Waldlichter. A. V. Frank

Waldlichter - A. V. Frank


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Aussehen, dass man vor Erstaunen innehalten musste. Ich hatte mich noch nicht wieder gefasst, als Tran schon anfing, den Boden nach einem frisch abgefallenen Blatt abzusuchen.

      Ana gesellte sich zu ihr, als sie jedoch merkte, dass ich nicht mithalf, sagte sie: „Hilfst du uns oder starrst du den Baum noch länger an? Uns bleibt keine Zeit zum Bestaunen!“ Sie drehte sich wieder um und suchte weiter.

      Ich riss mich mit Mühe von dem Baum los und begann ebenfalls, den Boden mit meinen Blicken abzutasten. Wir gingen wieder und wieder um den Baum herum, doch nirgends war ein Blatt zu finden.

      Wir standen im Kreis und beratschlagten, was wir jetzt tun konnten, als Ana auf einmal einen überraschten Ton ausstieß. „Seht, da!“

      Sie zeigte nach oben, wir folgten ihrem Blick und beobachteten, wie langsam ein Blatt herabgesegelt kam und genau in unserer Mitte landete. Verwundert starrten wir es an, dann hob ich es auf und legte es auf die Wurzel, die wir zuvor ausgesucht hatten. Sie stand ziemlich weit aus dem Boden hervor und hatte nach oben hin eine abgeflachte Stelle. Das Blatt war sogar gebogen, sodass es eine perfekte Schale bildete. Ich holte mein Handy heraus und der Sommernachtstraum erschallte. Ein Windstoß ließ die Blätter rascheln und Ana musste unser Blatt festhalten, sonst wäre es weggeflogen.

      Tran drängte: „Gleich ist es Mitternacht, beeilt euch!“

      Ich nahm die Scherbe aus dem Seitenfach meines Rucksacks, als mir etwas einfiel: „Das Wasser! Wir haben kein Meerwasser. Was machen wir jetzt?“ Ana sah mich schockiert an, auch sie hatte es komplett vergessen.

      Da lachte Transca kurz auf und zog eine kleine Flasche aus ihrer Tasche. „Ich war gestern noch am Meer und habe mich darum gekümmert. Schön, dass ihr jetzt wieder dran gedacht habt.“ Sie grinste und nickte in Richtung meiner Hand, die sich um die Scherbe geschlossen hatte. Ich öffnete sie und bemerkte, dass ich mich bereits geschnitten hatte. Schnell ließ ich ein paar Tropfen Blut in das Blatt fallen, während ich die Scherbe an Ana weitergab.

      „Ich hoffe doch, ihr habt kein Aids“, sagte sie, stach sich jedoch gleichzeitig, ohne zu zögern, in den Finger, reichte die Scherbe weiter und ließ ebenfalls Blut in das Blatt tröpfeln. „Ist das ekelhaft“, maulte sie und steckte sich den verletzten Finger in den Mund.

      Während Tran zögernd ihr Blut dazugab, öffnete ich die Flasche mit dem Wasser, hielt aber noch mal kurz inne. „Wie viel soll ich hineinkippen?“

      Ana nahm mir wortlos das Gefäß aus der Hand und tropfte vorsichtig Wasser auf unser Blut. In dem Moment erreichte die Musik ihren Höhepunkt und wieder traf uns unvorbereitet ein heftiger Windstoß. Diesmal waren wir aber zu langsam, das Blatt hob ab, tanzte in der Luft, doch die Flüssigkeit schwappte nicht heraus. Die natürliche Schale wirbelte über der gesamten Lichtung herum, schien im Takt von Mendelssohns Klängen dahinzuschweben. Plötzlich flaute der Wind ab und das Blatt verlor an Höhe. Es war inzwischen an der gegenüberliegenden Seite der Lichtung angekommen, als es sich drehte und den Boden mit unserem von Meerwasser durchsetzten Blut tränkte. In dem Moment schien die Erde zu erbeben, wir stolperten, hielten uns aneinander fest. Mir war, als ob sich ein Schleier vor meinen Augen hob, und ich sah auf einmal mehr als nur den nächtlichen Wald. Dort befand sich ein Pfad, vorher verborgen vom spärlichen Unterholz, und an den Bäumen hingen kleine Laternen, sie waren geformt wie Blätter und ein diffuses Licht schimmerte aus ihnen hervor.

