Die Ahnungslosen. Wolfgang Popp
seiner Tasche oder griff nach seinem Handy. Es war, als würden alle gemeinsam die Luft anhalten – und mit der Luft auch die Zeit.
»Bis neunundneunzig«, hatte der Regisseur gesagt, und Zora zählte stumm ins Schwarz, ließ sich nicht hetzen von der Stille, türmte die Ziffern langsam auf, freute sich, wie der Turm aus Zeit vor ihr wuchs … siebenundneunzig, achtundneunzig, neunundneunzig. Mit einem Knall, den nur sie hörte, stürzte der Zahlenturm in sich zusammen, und Zora begann:
Lötsch gibt an, beim Aufwachen das Gefühl zu haben, vom Tag hämisch angegrinst zu werden. So als würde der Tag ihm nicht das Geringste zutrauen.
Beim Wort angegrinst ging der Spot auf Zora an. Sie trug einen weißen Arztkittel und sprach in ein Diktaphon:
Das sei auch der Grund, so Lötsch weiter, warum er oft den ganzen Tag sein Bett nicht verlasse.
Zora zündete sich eine Zigarette an. Als sie den Rauch langsam Richtung Decke blies, die Kringel tanzten um ihre Gedanken im Licht des Spots, kam aus dem Dunkel plötzlich die Stimme eines Mannes:
Wenn der Tag mich nicht will, ich kann warten.
Nikolaus Kramer war eigentlich Filmregisseur, von der Kritik geschätzt, an den Kinokassen aber nur mäßig erfolgreich. Jetzt inszenierte er erstmals am Theater. Für sein Stück Der Tag beginnt um Mitternacht hatte er monatelang in Psychiatrien recherchiert: Vierundzwanzig Stunden im Leben eines Borderliners.
Lötsch gibt an, schon seit Jahren nur noch in seinem Fauteuil und bei laufendem Fernseher zu schlafen.
Zora hatte sich an ihren Schreibtisch gesetzt, in der Hand hielt sie noch immer das Diktaphon. Dann versank sie plötzlich im Schwarz, ein anderer Spot biss sich in die Dunkelheit, ein Mann saß auf dem Sessel vor Zoras Schreibtisch:
Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal in meinem Bett geschlafen habe. Es ist mir fremd, so unbenutzt, wie es dasteht. Wie in den Musterschlafzimmern eines Möbelhauses. Wo die Betten und die Nachtkästchen und sogar die Bettwäsche und Polster Namen haben, als würden sie leben.
Dieses Mal bleibt der Spot auf dem Darsteller des Lötsch, und Zoras Stimme kommt aus dem Dunkel:
Lötsch gibt an, seinem Bett den Namen René und seinem Nachtkästchen den Namen Kevin gegeben zu haben.
Der Mann sitzt da und sieht mit unbewegter Miene seiner Stimme hinterher, wie einem Kind, das zum ersten Mal alleine über die Straße geht. Erst wenn es ein Satz sicher auf die andere Seite schafft, kommt der nächste:
Alles unbrauchbare Namen für die nicht mehr gebrauchten Dinge.
Als Zora gehört hatte, dass Nikolaus Kramer am Theater inszenieren würde, bewarb sie sich sofort und ohne noch zu wissen, worum es in dem Stück ging. Sie hatte jeden seiner Filme zumindest zweimal gesehen und hätte noch die kleinste Nebenrolle angenommen, um mit ihm zusammenarbeiten zu können. Nur gab es in dem Stück keine Nebenrollen, sondern nur Psychiaterin oder Zuschauerraum. Zora ging zum Vorsprechen, im Rücken ein Jahr, in dem nichts funktioniert hatte, und dann ließ Kramer sie im Dunkeln stehen, und Zora, die nichts so sehr gewohnt war wie die Abwesenheit von Licht, fühlte sich auf Anhieb wohl im tiefen Schwarz, so wohl wie keine vor ihr, und nach ihr wollte Kramer gar keine andere mehr sehen.
Auf der Bühne taucht eine schwarze Katze auf und streift Lötsch um die Beine.
Lötsch erzählt häufig vom Kater seiner alten Nachbarin, der ihr immer wieder entwischt und dann durchs Stiegenhaus streift und an seiner Tür kratzt. Er gibt an, dass es ihm guttue, sich um das Tier zu kümmern. Offensichtlich hat es eine stabilisierende Wirkung auf ihn.
Der Spot wechselt auf Zora, aus der Dunkelheit heraus dringt Lötschs Stimme: Mein Glück kommt auf leisen Pfoten, hört gut und ist schwarz wie Pech.
Eine Zusammenarbeit wie die mit Nikolaus Kramer hatte Zora nicht gekannt. Andere Regisseure waren zur Premiere hin immer unsicherer und hektischer geworden, manche hatten sogar im letzten Moment ihr ganzes Konzept infrage gestellt und dann Tag und Nacht geprobt, um das Stück doch noch irgendwie auf die Bühne zu bekommen. Kramer hingegen war, je näher die Premiere rückte, immer ruhiger geworden. Und als er zufrieden war, hatte er die Proben beendet und Zora und ihrem Kollegen die fünf Tage bis zur Premiere freigegeben.
