Die Ahnungslosen. Wolfgang Popp

Die Ahnungslosen - Wolfgang Popp


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himmelblaue Kurve entlang, die nichts ähnlich sieht, was Su kennt. Am ehesten vielleicht noch einem Wassertropfen, den der Wind waagrecht vor sich hertreibt. Erst bei der Kühlerhaube merkt Su, dass Tims Finger den Lack des Citroën gar nicht berühren. Es ist Donnerstagnachmittag, die Wettervorhersage hat den letzten warmen Abend des Jahres versprochen, und Su schüttelt den Kopf.

      »Die Göttin«, sagt Tim.

      Manche Menschen hüten ihre Leidenschaften wie Geheimnisse, Su hat jedenfalls nicht gewusst, dass Tim sich für alte Autos begeistert, und sagt es ihm.

      »Ist nichts Ernstes«, winkt er ab.

      ›Sieht aber nicht so aus‹, denkt Su, und denkt auch, dass ihr das fehlt, solch eine Faszination für eine Sache. Zumindest fällt ihr nichts Vergleichbares ein, obwohl sie einige Zeit mit langen Fingern in ihren Erinnerungen wühlt. Und dann fährt sie sich mit denselben langen Fingern durch ihre Haare, um den Hauch von Neid loszuwerden, der dort wie eine Spinnwebe klebt.

      »Wollen wir?«, fragt Su, und Tim hält ihr mit einem »Voilà« die Tür auf. Das ockerfarbene Leder erinnert sie an Handtaschen oder Mäntel, und sie rutscht in ihrem Sitz hin und her, als würde sie ihn anprobieren. Es riecht warm, und die tiefstehende Nachmittagssonne zeichnet samtige Schlieren auf die Windschutzscheibe. Tim startet den Citroën DS, und Su wundert sich, wie leise der Motor ist. Der Schalthebel kommt aus dem Armaturenbrett, Tim zieht und dreht ihn, dann wirft er einen Blick über seine Schulter und reiht sich in den langsam einsetzenden Abendverkehr ein.

      »Wie woanders«, sagt er, und Su nickt stumm. Aus der himmelblauen Göttin heraus sehen die Straßen tatsächlich aus, als wäre es nicht weit nach Saint Tropez. Nicht weit zu Gauloises und Pastis. Zu Catherine und Jean-Luc. An dem DS hängt eine ganze Welt oder zumindest die halbe Côte d’Azur, und als sie an der nächsten Ampel zum Stehen kommen, streckt der Fahrer neben ihnen anerkennend seinen Daumen in die Höhe. Su lächelt ihm ein »Danke« zu und dreht sich wieder nach vorn, spürt aber, wie der Blick des Mannes an ihr hängenbleibt und wie sie rot wird, und beugt sich unter dem Blick weg zum Autoradio. Sie drückt den chromsilbernen Knopf, ein metallisches Klicken ist zu hören und dann ein schleifendes Geräusch.

      »Da ist noch eine Kassette drin«, sagt Tim überrascht und dreht am Lautstärkeregler. Dann sind die ersten Takte zu hören, und Su sieht das Autoradio vorwurfsvoll an wie jemanden, der sie an eine peinliche Geschichte erinnert.

      »Das darf nicht wahr sein«, sagt sie, »Dirty Dancing«.

      Die erste Strophe summen sie noch zaghaft mit, beim Refrain setzen sie aber beide lauthals mit ein und kaum ist der Song zu Ende, spult Su die Kassette zurück.

      »Hattest du die jemals?«, fragt sie Tim, während der Song bandraschelnd seinen Anfang sucht.

      »Was meinst du?«, fragt er, »die Platte?«

      »Nein. The time of your life

      »Jetzt gerade habe ich sie«, sagt er, »hier mit dir.«

      »Du weißt schon, was ich meine«, sagt Su.

      Tim schaut aus dem Seitenfenster, als würde die Erinnerung, die er sucht, am Straßenrand stehen.

      Und dann scheint er sie tatsächlich da draußen zu entdecken. »Mmh«, nickt er gleichzeitig sich selbst und Su zu, die in dem Moment merkt, dass es ihr lieber gewesen wäre, Tim wäre nichts eingefallen.

      »Und?«, sagt sie, als er nicht gleich zu erzählen beginnt, und bemüht sich dabei erfolglos, gleichgültig zu klingen.

      »Die Tage mit Raul«, sagt Tim und richtet den Rückspiegel, als würde die Erinnerung daran noch immer da hinten an der Straße stehen.

      »Wer ist Raul?«

      »Wir sind uns auf der Uni über den Weg gelaufen, auf einer Exkursion, mittelalterliche Geschichte.«

      Und dann erzählt Tim von einem Kloster, in dem sie zwei Tage waren, von alten Handschriften, von einer schlaflosen Nacht und einer Begegnung um drei Uhr früh im Klosterhof.

