Die Ahnungslosen. Wolfgang Popp

Die Ahnungslosen - Wolfgang Popp


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      »Hallo«, sagte sie, in jeder Hand noch immer eine Packung Milch. Er blieb vor ihr stehen, und sie stellte die Milch in ihren Einkaufswagen.

      »Du hast keinen Schimmer, wer ich bin«, sagte der Mann, grinste sie an und ließ sie zappeln. Er war in ihrem Alter, Anfang, Mitte vierzig, schmales Gesicht, sportlich, die Haare schon leicht grau meliert, was ihm aber gut stand. Kris Blick flimmerte über sein Gesicht wie ein Scanner über einen unbekannten Barcode.

      »Tut mir leid«, gab sie es schließlich auf.

      »Käfer«, sagte der Mann, und da machte es Klick bei ihr.

      »Alf«, sagte sie mit ungläubigen Augen, denn der Mann vor ihr passte nicht zu ihrer Erinnerung an den eigenbrötlerischen Mitschüler, der in einer Plastikdose mit selbst gestochenen Luftlöchern Insekten in die Schule mitgebracht hatte.

      Sie hatten ihn Spiderman genannt, abschätzig und mit gespieltem Ekel in der Stimme, und er hatte ihnen hundertmal erklärt, dass er sich für Insekten interessiere und Spinnen keine Insekten seien, jeder könne das ganz leicht feststellen, weil Spinnen acht Beine hätten und Insekten nur sechs. Das alles fiel ihr wieder ein, und auch, dass sie damals geglaubt hatte, er sei in sie verliebt. Vor dem Schulball hatte sie sich schon eine Ausrede zurechtgelegt und war dann enttäuscht gewesen, als er sie gar nicht erst fragte, ob sie mit ihm hinginge.

      »Was machen die Insekten?«, fragte Kri.

      »Ich bin jetzt untergetaucht«, antwortete Alf.

      Sie fanden ein Café unweit des Supermarkts. Auf dem Weg dorthin kam die Sonne heraus, und sie setzten sich an einen der Tische vor dem Lokal. Jetzt am Vormittag war wenig los, nur ein Mann saß da noch, zwei Tische weiter, im dunklen Sakko. Sein oberster Hemdknopf stand offen und seine Krawatte hing über der Armlehne des Nebensessels. Kopfüber baumelte sie herunter wie ein Kind an einer Reckstange, während er lautstark telefonierte, vor sich auf dem Tisch den aufgeklappten Laptop. Die Hektik des Mannes steckte Kri an und sie holte ihren Terminplaner aus der Tasche, der alte Affe Angst, irgendetwas vergessen zu haben. Alf lehnte sich unterdessen zurück, schloss die Augen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt.

      »Wie damals beim Schule schwänzen«, sagte er, als Kri aus ihrem Terminkalender zurück an den Tisch kam, sie konnte sich aber nicht erinnern, dass sie jemals gemeinsam Schule geschwänzt hatten.

      »Geht’s bei dir sonst auch so zu?«, fragte er und deutete mit dem Kopf zu dem am Telefon gestikulierenden Mann.

      »Bei wem nicht?«

      Alf zuckte ein »Rate mal« mit den Schultern und genoss dabei sich selbst genauso wie die Sonne. Nicht arrogant, aber beneidenswert zufrieden. Dann lehnte er sich nach vorn und verschränkte die Hände.

      »Und bei dir?«, fragte er. »Was ist aus der Klassenbesten geworden?«

      Alf hatte den Tonfall ihres ehemaligen Direktors ziemlich gut hinbekommen, und Kri erzählte ihm grinsend, was sie machte.

      »Du hast deine eigene Firma?«, sagte Alf.

      »Das hört sich nach mehr an, als es ist. Ich manage den Laden eigentlich allein und stelle nur stundenweise Leute ein.«

      »Und? Läuft es?«

      »Ich kann mich nicht beklagen, aber es geht oft die ganze Nacht durch.«

      »Dafür lernst du interessante Leute kennen«, sagte Alf.

      »Mmmh …«, hielt Kri mit wiegendem Kopf ihr Glück in der Schwebe. »Aber es bleibt ohnehin keine Zeit, sich zu unterhalten, weil es immer irgendetwas gibt, das nicht passt. Entweder ist der Kaviar zu wenig, der Weißwein zu warm oder die Musik zu laut.«

      »Ach was!«, richtete Alf Kris Kopf wieder gerade. »Dein berühmtes Lächeln – und sofort lösen sich alle Probleme in Luft auf.«

      Kri wusste nicht, was sie von Alfs letzter Äußerung halten sollte. In der Schulzeit hatte es immer wieder Neider gegeben, die gemeint hatten, ihre guten Noten hätten nicht wenig mit ihrem guten Aussehen zu tun. In dem Moment klappte der Geschäftsmann am Nebentisch seinen Laptop zu, streifte sich die Krawatte über den Kopf, zog sie fest und verlangte nach der Rechnung.

