Talmi. Oskar Jan Tauschinski
als seien sie nahe daran, in Tränen zu stehen. Aber möglicherweise waren das nur Reflexe der immer stärker herabsinkenden Dämmerung. Sie sahen mich so bittend an, als hinge von meinem Ja oder Nein Entscheidendes ab. Dann – als erschrecke er selbst vor der Intensität seines Schauens – ließ er die Augen rasch zur Seite gleiten. Das heißt: nur das rechte glitt rasch fort, während das linke mit merklicher Verspätung folgte. Ich weiß nicht, was mich an diesem zeitweise auftretenden Schielen plötzlich so bewegte. Vielleicht nur die Erinnerung an die Situation in der Opernloge, die sofort in voller Lebendigkeit vor mir stand. Jedenfalls fand ich nicht mehr den Mut, abzulehnen.
»Na ja«, meinte ich unbestimmt, »darüber ließe sich reden.«
»O ja, o ja, ich weiß, wenn ich wiederkomme, dann erwartet mich mein Putto in Wien.«
»Sie sprechen vom Wiederkommen? Verreisen Sie denn?« fragte ich gleichgültigen Tones und dachte bei mir: Hoffentlich für lange! Und bis er zurückkommt, wird er seine Bitte vergessen haben.
» Ja, leider«, sagte er, als fiele es ihm erst jetzt so recht aufs Herz, daß seine Abreise mit dem Wunsch in Widerspruch stand, den soeben erteilten künstlerischen Auftrag ausgeführt zu sehen. »Das war ja der Grund, warum ich Ihnen nachgelaufen bin. Ich wollte mich verabschieden. Ich gehe nach Budapest.«
»So? Sie sind also nicht mehr in der Brotfabrik beschäftigt?«
»Nein. Das war nichts für mich.«
»Darf man fragen, warum?«
»Ach, schauen Sie, Gnädigste, wenn man etwas Besseres gewöhnt war … Ich habe in letzter Zeit beim Generaldirektor als Privatchauffeur Dienst gemacht, weil der Ebergassner operiert worden ist. – Ja, das ist etwas anderes. Da lernt man das Leben kennen. Man wohnt im Cottage! (Er sagte Kotésch.) Gleich in der Frühe fährt man die Baronesse ins Institut und später am Vormittag die Baronin zum Friseur oder in einen der Modesalons in der Stadt. Und abends, da wartet man vor dem Burgtheater auf die Herrschaften oder vor der Wohnung eines Ministers. Aber jetzt ist der Ebergassner wieder gesund, und ich hab zum Brotliefern zurückmüssen.«
»Ist denn das so schlimm? Brotausfahren ist doch ein vernünftiger Beruf! Brot brauchen die Menschen. Eine gnädige Frau zum Friseur zu fahren, hätte für mich gar nichts Mitreißendes.«
Er schüttelte lachend den Kopf, als nehme er meine Worte nicht ernst. »Was kann man beim Brotfahren schon lernen? Immer kommt man nur mit Krämern und Milchfrauen zusammen. Das hat doch gar keinen Zweck!«
Ich fragte mich, ob man als Chauffeur bei Generaldirektoren so viel lernen konnte, außer, daß sie Innenarchitekten beschäftigten, die ihnen Barockplastiken auf Bücherschränke setzten, weil dies ein modischer Ausdruck von Geschmackskultur war. Schon wollte ich etwas Derartiges äußern, aber wir waren vor Aglaias Haus angelangt, und ich beschloß, das Gespräch nun nicht mehr in die Länge zu ziehen.
»Budapest, das ist für mich eine Chance«, hörte ich meinen Begleiter sagen.
»Was gedenken Sie dort zu tun?« fragte ich.
»Vorläufig dasselbe, was ich hier tue: einen Wagen lenken. Einen fabelhaften Lancia übrigens. Ein ungarischer Industrieller, Herr Barany, ein sehr feiner Mensch, mit dem ich im Café Heinrichshof bekanntgeworden bin, hat mich engagiert.«
Es war nun schon recht dunkel. Die Straßenbeleuchtung brannte bereits. Ich dachte, daß Aglaia sich über meine Unpünktlichkeit wundern werde, und sann nur auf einen schicklichen Abbruch des Gespräches. Der junge Mann schien mir jetzt wieder völlig uninteressant und nicht wert, daß man um seinetwillen eine Sekunde von Aglaias Unterricht versäumte. Im selben Augenblick bemerkte ich Berti, der die Gasse überquerte und auf das Haustor, vor dem wir standen, zusteuerte. »Ich küß die Hand, Suse«, sagte er, ohne stehenzubleiben, indem er den Hut zog. »Ich dachte, Sie seien längst oben.«
»Ja, ich komme schon. Sagen Sie bitte Aglaia, daß ich gleich da sein werde. Ich bin ohnedies sehr verspätet.«
Berti warf einen leise belustigten Blick auf meinen Begleiter und trat ins Haus.