      »Da ist Raul, mit dem ich bis zu diesem Zeitpunkt noch kein Wort gewechselt hatte, auf einer Mauer im Kreuzgang gesessen. Er hat in den Garten mit dem alten steinernen Brunnen geschaut und geraucht, Kopfhörer auf, und neben ihm ein Walkman. Er hat mich angesehen, prüfend, ob ich es wert bin, und dann hat er die Kopfhörer abgenommen und sie mir hingehalten. Das war die Begrüßung. Statt ›hallo‹ zu sagen, hält er mir die Kopfhörer hin. Ich setze sie genauso wortlos auf und höre eine Frau, nur von einem Klavier begleitet, in einer miesen Tonqualität, aber irgendwie hat das Rauschen die Musik noch schöner gemacht. Dazu der Klosterhof, die alten Steine und die Nacht, das war schon irgendwie besonders. Als der Song aus war, habe ich ihn gefragt, wer das ist. ›Joni Mitchell‹, hat Raul gesagt, und ich habe gesehen wie er sich freute, dass ich von Joni Mitchell offensichtlich noch nie etwas gehört hatte. Er hat eine Flasche Bourbon aus seiner Manteltasche gezogen, sie aufgeschraubt und mir hingehalten. Mir ist zuerst der Bourbon heiß die Kehle hinuntergelaufen und gleich darauf Rauls Satz.

      ›Wir leben am falschen Ort‹, hat er gesagt und seiner Zigarette an einem Stein langsam die Asche abgedreht. Ich habe ihn gefragt, was er meint, und er hat einen tiefen Zug genommen. ›Man muss dort leben, wo so eine Musik geschrieben wird‹, hat er gesagt, und dann eine Songzeile zitiert, die im Kreuzgang wie ein dunkles Gebet geklungen hat.«

      Tim lehnt sich zurück am Steuer, grinst verlegen die Vergangenheit an wie eine verlorene Schwester und klopft den Takt zu Joni Mitchells Song, der unhörbar für Su in seinem Kopf spielt.

      »Los, sag schon!«, zieht sie ihn am Ärmel.

      »Everybody’s saying that hell’s the hippest way to go. Well, I don’t think so. But I’m gonna take a look around it, though.«

      Su denkt langsam den Zeilen hinterher und sieht sich in der Hölle um, ohne dort viel zu entdecken.

      »Und diese Stunden im Kloster, die waren so time-of-your-life für dich?«

      Tim stellt die rechte Hand am Lenkrad zu einem »Warte!«, »Langsam!« und »Der Reihe nach!« auf.

      »Raul hat plötzlich von Los Angeles zu schwärmen begonnen, von den Palmen am Straßenrand und Kreuzungen, an denen du am liebsten in alle Richtungen gleichzeitig weiterfahren würdest, und von einem Café, in dem Schriftsteller, Musiker und Maler ihre Tage und Nächte und Tage verbringen. Ich habe ihn gefragt, wann er dort gewesen sei, und er hat gesagt, ›noch gar nicht‹, doch als wir in der Morgendämmerung zurück zu unseren Betten geschlichen sind, war unsere gemeinsame Reise nach Kalifornien beschlossene Sache.«

      »Ich habe gar nicht gewusst, dass du schon mal drüben warst«, sagt Su und deutet mit dem Kopf Richtung Übersee. Die Straße dreht auch gerade Richtung Westen, und sie fahren jetzt direkt auf die Abendsonne zu. Su hält die Hand vor die Augen und Tim klappt seine Sonnenblende herunter.

      »War ich auch nicht«, sagt er.

      »Warum?« Su sieht ihn fragend an.

      Tim atmet ein, sagt aber nichts und tut, als müsse er sich auf die Straße konzentrieren, obwohl die kerzengerade vor ihnen liegt.

      »Hallo?«, stößt Su ihn an.

      »Die Reise hätte eine Menge gekostet«, sagt er. »Wir wollten ja mindestens zwei Monate unterwegs sein. Außerdem war ich noch nie so weit weg und wusste mit einem Mal auch nicht mehr so genau, was ich dort eigentlich sollte.«

      »Ja und?«, fragt Su.

      »Eine Woche vor Abflug habe ich Raul abgesagt.«

      Am nächsten Morgen wacht Tim um sechs Uhr auf und kann nicht mehr einschlafen. Er denkt daran, wie er am Abend zuerst Su zu Hause abgesetzt und anschließend den Citroën zum Händler zurückgebracht hat. Er ist auf den dunklen Parkplatz gefahren, hat die Scheinwerfer abgedreht und noch einmal Dirty Dancing gehört. Und dann hat er die Autoschlüssel wie ausgemacht in den Briefkasten geworfen.

      Su liegt mit dem Gesicht zu ihm, die Decke bis zur Nase hochgezogen. Er kriecht leise aus dem Bett, stellt einen Kaffee


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