      »Jetzt erzähl aber, was du machst«, sagte Kri.

      »Habe ich doch schon gesagt, ich bin jetzt unter Wasser unterwegs.«

      »Was? Fische?«

      »Kraken«, sagte er, und Kri sah ihn an, als würde er einen Scherz machen.

      »Du hast das mit den Tieren wirklich durchgezogen?«

      Alf nickte, und Kri dachte, »Kapitän Nemo«. Obwohl er nur eine Armeslänge entfernt saß, schien es für Alf eine andere Form der Schwerkraft zu geben, die es ihm erlaubte, durchs Leben zu schweben, während sie sich von einem Tag zum anderen schleppen musste.

      »Ich arbeite im Aquarium«, sagte er, und Kri fand, dass die beiden Worte nicht zusammengingen, »arbeiten« und »Aquarium«. Und dann dachte sie noch, dass sie dort seit einer Ewigkeit nicht mehr gewesen war.

      Christian brachte die Kinder immer abends um sieben. Kri stand schon am Fenster, als er in zweiter Spur hielt. Sie läuteten. Anscheinend hatte Jens die Schlüssel vergessen. Kri öffnete ihnen und ging zum Fenster zurück. Christian stand neben seinem Wagen und winkte Jens und Jolanda hinterher. Er sah gut aus. Trotz der Glatze merkte man ihm die fünfundvierzig nicht an. Auf dem Beifahrersitz entdeckte Kri Laras Knie und den Saum ihres Rocks und zog den Vorhang zu. Dann hörte sie schon die Kinder im Vorzimmer.

      »Und, wie war es?«, fragte sie.

      »No comment«, sagte Jens und ging, ohne Kri anzusehen, in sein Zimmer. Dafür fiel ihr Jolanda um den Hals. Mit ihren Dreizehn war sie nur zwei Jahre jünger als ihr Bruder, aber die machten den großen Unterschied.

      »Alles okay?«, fragte Kri.

      »War ganz schön. Minus den komischen Momenten halt«, sagte Jolanda.

      Jens und Jolanda und der Abend vor mehr als fünfzehn Jahren: Als Kri bemerkte, dass sie schwanger war, als Christian sie ansah wie eine fremde Küste und als sie gemeinsam, stolz wie Seefahrer, stundenlang Namen überlegten für ihre Entdeckung. Die halbe Nacht hatten sie sich damit um die Ohren geschlagen, seitenlange Listen mit den Namen von Heldinnen, Göttern und heiligen Bäumen anzulegen und sie ihrem ungeborenen Kind anzuprobieren. Ihre Favoriten hatten sie sich schließlich ein Dutzend Mal laut vorgesagt, um zu hören, ob sie sich abnutzten. Sie hatten sich entschieden, gerade als die Sonne aufging, und ihre Wahl niemals bereut. Anders als ihre Ehe hatten die Namen ihrer Kinder gehalten.

      »Und bei dir?«, fragte Jolanda.

      »Ich bin gestern beim Einkaufen zufällig einem alten Schulkollegen über den Weg gelaufen und habe ans Meer denken müssen«, sagte Kri.

      »An Ägypten?«, fragte Jolanda mit belegter Stimme, und Kri nickte.

      »Das war meine allerschönste Reise überhaupt«, sagte Jolanda, und Kri merkte, wie ihr die Augen feucht wurden. Sie ging ins Bad, wusch sich das Gesicht kalt ab, und als sie sich wieder gefangen hatte, drückte sie die Klospülung und rief hinaus, ob Jolanda noch etwas essen wolle.

      Als die Kinder schliefen, fragte Kri Wikipedia nach Kraken und Tintenfischen, nach Oktopussen und Kopffüßern. Sie klickte sich in alle Richtungen und dann auch in die Tiefe, bis sie bei Fachartikeln landete, von denen sie kein Wort mehr verstand. Es war fast Mitternacht, als sie ihren Computer hinunterfuhr und ins Bad ging. Gleich darauf kam sie aber, die Zahnbürste im Mund, an den Tisch zurück, klappte den Laptop wieder auf, sah im schwarzen Bildschirm ihr Gesicht widergespiegelt, kleine Augen und Schaum vor dem Mund, dann breitete der Browser schon seine weiten Arme aus, und Kri gab den Namen des Aquariums ein und schrieb die Öffnungszeiten ab.

      Rechts ging es zum Amazonas-Delta, links zum Roten Meer. Am großen Becken mit den Haien und Rochen drängelte sich eine Schulklasse. Drei Kinder rangelten um eine Kappe, und Kri musste an die Prügeleien der Buben denken und wie Alf sich abseits gehalten und im Gras seine Käfer hatte krabbeln


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