Die Ahnungslosen. Wolfgang Popp

Die Ahnungslosen - Wolfgang Popp


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es einfach geschehen lasse. Ich bin verschwunden hinter dem Riesenfetzen und will, so lange es geht, unsichtbar bleiben. Als sie das Taschentuch wieder wegnimmt, sehe ich, die heult genauso wie ich – und da heult es sich dann noch leichter. Das ist wie mit dem Lachen. Wenn sie in den Fernsehserien das Gelächter des Publikums einblenden, lacht man mit, egal ob man die Szene gerade komisch findet oder nicht. Wir nehmen die Messer in die Hand, und ohne dass einer von uns auch nur ein Wort sagt, heulen wir den ganzen Zwiebelberg weg.

      »Deine Schwester könnte uns auch helfen«, sagt Martha und holt einen Sack Kartoffeln aus dem Küchenkasten. Ich lege das Messer hin und gehe zu Jolandas Zimmer. Leise drücke ich die Klinke herunter. Jolanda sitzt auf ihrem Bett. Sie hat rote Augen, heult aber nicht mehr, sondern starrt aus dem Fenster. Das soll also die Welt sein, sagt ihr Blick, und auch wenn ich nicht allein Schuld habe an ihrem Unglück, gehoben habe ich ihre Stimmung sicher nicht.

      »Sorry«, sage ich und wundere mich, wie leicht mir das fällt. Noch vor einer Stunde hätte ich mir lieber die Zunge abgebissen als mich bei meiner kleinen Schwester zu entschuldigen. Sie ist genauso überrascht und schaut mich an wie einen Fremden. Ich lächle als Zeichen, dass ich es ernst meine, und da springt sie mir in die Arme, so plötzlich und mit so einem Schwung, dass ich nach hinten kippe, und dann kugeln wir über den Boden und halten uns einfach nur, und als wir uns so drehen und festhalten dabei, ist es auf einmal, als würde die Welt endlich auch wieder beginnen, sich zu drehen und die ganze Kacke der letzten Zeit, ganz langsam zwar, aber doch, hinter dem Horizont verschwinden. Wir schauen uns an, und ich merke an ihren Augen, dass es ihr genauso geht wie mir. Dann stehen wir auf, und ich ziehe sie hinter mir her zu Martha in die Küche.

      Die Kartoffeln liegen da, zusammen mit zwei Schälern. Ich will mich gerade mit Jolanda ans Werk machen, da deutet Martha zum anderen Ende des Tisches, wo mein Handy liegt. Ich gehe hinüber und schaue auf das Display und keine Ahnung, warum sich Martha auch mit Handys auskennt, auf jeden Fall hat sie Laras Nummer eingegeben, und darunter blinkt der Cursor und wartet ungeduldig auf mein SMS.

      Was schreibt man einer Frau, die man gerade »Schlampe« genannt hat? Warum gibt es auch diese verdammten kurzen Schimpfwörter, die einem so leicht über die Lippen gehen? »Prostituierte« heißt genau das Gleiche, das hätte ich aber nie zu ihr gesagt.

      Eigentlich weiß ich gar nichts über Lara. Wenn Papa anfangen will, über sie zu erzählen, rausche ich sofort ab. Was will man auch wissen über eine, die unsere Familie zerstört hat?

      »Schlampe« ging trotzdem nicht. Schon allein, weil das aus Papa einen … lassen wir das. Liebe Lara! Ist nicht sehr kreativ, aber ein Anfang. Sie hat auch gar keinen schlechten Musikgeschmack. Besser als Papa jedenfalls. Als sie uns heute abgeholt haben, waren sich die beiden nicht einig, welchen Sender sie hören wollen. Wie gewöhnlich liefen Papas zum Abwinken langweilige Songwriter, aber Lara hat einfach weitergedrückt, bis wir bei einer wirklich coolen Hip-Hop-Nummer gelandet sind. Und dann hat sie mitgeshaked vorne am Beifahrersitz, aber nicht so peinlich wie Erwachsene, die auf jugendlich machen wollen, sondern echt locker. Trotzdem habe ich zu Papa gehalten und mich vorgebeugt und zurückgedrückt zu den vollbärtigen Schnarchnasen mit ihren Westerngitarren.

      Scheiße, was soll ich schreiben! Sorry ist zu wenig, von Sorry geht Schlampe nicht weg. Das ist, wie wenn man versucht, mit einem Radiergummi Kugelschreibertinte wegzubekommen. Die bleibt. Da reißt eher die Seite ein. Ich war vorher einfach nicht bei mir. Vielleicht schreib ich das einfach so. Liebe Lara! Ich war vorher nicht ganz bei mir. Hört sich scheiße an! Den Daumen auf die Löschtaste. Friss, Cursor, friss! Martha schaut nicht her. Die tuschelt mit Jolanda. Die beiden wüssten jetzt, was schreiben. Scheiße, wenn das ein Krach mit einem meiner Freunde wäre, würde ich einfach ein paar Emojis runterdrücken. Da gibt es so einen Heuler, dem die Tränen waagrecht aus den Augen schießen. Der bringt’s. Da ist alles drin, tut mir leid genauso wie war nur ein Scherz, damit das Ganze nicht so verjammert klingt. Verdammt, ohne diese blöden Emojis bin ich völlig aufgeschmissen. Sind doch praktisch. Einfach die richtige Fresse anklicken, und schon spart man sich eine Menge Herumgesülze. Ein Emoji sagt mehr als tausend Worte. Dafür gibt es sie ja.

