Talmi. Oskar Jan Tauschinski
selber damals erst fünfundzwanzig, aber in meiner Körperverfassung kommt man ja schon als alte Frau zur Welt.
Der junge Mann zeigte leises Erstaunen, das ich als Enttäuschung auslegte.
»Komisch«, sagte er, »Manipulantin sind Sie? Und ich hätte Sie für eine Künstlerin gehalten. Ich weiß nicht warum, aber ich war sicher, Sie sind eine Malerin oder so etwas …«
Mir wurde plötzlich warm ums Herz. Niemand hatte je eine Begabung in mir gesucht. Es war bekannt, daß ich Abendkurse für Aktzeichnen an der Akademie besuchte. Manche wußten sogar, daß ich bei Aglaia Privatstunden nahm. Aber man hielt dies bei einer hoffnungslos zum Altjungferndasein Verurteilten für den begreiflichen Wunsch nach Kompensation. Nicht einmal Aglaia, die Bewunderte, Große, machte mir viel Hoffnungen. »Ich weiß nicht recht, was mit dir los ist, Suse«, pflegte sie zu sagen. »Es steckt was in dir, das sieht ein Blinder. Aber die Bildhauerei ist eine zu harte Disziplin für dich, zu streng, zu groß. Dir liegt das Dekorative mehr als das Plastische. Irgendwie sitzt dir bei der Arbeit die Manipulantin im Genick.« – Das war nicht gerade aufmunternd, und es gehörte viel Zähigkeit und Willensaufwand dazu, um nach so zweifelhaftem Lob: »Es steckt was in dir …« weiterzuarbeiten. Und gar der Professor beim Aktzeichnen, der packte mich noch rauher an. »Sö san mir die Richtige! Da schaun S’ her: die Rückenlinie da, die siecht aus, als wann s’ von einer Maus aus’bissen wär’. So g’hört ’s und so und so … Segen S’, ein Akt, dös san fünf bis zehn Linien. Alles, was drüber geht, haaßt nix! Der Busen, den S’ da g’malen haben, der is ja barock …!«
Barock war ein Ausdruck tiefster Verachtung in der Sprache des Professors.
Was konnte ich dafür? Unter meinen Händen wurde eben alles barock.
Und nun hatte ein Unbefangener, Fremder mich für eine Künstlerin gehalten! Dabei wußte der eitle junge Bursche da neben mir bestimmt gar nicht, wie froh und zuversichtlich mich sein Irrtum machte.
»… ich sehe Sie direkt in einem weißen, etwas fleckigen Kittel in einem Atelier stehen«, beendete er seinen Satz.
»So leicht kann man irren. Jetzt sind Sie wohl sehr enttäuscht, was?«
»Oh, nein …«
Die zögernde Antwort brachte mich wieder in Harnisch.
»›Oh, nein‹ heißt ›ja‹! Sie hätten eben doch Ihren natürlichen, jugendlichen Wünschen folgen sollen und die hübsche Verkäuferin in die Loge laden; stattdessen …« Ich wollte fortsetzen: ›… haben Sie sich von Ihrem Snobismus verleiten lassen und sind erst recht fehlgegangen.‹ Aber ich hielt rechtzeitig inne und sagte mit komischer Übertreibung: »… haben Sie Philanthropie walten lassen und eine Bresthafte begönnert.«
Er sah mich verwundert an und blieb stehen.
»Philanthropie – was ist das?«
Nun war es an mir, zu staunen. Hatte man in dem ärarischen Elternhaus keine Fremdwörter benützt? Und warum nicht? Aus Unbildung – oder vielleicht aus Deutschtümelei?
»Menschenfreundlichkeit, Menschenliebe, Nächstenliebe«, erläuterte ich etwas beschämt über die Lehrerinnenrolle, die mir da zufiel.
»Wie merkwürdig Sie sich ausdrücken«, meinte er. »Philanthropie – eine Bresthafte begönnert … Nein, ich bin nicht enttäuscht, o nein, gar nicht! Ich hab ja so viel gelernt.«
»Gelernt?«
»Ja. Ich weiß jetzt, was eine Arie und ein Duett ist, daß die Musik, ehe der Vorhang aufgeht, Ouvertüre heißt und der Text, den die Künstler singen, Libretto – oder hab ich etwas falsch gesagt?« fragte er, als er die Verblüffung in meinen Augen las. »Ich habe auf jedes Wort aufgepaßt, das Sie in der Pause fallen ließen. Ach, man kennt ja viele Ausdrücke vom Hören und Lesen und ist nicht so ganz sicher, was sie bedeuten. Sie müssen wissen …«, er stockte verlegen, »… ich bin heute zum ersten Mal in der Oper gewesen.«
»Aber gehen Sie …«, sagte ich, denn ich wußte wirklich nicht, was ich erwidern sollte; auch waren wir inzwischen vor meinem Haustor angelangt.
