Die Ahnungslosen. Wolfgang Popp

Die Ahnungslosen - Wolfgang Popp


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es zu kribbeln und ich erinnerte mich an Buntstifte und Blumenwiesen, an zitronengelbe Sonnenstrahlen und Prinzessinnen in langen Kleidern. Im Kurs nahm das Kribbeln in den Fingern noch zu, und dann noch einmal, als mir Walt, unser Lehrer, die Hand führte.

      Wir treffen uns immer in seiner Wohnung, die gleichzeitig auch sein Atelier ist. Allein die Atmosphäre dort: die Leinwände, die an der Wand lehnen, der Geruch der Ölfarben und die struppigen Pinsel in den alten Marmeladegläsern. Besonders erfolgreich ist er nicht, aber selbst das finde ich speziell, wie er trotzdem weitermacht mit der Kunst. Ich könnte so nicht leben, aber ein Ausflug in diese Welt ist wie ein Abenteuerurlaub. Außerdem mag ich Sex am Morgen. Ich gehe dann ganz anders in den Tag. Viel euphorischer als sonst, angepisst von nichts, neugierig auf alles. Mit Flo kann ich nur abends schlafen, weil Mia am Morgen in die Schule muss. Allzu viel ist bei uns also allzu oft nicht los.

      Bei Walt kommt dazu, dass er im Bett so ganz anders ist, wobei ich jetzt gar nicht genau sagen könnte wie. Es ist nicht so, dass er ungewöhnliche Spielchen vorschlagen oder Handschellen aus der Nachttischschublade ziehen würde, nein, es ist eher die Art, wie er mich berührt oder eher noch, wo er mich wann berührt: Seine Finger sind jedenfalls nie dort, wo ich sie gerade erwarte.

      Mir ist es jetzt auch schon ein paar Mal passiert, dass ich mich vor dem Sex beim Blick auf eines von Walts Bildern gefragt habe, was das sein soll, und als ich danach auf dem Weg ins Bad wieder daran vorbeigekommen bin, plötzlich etwas erkannt habe. Ich sehe das schon als ein Zeichen dafür, dass diese Affäre gut für meine persönliche Entwicklung ist.

      Seinen Künstlernamen Walt finde ich übrigens ziemlich peinlich, auf den legt er aber großen Wert. Einmal habe ich mittendrin aus Versehen Walter zu ihm gesagt, und da ist ihm alles eingeschlafen und er ist hinausgegangen auf seinen winzigen Balkon und hat dort eine geraucht, während ich dagelegen bin und nicht gewusst habe, wie mir geschieht.

      Ich hatte einen tollen Job, bis ich schwanger wurde. Sekretärin bei einer japanischen Firma. Habe ihre Wien-Niederlassung quasi im Alleingang gemanagt. Von den Japanern konnte ja keiner Deutsch, und ihr Englisch hat außer mir kaum jemand verstanden. Auf jeden Fall ist die Firma während meiner Karenz pleitegegangen, und ein gleichwertiger Job war nicht mehr zu finden. Dass ich einfach irgendetwas mache, ist nicht infrage gekommen, da waren Flo und ich uns einig, und dass ich jetzt daheim bin und er sich um nichts kümmern muss, ist ihm auch ganz angenehm, kommt mir vor. Weil ja auch immer etwas zu tun ist: Anfangs überhaupt, als Mia noch klein war. Da habe ich mir eingebildet, ich muss nebenher auch noch die Wohnung neu einrichten. Als Mia in die Schule kam, ging es dann leichter. Endlich wieder Zeit für mich, Joggen, Yoga, Bauch-Beine-Po. War ein hartes Stück Arbeit, bis ich wieder ausgesehen habe wie vor der Schwangerschaft. Danach habe ich alles Mögliche ausprobiert, ein halbes Jahr Interior Design, einen zweiwöchigen Kochkurs, Fusion-Kitchen zwischen Thailand und Orient und dann endlich die Idee mit dem Zeichnen. Kunst war ja eigentlich schon immer meins, keine Ahnung, warum ich da nicht früher draufgekommen bin. Als ob man die Dinge, die einem wirklich wichtig sind, so gut in sich verstecken würde, dass man sie irgendwann nicht mehr wiederfindet. Der Zeichenkurs hat mir jedenfalls eine Tür geöffnet: Ich gehe jetzt in Ausstellungen, kaufe mir Bildbände und bin viel ausgeglichener. Und mit Flo läuft es auch gut. Mir kommt es vor, als wirkte ich wieder mehr auf ihn. Richtig verliebt sieht er mich manchmal an, so wie damals, als wir uns kennengelernt haben. Deshalb hält sich mein schlechtes Gewissen auch in Grenzen.

      Und dann der letzte Mittwoch: Gleich beim Reinkommen hat mich Martha zweimal angesehen. Das erste Mal, ganz wie immer, begleitet von ihrem freundlich gerollten und entspannt langgezogenen »Grüß Sie Gott, Frau Dio«, dann aber gleich noch einmal, als hätte sie in meinem Gesicht etwas entdeckt. Und Marthas Blick ist einer, der nicht auf deiner Haut endet, sondern Röntgenstrahlen aussendet, die dich durchleuchten. Wie immer, wenn ich nervös bin, habe ich begonnen, mir mit den Fingern über mein Muttermal am Hals zu fahren, und da beginnt Martha auch noch so wissend mit dem Kopf zu nicken. Und später, als ausnahmsweise einmal mir ein Glas zerbrochen ist, hat sie beim Aufkehren irgendetwas in sich hineingemurmelt. An dem Abend habe ich mit Flo geschlafen und mich anschließend in seine Armbeuge gekuschelt.