      Ich schaue zu Martha, die gerade einen Riesenblock Fleisch bearbeitet. Sie schneidet und schneidet und plötzlich zwinkert sie mir komplizenhaft zu, so als wäre der Fleischblock mein Problem und sie dabei, mein Problem kleinzukriegen. Auf einmal ist alles ganz einfach, mit jedem Stück, das Martha absäbelt, tippe ich ein Wort und als der Fleischblock weg ist, drücke ich auf Senden.

      Dann brät sie die Zwiebeln an. Das riecht vielleicht gut. Lara hat das SMS vor zehn Minuten bekommen und noch nicht geantwortet. Scheiße, die ist noch immer sauer. Schlampe war einfach too much. Ist zwar ein kurzes Wort, hat aber eine Haltbarkeit wie eine verfickte Konservendose.

      »Hi!«

      Plötzlich steht Lara in der Tür. Weil die Zwiebeln so laut im Topf zischen, habe ich sie gar nicht gehört. Lara hat auch geheult, ich sehe es an ihren Augen. Ärger entdecke ich aber keinen, allerdings auch kein Ich-hab-dir-verziehen-und-alles-ist-gut-Lächeln wie in den Kinderserien kurz vor dem Abspann. Lara deutet stumm mit dem Kopf Richtung Wohnzimmer, und ich folge ihr. Sie setzt sich auf die Couch, und ich setze mich neben sie, aber mit Sicherheitsabstand. Eine Berührung wäre mir aber zu viel, nur nicht jetzt auf Mutter spielen. Sie scheint das zu kapieren und versucht gar nicht, zu mir herüberzugreifen. »Als du mir heute im Auto den Hip-Hop abgedreht hast und auf die sterbenslangweiligen Gitarrenfuzzis zurückgegangen bist«, sagt Lara, »da sind wir doch kurz bei dem Oldie-Sender hängen geblieben, wo sie diese furchtbare Kitsch-Nummer gespielt haben. Things can only get better. Ein Scheiß-Song, und ich kenne zum Glück nicht einmal die Band, aber als Motto für uns beide ist der Titel vielleicht gar nicht so schlecht.«

      Papa kann es nicht glauben, als er nach Hause kommt und uns zusammen in der Küche findet. Nicht nur, dass ich mich freiwillig mit Lara im selben Raum aufhalte, wir reden auch normal miteinander. Papa steht mit offenem Mund in der Tür, und man spürt richtig, wie gut ihm das tut, uns so zu sehen. Lara wird Papa auch nichts von der Schlampe erzählen. Das hat sie mir versprochen, noch bevor ich sie darum bitten konnte.

      Beim Essen sitzen wir zum ersten Mal alle beisammen. Papa und Lara haben auch darauf bestanden, dass Martha dableibt. Sie strahlen sie an, als wäre sie eine Heilige. Ist sie ja auch. Obwohl … Heilige …, ich weiß nicht, dafür ist sie mir fast zu unheimlich. Eher so etwas wie eine gute Hexe. Martha hat früher bei Flo gearbeitet, Papas bestem Freund, da muss aber vor kurzem etwas gewesen sein, anscheinend kommen sie gerade darauf zu sprechen.

      »Wie ist das mit dem Schiff passiert, Martha?«, fragt Lara.

      »Was?« Martha schaut, als hätte sie keinen Dunst, worum es geht.

      »Das Schiff«, sagt Lara, »das Ihnen auf den Boden gefallen ist.«

      »Mir ist kein Schiff runtergefallen«, sagt Martha.

      »Warum haben Flo und Dio Ihnen dann gekündigt?«, fragt Papa.

      Und da erzählt Martha, dass Dio gesagt hätte, es wäre wegen der Schwarzanstellung und dass sie Angst hätten deswegen und jetzt offiziell eine Reinigungsfirma engagieren würden. Für mich klingt das nicht weiter seltsam, aber Papa und Lara sehen sich an, als würden sie die Welt nicht verstehen.

      Gastauftritt im Bademantel

      Als sie lange nach Mitternacht auf dem kleinen Balkon ihrer Wohnung saß und in den Hinterhof mit ihrem rostigen Fahrrad hinuntersah, dachte Zora Gast, wie seltsam, dass sie in den letzten zwei Wochen auch nichts anderes getan hatte als die Jahre davor und doch alles anders geworden war. Ein großes Theater wollte sie engagieren, nicht nur für ein Stück, sondern als fixes Ensemblemitglied, eine Agentur wollte sie unter Vertrag nehmen, und vor zwanzig Minuten war sie von einer Lesung heimgekommen, die ihr mehr eingebracht hatte als früher ein ganzer Monat Kellertheaterspielen.

      Fred tauchte mit einer Flasche Rotwein und zwei Gläsern hinter ihr auf. Er schenkte ein und sie stießen an.

      »Auf Zora Gast«, sagte er und nahm einen langen Schluck, und sie sah ihm zu, wie er da war und doch wieder nicht.


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