Die Ahnungslosen. Wolfgang Popp

Die Ahnungslosen - Wolfgang Popp


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Land groß genug, dass es dahinter weitergeht. Eigentlich sollte ja ein künstlicher Horizont vor Manhattan im Meer stehen und nicht die Freiheitsstatue. Eine Skulptur des Horizonts vor dem Horizont.

      Im Leben eines Tellerwäschers schiebt sich übrigens ein Horizont voller Speisereste vor den Silberstreifen hoch über deinem Kopf. Und auf der anderen Seite endet deine Welt bei der schreienden Stimme deines Bosses.

      Und trotzdem hat jeder amerikanische Musiker, der auf sich hält, einmal als Tellerwäscher gearbeitet und in dieser Zeit geniale Songs geschrieben. Zumindest steht das in jeder Musiker-Biografie, die mit A wie Amerika beginnt. Deshalb war ich anfangs auch geduldig und dachte bei den Rauchschwaden in der Küche an den Morgendunst über der San Francisco Bay, und die Erzählungen der Illegalen, die neben mir Teller schrubbten, hörten sich an wie die heiseren Weisheiten der staubigen Straßen. Und was brauchst du mehr als den Glauben an die Landschaft und das Gesetz der Straße, um den perfekten Song zu schreiben. Das dachte ich damals zumindest.

      Was dir keiner sagt, was du aber ziemlich schnell merkst: Weil du die ganze Zeit über nasse Finger hast, kannst du deine besten Ideen gar nicht aufschreiben, und dass dir die Seifenlauge die Hornhaut an den Fingerkuppen aufweicht, ist nicht gerade angenehm beim Gitarrespielen. Meinen ersten Song habe ich geschrieben, eine Woche nachdem ich meinen Job als Tellerwäscher hingeschmissen habe.

      Ich kenne hier keinen mehr und weiß noch nicht, wie ich das ändern kann. Tim anrufen? Dem ich vielleicht auch noch recht geben muss, weil er damals gekniffen hat und hiergeblieben ist. So weit ist es mit mir noch nicht.

      Die letzte Stunde habe ich mir immer wieder eingebildet, dass mein Telefon in der Hosentasche vibriert. Ich habe es jedes Mal herausgezogen, aber da war natürlich nichts. Kein Anruf und auch kein SMS. Kann ja auch gar nicht sein. Es gibt ja niemanden, der weiß, dass ich hier bin, und keinen, der diese Nummer hat. Aber was schert sich die Hoffnung darum, was möglich ist und was nicht.

      Natürlich könnte da jemand sein, genauso allein wie ich gerade, der einfach eine bestimmte Zahlenfolge in sein Telefon tippt, und gleich darauf klingelt es bei mir.

      Also, interessieren würde es mich schon, wer abhebt, wenn ich mein Geburtsdatum wähle.

      Eine Zeit lang habe ich in Portland, Oregon gelebt. Da gab es einen Songwriter, Künstlername Earl Darkgrey, genauso wie der Tee, nur dunkel, mit dem habe ich gespielt. Sein ganzes Gesicht war Bart, und der hat, neben viel Stuss, einmal auch etwas sehr Schönes gesagt. Als wir einmal übers Songschreiben geredet haben, hat er gemeint, dass die Wörter in Gruppen zusammenstehen, während sie darauf warten, dass sie dir einfallen, und dass, wenn du ein Wort denkst, sich die anderen ungefragt anhängen. Und weil Wörter ganz schön fest aneinanderkleben können, braucht es eine gehörige Kraft, um sie zu trennen und nur das zu sagen, was man auch wirklich sagen will. Und das ist der Grund, warum das Songschreiben so anstrengend ist.

      Earl Darkgrey ist anschließend aufs Klo gegangen und wie immer eine Ewigkeit dort geblieben. Ich habe ja die Vermutung gehabt, dass ihm viele seiner Songs beim Scheißen eingefallen sind. Mir hat das Bild gut gefallen, wie er dasitzt mit heruntergelassenen Hosen, ein Blatt Klopapier auf dem nackten Oberschenkel, und versucht, mit einem abgekauten Kugelschreiber die Wörter zuerst auseinander- und danach wieder zusammenzubekommen. Und wie dabei immer wieder das Papier reißt und der Stift blaue Fahrer auf seinem Oberschenkel hinterlässt. Als er an dem Abend zwanzig Minuten später mit rotem Kopf zurückgekommen ist, hat er mir jedenfalls mit einem irren Blick tief in die Augen geschaut, fast so, als hätte er am Klo gerade eine kleine Teilerleuchtung erfahren, und gesagt: »Alles kommt auf den letzten Satz an. Viele glauben, dass der wie eine ins Schloss fallende Tür sein muss. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Der letzte Satz«, hat er gesagt, so geladen, als hätte er gerade mit ihm gekämpft, »darf nicht wie eine Tür sein, die ins Schloss fällt, sondern muss wie ein Fuß sein, der sich im letzten Moment in die zufallende Tür stellt, verstehst du«, und dabei hat er mir mit dem Finger an die Schulter getippt, als wollte er mir seine Weisheit unter die Haut drücken. Das war ein Moment, in dem ich viel dafür gegeben hätte zu sehen, ob sein Oberschenkel voller blauer Fahrer war.