»Ich werde erwartet«, sagte ich.
»Schade!«
»Also … dann viel Glück für Budapest!«
»Aber nicht wahr, Sie vergessen nicht, was Sie mir versprochen haben – den Wastl! Ich bleibe sicher nicht länger als ein Jahr weg. Auf die Dauer könnt’ ich ohne mein Wien ja doch net sein!«
Mein Wien – es klang so lächerlich in seinem Mund wie ein Schlagertext. Noch dazu war er bei diesen letzten Worten wieder in den Graf Bobby-Ton gefallen, der mich schon damals nach der Traviata-Aufführung geärgert hatte. Und wieder fragte ich mich, warum ich mit diesem zugleich banalen und affektierten Bengel so viele unnötige Worte machte und so viel kostbare Zeit verlor. Rasch reichte ich ihm die Hand.
»Auf Wiedersehen!«
Die allzu blonden Locken fielen ihm in die Stirn, als er in der Tanzstundenverbeugung zusammenknickte, und kitzelten mich eine Sekunde später am Gelenk, als er meinen rauhen Handrücken mit priesterlicher Andacht küßte. Ich ergriff die Klinke des Haustors.
»Nur eine Frage noch, Gnädigste, verzeihen Sie mir bitte …« Bei dem unsicheren Klang seiner Stimme wandte ich mich um.
»Was heißt eigentlich …«, er schien mit aller Mühe das Wort aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren, »Pa-ti-na?«
Ich hätte am liebsten laut aufgelacht, aber im selben Augenblick erschrak ich, weil ich fühlte, daß es nicht Spott war, was mich zum Lachen reizte, sondern Rührung. Ja, eine eigentümlich herzliche Rührung, von der es nur noch ein Schritt gewesen wäre, diesen bezaubernden, dummen Jungen da vor mir wie eine Mutter in die Arme zu nehmen und auf die Stirn zu küssen.
»Patina nennt man die Verunreinigungen, die sich mit der Zeit auf alten Kunstwerken abgelagert haben. – Auf Wiedersehen!« Ich schloß rasch das Haustor.
Vor mir lagen die wenigen Schritte bis zu Aglaias Atelier im Hinterhof. Ich dachte mit Schrecken daran, daß sie es mir anmerken würde, wie stark mein Herz hämmerte.
UNTERRICHTSSTUNDEN
(Susannens Aufzeichnungen vom 18. März 1945)
»Ich weiß alles, und Entschuldigungen werden nicht entgegengenommen!« rief Aglaia lachend, als ich eintrat. »Man läßt die greise Mentorin einsam und gramvoll warten und erlustiert sich derweilen auf der Gasse mit lockenhäuptigen Epheben! So – sehr schön! Das will ich mir merken!«
Ich sank, immer noch nach Atem ringend, in die Knie, küßte andeutungsweise den Saum von Aglaias Gewand, schlug dreimal gegen meine Brust und hob dann, wortlos um Vergebung flehend, meine Hände in die Höhe.
Aglaia half mir mit dem ganzen Aufwand ihrer wuchtigen Person auf die Füße und drückte mich so stürmisch auf den Diwan, daß Berti, der dort schon saß, Mühe hatte, seine zierliche Pose mit der Teetasse in der Hand beizubehalten. Auch ich bekam nun meinen Tee, den Aglaia herrlich wie niemand sonst zu bereiten wußte und den sie dann unter »O je!«-Rufen so verschwenderisch einschenkte, daß die Hälfte auf das Tischtuch oder die Kleider der Gäste rann.
Ach, Aglaia war einmalig! In ihrer tiefen, honigdunklen Stimme lag die ganze Wärme eines intensiven Herzens. Ihre groß angelegten Gebärden waren die bildhaften Äußerungen einer weiten, vorurteilslosen Seele. Fremdes Schicksal war ihr so gegenwärtig wie das eigene. Sie konnte über das Mißgeschick des gleichgültigsten Menschen bittere Tränen vergießen und an seinem Glück mit Lachen und Freudensprüngen teilnehmen, die bei ihrer massigen Gestalt und ihren Jahren unsäglich überraschend und komisch wirkten.
Es ist schwer, ihr Bild zu umreißen, aber eines steht fest: in ihrer Gegenwart glaubte man zu wissen, daß die Welt eine göttliche Schöpfung sei und das Leben eine Gnade. – Arme Freundin, dein eigenes Schicksal ist eher dazu angetan, den satanischen Ursprung der Welt und die Sinnlosigkeit aller Bewährung im Leben zu beweisen!
»Berti hat