»Ich bin nämlich …« Er setzte den begonnenen Satz nicht fort, aber es war mir, als bereitete es ihm Mühe, die unausgesprochenen Worte bei sich zu behalten. Seine Blikke vollführten einen raschen Kreislauf, als glaubte er sich beobachtet. Dabei hatte sich das linke Auge wieder ein wenig träger als das rechte verhalten. Dann sagte er: »Und auch was Philanthropie heißt, weiß ich jetzt. Nur das mit der Haltung, zu der die Adeligen verpflichtet sind, habe ich nicht ganz verstanden.«
»Nun, das kommt schon noch«, sagte ich belustigt. »Übrigens habe ich von humaner Haltung gesprochen.«
Man sah es ihm an, daß er gern gefragt hätte, was das bedeutet, aber es fehlte ihm an Mut.
»Ich wohne hier«, fuhr ich fort, »es war sehr lieb von Ihnen, mich nach Hause zu begleiten. Ich danke Ihnen.«
»Schade«, sagte er, »ich hätte Sie gern bis Hütteldorf gebracht, um mit Ihnen reden zu können. Sie sind so interessant.«
Auch das hat noch niemand gefunden, dachte ich, aber ich sagte nur: »Sie machen mir Komplimente. Leben Sie wohl!« Und ich streckte ihm meine Hand entgegen.
Wieder erfolgte der vollendete Tanzstundenhandkuß. Zuerst neigte sich der hübsche Kopf im Stierkalbnacken, und dann beugten sich die breiten Sportlerschultern tief über meine Hand. Wieder berührten die Lippen so sacht meine Haut, als gelte der Kuß einer Reliquie. Dabei fiel das etwas zu lange und zu blonde Haar nach vorn und streifte kitzelnd mein Handgelenk.
Als ich eine Minute später in meinem Zimmer stand, fühlte ich mich plötzlich so schläfrig, daß ich, ohne etwas zu essen, zu Bett ging. Ich löschte das Licht und meinte, ich könnte mir ja im Dunkeln den ganzen heutigen Abend und namentlich die merkwürdige Bekanntschaft durch den Kopf gehen lassen. Aber ich schlief sofort ein und erwachte erst beim Schrillen des Weckers.
Aufstehen, waschen, anziehen, aufräumen, Frühstück – der alltägliche Leerlauf, dem nur die Eile ein wenig Gehalt verlieh. Erst in der Straßenbahn, als ich ins Geschäft fuhr, fiel mir der junge Mann in aller Deutlichkeit ein. Das merkwürdige Mißverhältnis zwischen seinen gepflegten Umgangsformen und seiner offensichtlichen Ignoranz schien mir heute noch verwirrender als gestern. Aber soviel ich darüber in den nächsten Tagen auch nachgrübelte, ich fand keine Erklärung. Und die Episode, die sich vierzehn Tage später ereignete, war nicht gerade dazu angetan, das Rätsel zu lösen.
Es war an einem sehr sonnigen Frühlingsmorgen. Ich trat gerade aus dem Laden meiner Milchhändlerin, bei der ich Brot, Semmeln und Rahm gekauft hatte, und wollte die Tasche daheim abstellen, ehe ich ins Geschäft fuhr.
Vor dem Laden hielt das Lieferauto der Anker-Brotfabrik. Die Tür des Packraums stand offen, und ein Mann war damit beschäftigt, die leeren Semmelkörbe im Inneren zu verstauen. Da sprang der Chauffeur aus dem Wagen und kam mit einem sehr nasal betonten: »Ich küß die Hand, Gnädigste!« auf mich zu.
Es dauerte eine Sekunde, bis ich wußte, wer vor mir stand. Ich streckte wortlos die Hand aus und genoß mit einer Rührung, die mich selber befremdete, den Anblick der Handkußprozedur, die sich nun in allen Phasen wiederholte. Ich spürte die zärtliche Berührung der Lippen und die kitzelnde der allzu blonden, allzu langen Haare. Aber ehe ich etwas sagen konnte, war der Alte hinten mit seinen Semmelkörben fertig und rief etwas in unartikulierten Lauten, die sich kaum die Mühe nahmen, Worten zu ähneln. Der junge Mann warf den Kopf ärgerlich herum, wandte sich aber gleich mit entschuldigendem Lächeln an mich.
»Sie müssen mir verzeihen; das ist halt mein Dienst.«
Er sprang ins Auto. Der andere kletterte brummend hinterdrein und schlug die Tür zu. Ich sah noch, wie sich die schöne linke Hand des Chauffeurs mit der allzu kleinen Armbanduhr zu einem winkenden Gruß vom Lenkrad hob, dann fuhr das Auto davon.
Und wie du zu den Logensitzen gekommen bist, Ernstl, das habe ich erst viel später erfahren.
BRIEFWECHSEL