Zora war mittlerweile aufgestanden und ging hinter ihrem Schreibtisch auf und ab. Wer genau hinsah, merkte, dass sie das Diktaphon nicht mehr hielt, sondern sich festhielt an ihm:
Lötsch erzählt, dass er sich gerne an Orten mit Aussicht aufhält, weil er gerne hoch über oder weit weg von allem ist. Weil er es möge, so Lötsch weiter, wenn zwischen ihm und den Dingen Luft ist.
Und dann fiel ihr Lötsch aus dem Dunkel ins Wort:
Leider ist nicht immer Verlass auf diese Zwischenluft. Dann kommen die Dinge auf mich zu und immer näher und es gibt viel zu viel Welt auf einmal.
Lötschs Stimme machte den Raum eng, rückte näher wie die Dinge, und Zora ging dagegen an:
Die Gedanken, erklärt Lötsch, schauen nur noch kurz vorbei in seinem Kopf, bleiben aber nicht mehr.
Der Spot sprang zurück auf Lötsch, der mit unbewegter Miene dasaß. Seine zunehmend manischer werdende Stimme kam jetzt vom Band. Er nickte zu dem, was er sich sagen hörte. Langsam, als wäre er ein anderer.
Meine Gedanken laufen in alle Richtungen auseinander. Als wären sie auf der Flucht. Ich weiß aber nicht, wovor sie Angst haben. Vielleicht sind sie aber auch auf der Suche nach etwas. Aber was, aber was, aber was? Keine Ahnung. Weiß nicht. Nur weiter. Und weg.
Die Spannung zwischen dem lethargisch dasitzenden Lötsch und seiner sich überschlagenden Stimme war kaum auszuhalten. Die knisterte. Sprühte Funken. Stellte Haare auf. Und dann ging das Licht gleichzeitig mit Lötschs Anfall an, und das gesamte Publikum war offener Mund, große Augen, angehaltener Atem und Hände, die sich um Armlehnen krampften. Sekunden brauchten die Zuschauer, um zu sich zurückzufinden, dann brach der Applaus aus wie eine Explosion. Als wäre das Klatschen nicht Lob, das sein konnte, sondern Befreiung, die sein musste. Das Publikum schüttelte seine Gänsehaut ab, und Zora wusste zum ersten Mal, was Theater ist.
Treffen an der Borderline, betitelte das Tagblatt seinen Premierenbericht, den Fred am nächsten Morgen Zora entgegenhielt, als sie im Bademantel in die Küche kam. Sie versuchte, ihm die Zeitung aus der Hand zu reißen, er zog sie aber rechtzeitig zurück.
»Setz dich«, sagte er, schenkte ihr Kaffee ein und las ihr den Artikel von vorne bis hinten vor, wobei er die besten Stellen wiederholte und dabei die Silben dehnte, bis die Worte nicht mehr konnten.
Die Sache mit Fred hatte für Zora zu Beginn nichts Dauerhaftes gehabt. Sie wusste nicht einmal, warum sie bei dem Fest zu ihm hinübergegangen war. Als hätte sie das an etwas erinnert oder neugierig gemacht, der Mann, der aussah, als würde er sich hinter der alten Kastanie vor der Welt verstecken. Stehen geblieben war sie bei ihm, weil seine Überheblichkeit sie gereizt hatte, ihm Kontra zu geben. Dass sie dann mit ihm mitgegangen war, hing aber mit diesem merkwürdigen Moment zusammen, nachdem sie ihm ihren Namen gesagt hatte. Irgendetwas war da in seinem Gesicht passiert. Plötzlich sah er sie mit anderen Augen an. Mit einem Blick, der ihr Größe verlieh und gleichzeitig unheimlich war. Seine Augen hatten etwas entdeckt, von dem sie nichts wusste, und ihr war klar, dass sie diesen Mann nicht früher gehen lassen konnte, bevor sie nicht herausgefunden hatte, was das war.
Zora Gast legt ihre Psychiaterin unaufgeregt an, aber gerade dieser emotionale Minimalismus gibt der Figur eine eisige Intensität. Wirklich ungewöhnlich ist aber das breite Repertoire an fast unmerklichen Gesten und feinen stimmlichen Nuancen, auf das Gast zurückgreifen kann und das sie auch an den richtigen Stellen einzusetzen weiß. Die Entdeckung neuer Talente gehört zu den schönsten Momenten eines Theaterkritikers. Gestern Abend war so einer.
Zora fiel Fred zusammen mit der Zeitung und einem lauten Rascheln in die Arme. Sie verkroch sich in seinen Hals, und er legte die Wange auf ihre Stirn, den Mund ganz nah an ihrem Ohr und flüsterte: »Sag