langer Zeit sind zu bestimmten feierlichen Gelegenheiten, vor allem natürlich in Wien, angeblich sogar noch Zylinder getragen worden.

      Auch für Damen gehört es zum guten Ton, sich bei festlichen Anlässen mit Hüten zu schmücken, für jedes Fronleichnamsfest braucht man zum Beispiel unbedingt eine neue, modische Kopfbedeckung. Diese Hüte fertigen mehrere Modistinnen nach der jeweiligen neuesten Mode und nach den speziellen Wünschen ihrer Kundinnen an, oder sie formen einen schon einmal bei einem entsprechenden Anlaß getragenen Hut nach der neuesten Mode um.

      Die Hüte für meine Mutter macht eine tschechische Modistin, die Frau Kabelka, die ein paar Gassen weiter ihre Werkstatt hat.

      Im vergangenen Winter bin ich übrigens bei einem Elternabend im Deutschen Haus erfolgreich in einem Theaterstück aufgetreten. Ich habe einen Rauchfangkehrer gespielt, der eine Bäckerin trifft, und wie ich der Bäckerin mit dem Ofenruß, den ich vorher auf meine Hände gestrichen hatte, die weiße Schürze schwarz gemacht habe, haben alle Leute im Saal, vor allem meine Verwandten, sehr gelacht. Ich habe kurze Zeit daran gedacht, daß ich vielleicht Schauspielerin werden und zum Theater gehen könnte, dann aber ist mir die Idee mit dem Zirkus doch lustiger vorgekommen.

      Weil Rauchfangkehrer früher angeblich Zylinder getragen haben, hat mir mein Großvater zu diesem Anlaß seinen geliehen und hat ihn mir vor Begeisterung über meinen Theatererfolg sogar schenken wollen. Es ist ein zusammenlegbarer Zylinder, er läßt sich zu einer Scheibe zusammenschieben und man kann ihn, wenn man ihn nicht auf dem Kopf tragen will, in die Tasche stecken. Einen Schapoklack, sagt er, nennt man das, das ist ein französisches Wort, denn die Franzosen haben diese praktische Kopfbedeckung erfunden. Weil mir der Schapoklack zu groß gewesen ist, hat man an der Innenseite einen zusammengerollten Papierstreifen eingelegt, damit ist es dann ganz gut gegangen.

      Ich habe dieses Geschenk meines Großvaters nicht annehmen wollen, weil ich nicht weiß, was ich, wenn ich nicht


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