Talmi. Oskar Jan Tauschinski
Puderdose, die sie bis dahin offen in der Hand gehalten hatte.
Der junge Mann war sehr rot geworden. Man wußte nicht, ob er über seine Impulsivität beschämt oder über seinen Mut erfreut war. Aber er änderte seine Taktik, und als der Ober wieder an ihm vorbeikam, winkte er ihn heran und nannte die Namen einiger ausländischer Blätter, die die Sängerin in den letzten Tagen flüchtig angeschaut hatte. Auch dies war Traviata nicht entgangen; als ihr die Zeitungen gebracht wurden, wandte sie sich nicht an den Kellner, sondern an den Besteller und sagte abermals, diesmal mütterlich-gönnerhaft:
»Merci!«
Der Bursche erhob sich halb von seinem Stuhl und verneigte sich sehr artig und formvollendet. Bald darauf zahlte er seinen Nußbraunen, blieb aber sitzen und verließ das Café erst, als er die Künstlerin ihre Rechnung begleichen sah.
Unmittelbar nach der Gastsängerin brach auch Berti auf. Draußen wartete der junge Mensch bereits. Er hatte ein Taxi herbeigewinkt, öffnete nun den Schlag, half Traviata sehr geschickt und mit Grazie beim Einsteigen und sagte dann zum Chauffeur: »Fahren Sie die Dame zum Hotel Ambassador.«
Nun war es an der Diva, zu reden. Sie tat es dem höflichen jungen Mann zu Ehren sogar französisch. Es waren mehrere rasch abrollende Sätze. Bei den letzten Worten entnahm sie ihrem Täschchen zwei Theaterkarten, die sie ihm mit großer Bühnengeste einhändigte. – Es mochte dieselbe Geste sein, mit der sie in der Vorstellung dem verliebten Alfredo eine Kamelie überreichte. – Jedenfalls war dieser Aufwand an Worten und Gebärden vergeudet, denn der Jüngling, der gerade noch den Weltmann gespielt hatte, stand verdutzt da und betrachtete die Karten in seiner Hand.
Nun schien Berti der Zeitpunkt gekommen, um einzugreifen.
»Die Dame dankt Ihnen für Ihre Liebenswürdigkeit. Sie möchte Ihnen gern eine kleine Freude bereiten, weil sie nicht weiß, wie sie sich revanchieren kann. Sie bittet Sie, diese Opernsitze anzunehmen und sich die morgige Vorstellung anzuhören, in der sie die Hauptrolle singt.«
Traviata schien verstanden zu haben, was Berti sagte, denn sie nickte eifrig, rief dann nochmals abschließend: »Merci messieurs!« und gab dem Chauffeur einen Wink, abzufahren.
»Opernkarten – für mich?« hörte Berti im Fortgehen den verblüfften jungen Mann murmeln.
DER HEILIGE MARTIN UND FRAU MÜLLER
(Susannens Aufzeichnungen vom 20. März 1945)
»Vorhin ist eine hier jewesen«, sagte Margot, als ich vom Luftschutzkurs heimkam.
Sie war damit beschäftigt, Klinke und Schild der defekten Eingangstür mit Sidol zu putzen. Die offenkundige Sinnlosigkeit dieser Handlung verursachte mir ein inneres Kopfschütteln. Auch die strahlendsten Beschläge können die Kistenbretter, die rostigen Nägel und das Vorhängeschloß nicht vergessen machen. Aber ich sagte nur matt:
»Steht es dafür, Margot, daß Sie sich so plagen?«
»Das muß sein«, meinte sie. »Wie sieht denn das aus, ’ne unjeputzte Klinke? Was möchten da die Leute sagen?«
Margot fußt felsenfest auf ihren Grundsätzen. Ich wagte also nicht einzuwenden, daß es mir unter den gegebenen Umständen gleichgültig ist, was die Leute zu meiner Wohnungstür sagen.
»Wer ist denn dagewesen?« fragte ich.