      Und ein anderes Mal, als wir in seinem Wagen zu einem mies bezahlten Auftritt dreihundert Meilen Richtung Süden fuhren, meinte Earl Darkgrey, dass er das gerne im Alltag könnte, in Songs zu sprechen, also mit den Menschen zu reden, als würde er singen.

      Bevor ich anfange, ihn so richtig zu vermissen, lege ich die Gedanken an Earl Darkgrey lieber zur Seite und nehme stattdessen mein Handy zur Hand. Was habe ich zu verlieren? Nichts. Außerdem: Will nicht jeder wissen, wer abhebt, wenn man sein Geburtsdatum wählt? Es läutet einmal, ein zweites Mal, dann meldet sich eine Frau, sagt ihren Namen aber so schnell, dass ich ihn nicht verstehe. Was sie noch sagt und was ich verstehe, ist »Papier- und Schreibwaren«. Ich hole einmal tief Luft und frage sie, wie man am besten zu ihrem Laden kommt.

      Ich ziehe die schwarze Hose an, die zwischen der Aufstrichkonserve und der von Tom Waits bekritzelten Serviette im Vorzimmer liegt, und das Joni-Mitchell-T-Shirt, das ich zwischen dem Gitarrenkoffer und dem einzigen Gegenstand finde, der mir je auf der Bühne zugeworfen wurde, einer Papierblume, die aussieht wie selbstgemacht. Sie kam aus dem Nirgendwo angeflogen, ich habe nicht gesehen, wer sie geworfen hat, würde aber eher mein letztes Paar Schuhe hergeben als diese Rose, die mehr ist als eine Rose, ganz egal, was eine einmal behauptet hat und andere seit damals wiederholen.

      Mit der S-Bahn zwölf Minuten, zu Fuß eine Dreiviertelstunde, sagt Google. Ich gehe zu Fuß, spare das Geld für das Ticket und finde unterwegs vielleicht ein Lokal, in dem ich auftreten kann.

      Ein Citroën DS. Mit so einem ist Belmondo gefahren in – verdammt, ich weiß den Film nicht mehr. Aber ich bin auf einmal froh, wieder in Europa zu sein. Das Gleiche ist mir in Amerika auch passiert. Als ich angekommen bin, fühlte ich mich zuerst verloren, dann ist ein wirklich alter Chevy die Straße herunterkommen, und plötzlich war das Heimweh weg. Das sind einfach Kühlerhauben, darunter hat ein ganzer Kontinent Platz.

      Keine schlechte Gegend, ein Lokal nach dem anderen, und zumindest drei sehen aus, als könnten sie mit meiner Musik etwas anfangen. Mein Favorit heißt Drei Giraffen. Dort schaue ich heute Abend auf jeden Fall vorbei. Schon allein, weil ich wissen will, was es mit dem Namen auf sich hat.

      Da vorne ist der Laden. Schön, die alte Schrift über dem Eingang. Eine Frau steht hinter der Kasse und unterhält sich mit einem Kunden. Sie sieht älter aus als ich, nicht viel, ist vielleicht Ende dreißig. Ich könnte nach einem Notizbuch fragen. Mein altes ist ohnehin fast voll. Neues Leben, neues Notizbuch. Gerade will ich hineingehen, da sehe ich den Zettel im Schaufenster. Verkäufer gesucht.

      »Bin gleich bei Ihnen«, ruft sie, als ich den Laden betrete und die Tür hinter mir mit einem freundlichen »Bleib hier« satt ins Schloss fällt.

      Über das Regal hinweg beobachte ich, wie sie dem Kunden seine Papierbögen zusammenrollt. Sie hat geschickte Finger, bestimmt spielt sie ein Instrument. Der Mann zahlt und geht, und sie kommt herüber zu mir.

      »Und? Fündig geworden?«

      »Ja«, sage ich und halte ihr das erstbeste Notizbuch hin.

      »Gute Wahl«, sagt sie, als ich ihr zur Kasse folge, und ich weiß nicht, ob ich sie einfach so sympathisch finde oder weil sie mein Geburtsdatum als Telefonnummer hat.

      Ich zahle und bleibe stehen.

      »Der Zettel im Schaufenster«, sage ich, und sie schaut mich fragend an.

      »Der Job«, setze ich nach.

      »Ah«, sagt sie, und ein unentschlossener Moment huscht über ihr Gesicht, in dem ich mich von einem Kunden in einen möglichen zukünftigen Angestellten verwandle. Ihr Blick bekommt etwas Prüfendes und drängt mich, etwas zu sagen.

      »Ich mag Papier«, höre ich mich und versinke, als ich mich höre, im Boden.

      »Ist das so«, sagt sie und genießt meine Nervosität, weil sie damit wieder die Oberhand hat in unserem Gespräch.

      »Und was haben Sie bisher so gemacht?«

      »Ich war in Amerika«, sage ich und schwöre mir im selben Moment,


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