      »Martha wird mir in letzter Zeit unheimlich«, habe ich zu ihm gesagt, und er hat mich mit verschlafener Stimme gefragt, was ich meine.

      »Als würde irgendetwas nicht stimmen mit ihr«, habe ich gesagt.

      »Wir wissen, dass etwas mit ihr nicht stimmt, deshalb mögen wir sie ja so«, hat Flo nur gemeint, ich habe aber nicht locker gelassen.

      »Langsam bekomme ich Angst vor ihr«, habe ich gesagt und tief Atem geholt, »und deshalb denke ich, wir sollten mal über eine andere Putzfrau nachdenken.«

      Da hat sich Flo plötzlich aufgerichtet und mich groß angesehen.

      »Bist du verrückt? Was sollen wir ohne Martha?«

      »Es geht hier nicht um eine alte Freundin«, habe ich gleich zurückgeblafft, »sondern um unsere Putzfrau.«

      »Martha ist für uns wie eine alte Freundin«, hat Flo daraufhin gemeint, »sie hat Mias Warzen weggezaubert, sie ist eine treue Seele, ehrlich, verlässlich, gründlich, keine Ahnung, wie du auch nur auf die Idee kommen kannst, Martha vor die Tür zu setzen.« Und damit hat er sich umgedreht und geschlafen.

      Es gibt eine Sache, die Flo heilig ist und der niemand zu nah kommen darf. Ein Modell der Santa Maria. Das war das Schiff, mit dem Kolumbus Amerika entdeckt hat. Es steht bei uns im Regal. Flos Großvater hat es aus Streichhölzern gebaut. Flo hat seinen Großvater abgöttisch geliebt. Weil seine Eltern wenig Zeit hatten, ist Flo bei ihm aufgewachsen. Bis heute spricht er von ihm wie von einem Heiligen, und das Schiff staubt er jeden Abend eigenhändig ab. Leicht ist es mir nicht gefallen, aber nachdem Martha heute gegangen ist, ist es passiert.

      Drei Giraffen

      Das glaubst du vorher nicht. Dass dir das Meer einmal zu viel wird. Dass dich das ununterbrochene Heranrollen der Wellen, das dauernde Rauschen der Brandung auch einmal fertigmachen kann. Du stehst bis zu den Knöcheln in der schaumigen Gischt und denkst dir, komm doch mal zur Ruhe! Lass nur eine einzige Welle aus! Schreist es auch laut in die salzige Luft hinaus, weil dich bei dem Lärm, den die Brandung fortwährend macht, ohnehin keiner hören kann. Jetzt rauscht die S-Bahn vor dem Fenster – auch nicht das Gelbe vom Ei. Aber egal. Home is … wo man trotzdem lacht.

      Andere ziehen mit Dutzenden Kisten um. Da ist die Wohnung voll, bevor sie beginnen, ihre Sachen auszupacken. Bei mir? Zwei Koffer, und einer davon ist die Gitarre. Heute früh habe ich mir den Spaß gemacht, alles, was ich besitze, in einer Reihe aufzustellen. Bei der Wohnungstür habe ich angefangen. Und bin nicht einmal bis zum Fenster gekommen.

      Dann habe ich meine Gitarre aus dem Koffer genommen. Den leeren Koffer hingelegt und danach die Gitarre. So ist es sich ausgegangen bis zum Fenster. Die Gitarre hat ausgesehen, als würde sie ihren Hals Richtung Himmel recken. Sie vermisst die kalifornische Sonne. Ich bin gespannt, wann es bei mir so weit ist. Wann ich bereue, zurückgekommen zu sein.

      34 Jahre alt, das Studium abgebrochen, die letzten zehn Jahre in Übersee, U.S.A. und Kanada. Und in dieser Zeit 218 Songs geschrieben. 21,8 Songs pro Jahr, 1,8 Songs im Monat, ungefähr einen halben Song pro Woche. Alle sieben Tage eine Strophe, alle vierzehn Tage einen Refrain. Das ist mein Problem: Dass ich für meine Art zu leben zu gut rechnen kann. Mein Geld reicht noch bis Monatsende.

      Was mache ich hier?

      Was würde ich dort machen?

      Als ich in Kalifornien angekommen bin, habe ich nicht einen Augenblick lang überlegt. Weil im Evangelium nach Uncle Sam klipp und klar steht, dass wer ganz nach oben will, ganz unten anfangen muss. Und da gibt es schließlich nur einen einzigen Job.

      Ich habe also Teller gewaschen. In einer Küche ohne richtige Fenster, nur eine Luke gab es, knapp unter der Decke, die sich kippen ließ, mit Blick auf gerade einmal eine Handbreit Himmel.

      There is a heaven for everyone.

      Wer den ganzen Tag nur einen schmalen Streifen Horizont sieht, lernt ihn zu schätzen. Und auf den Horizont kommt


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