»Och, so ’ne olle Pupp. Es liecht ohnedies ’n Zettelchen drin am Tisch.«
Das »Zettelchen« erwies sich als zierliche Visitenkarte und trug auf einer Seite die gedruckte Aufschrift: »Mausi Freiin von Sperl« und auf der anderen die eilig mit Bleistift hingekritzelten Worte: »Könnten Sie mich nicht besuchen, liebe Frau Sedlak? Ich habe Wichtiges mit Ihnen zu besprechen. Herzlichst Ihre …«
»Die Baronin Sperl wäre sehr gekränkt, wenn sie wüßte, daß Sie sie eine olle Pupp nennen, Margot. Sie ist höchstens vierzig.«
Margot zuckte unbestimmt die Achseln. »Ach nee!« sagte sie, und es blieb dahingestellt, ob sie die Besucherin für älter gehalten hatte oder ob ihr eine Vierzigjährige sowieso betagt genug erschien. »Jedenfalls ’ne rechte Nichtstuerin. Kommt daher, setzt sich breit hin und fängt an zu klönen, wo man doch gar nich weeß, was man zuerst tun soll. Hat se mir doch zujeschaut beim Bodenschrubben! Glauben Sie, daß se mir einen Eimer Wasser jebracht hätte? Nicht die Bohne! Und sowas nennt sich Freiin! Und Mausi och noch! Gott, wie niedlich!«
»Sie tun der Sperl unrecht, Margot. Vielleicht versteht sie vom Haushalt nicht viel, aber sie arbeitet seit Jahren bei einem Rechtsanwalt, und man soll sehr zufrieden mit ihr sein.«
Das stimmt. Mausis Vater, ein Industrieller, dem es 1898 anläßlich des Kaiserjubiläums unter Aufwendung von viel Geld gelungen war, in den Freiherrnstand erhoben zu werden, hatte sein Vermögen in Kriegsanleihen angelegt und war daher nach dem Weltkrieg nicht in der Lage gewesen, seiner Tochter, die nicht sehr hübsch zu werden versprach, einen ebenbürtigen Ehepartner zu verschaffen, da heiratsfreudige reiche Männer rarer sind als geldknappe Baronessen. So hatte Mausi sich bald mit dem Altjungferndasein abfinden müssen. Sie tat es sogar mit gewisser Grazie, indem sie einen Posten antrat und die Religion zu ihrer Privatliebhaberei erwählte.
Mausi ist eine flinke und gewissenhafte Bürokraft, legt aber Gewicht darauf, daß ihr Chef und ihre Mitarbeiter sie als Fräulein von Sperl anreden, und freut sich insgeheim darüber, daß man auch hinter ihrem Rücken von ihr als von der Baronin spricht. »Die Baronin ist zu Gericht gegangen.« »Die Baronin ist beim Diktat.« »Bringen Sie der Baronin den Akt Plunzengruber contra Gschiergl!« – Es ist, als läge ein wenig von dem Glanz, den dieser Titel in sich trägt, über den staubigen Aktenregalen der Kanzlei und als färbe der Adel auf die übrigen Angestellten des Rechtsanwaltes ab. Jeder von ihnen fühlt das deutlich – unbeschadet seiner sonstigen politischen Einstellung.
»Wenn man zur halbwegs besseren Wiener Gesellschaft gehört«, pflegt Mausi zu mir zu sagen, »dann kann man verschiedene Dinge nicht tun.« Sie meint: mit belegten Broten einen Ausflug in den Wienerwald machen, auf einen Stehplatz ins Theater gehen, ohne Hut und Handschuhe die Gasse betreten und dergleichen »proletarisches Gehaben« an den Tag legen. »Man ist zu bekannt. Man muß dem Rechnung tragen. – Da haben Sie es viel besser, meine Liebe«, meint sie gönnerhaft, aber man spürt deutlich, daß sie um keinen Preis der Welt mit mir tauschen würde.
Ich habe im Lauf der Jahre öfters kleine Aufträge von ihr erhalten, verbunden mit einer Unzahl von sterilen Weisungen, wie ich meine Arbeit anpacken solle. Denn Mausi ist natürlich eine Kunstmäzenin. Was aber konnte sie jetzt wollen? Es war nicht der Augenblick für die Anschaffung von zerbrechlichen Tonwaren. Ich nahm jedenfalls an, daß es sich wirklich um etwas Wichtiges handelte, und machte mich sofort auf den Weg.
Mausi Sperl hat durch die Fliegerangriffe doppelt zu leiden gehabt: zuerst sind ihre überzähligen Zimmer für Ausgebombte beschlagnahmt worden, und nun hat das Haus auch noch einen kleinen Treffer abbekommen. Die Scheiben sind sämtlich herausgefallen, die Gas- und Wasserleitungen defekt und auch die Kamine eingestürzt, so daß nicht geheizt werden kann. Nur das elektrische Licht ist intakt geblieben.
Diese Einzelheiten erfuhr ich, als ich das erste der drei Zimmer betrat, denn unpraktischerweise gelangt man in Mausis altmodischer Wohnung nur aus einem Raum in den anderen. Die bombengeschädigte Hofratswitwe, die in diesem Gelaß logiert, hat mir das alles erzählt und dazu auch noch, daß sie seit vorgestern nur trockenes Brot esse, was ihrem Magen äußerst unzuträglich sei, und daß sie angesichts der mit Papier verklebten Fensterhöhlen angezogen zu Bett gehe. – Arme Mausi, dachte ich, nicht bloß Bomben, sondern auch noch eine geschwätzige Mieterin!
Im nächsten, völlig kahlen Raum haust eine junge, farblose Kriegswitwe mit ihren zwei Kindern. – Die Kleinen saßen fröstelnd zusammengedrückt im einzigen Bett. Jedes hielt eine ungeschälte Kartoffel in der Hand. Die Frau war in Tränen.
»Seit elf Uhr bin ich unterwegs, und jetzt erst komme ich nach Hause«, schluchzte sie. »Ich war bei meiner Schwester in Hacking. Die hat einen Holzherd, auf dem man kochen kann.