      Verwirrt sah ich die anderen an, als ich erkannte, dass die Buche in insgesamt sieben Farben erstrahlte, zu schwach und unauffällig, als dass man es sofort wahrnahm, aber mir war sofort das violette Glühen des oberen Stammabschnitts ins Auge gefallen. Auch die anderen beiden starrten wortlos auf die Szenerie. Tran tat das eher verwundert als erschrocken, musterte zuerst den Baum, dann den neu entstandenen Weg, wohingegen Anas Blick immerzu von einem Wunder zum anderen sprang, was ziemlich lächerlich aussah. Ich verkniff mir ein Lachen und staunte lieber noch selbst etwas.

      Schließlich hatten wir uns wieder einigermaßen beruhigt und gingen vorsichtig auf den Weg zu. Nichts passierte.

      Instinktiv hielt ich die anderen noch einmal zurück. „Euch ist klar, dass wir jetzt eine komplett andere Welt betreten werden?“

      Ana nickte nur, konnte ihre Augen nicht von den Lampen wenden.

      Tran jedoch runzelte die Stirn und sagte: „Bist du dir sicher, dass es eine neue Welt ist? Woher willst du wissen, dass es nicht nur ein besonderer Teil unseres eigenen Universums ist?“ Ohne ein weiteres Wort trat sie unter die Lampen.

      *

      Kapitel 9

      Nicja sah dem Falken traurig nach. Sie bedauerte es, ihn wegschicken zu müssen, doch sie hatte keine Wahl. Nun flog er dem fernen England entgegen, ohne zu wissen, wohin er genau musste oder was das für eine Toúta war, in die sie ihn geschickt hatte. Aber sie konnte es nicht riskieren, ihn bei sich zu behalten. Sein Verrat war zwar verständlich, deswegen aber nicht weniger gravierend gewesen. Und auch wenn es nicht hätte sein müssen, so war sie doch von anderen dazu gezwungen worden. Sie, die mächtigste Frau der Toúta. Die Umstände hatten sie zu einer anderen werden lassen. Hatte ihr Bruder recht? Verlor sie das Vertrauen ihrer Schutzbefohlenen? Das ihres Pflegeneffen hatte sie durch ihre Entscheidung auf jeden Fall eingebüßt.

      Plötzlich fassten Nicja von hinten zwei starke Hände sanft an den Schultern. Sie stieß einen spitzen Schrei aus und sprang einen Meter nach vorne, während sie sich umdrehte. Ihre Hand war an den Schwertgriff gefahren.

      Mit einem spöttischen Grinsen im Gesicht stand Morin nun einen Meter vor ihr und zog überrascht eine Augenbraue nach oben. „Worüber grübelst du so vertieft?“ Er kam übertrieben langsam auf sie zu, damit er sie nicht wieder erschreckte.

      „Es gibt viel, was meiner Aufmerksamkeit bedarf. Und zu viele Probleme, für die ich keine Lösung habe. Wie konnte ich ihm das antun? Diese Toúta in England ... das ist nicht gerechtfertigt. Oder etwa doch?“ Sie schaute ihn unglücklich an und er schloss sie in seine Arme.

      „Diese Frage kann ich dir nicht beantworten, das weißt du. Ich könnte dich jetzt mit Lügen abspeisen, doch es würde dir nicht helfen. Was willst du also hören?“, fragte er mit sanfter Stimme.

      „Wie wäre es mit: Es wird alles gut?“

      „Das kann ich nicht wissen, wie könnte ich es dir dann sagen?“ Sie ließ müde ihren Kopf gegen seine Brust sinken und schloss die Augen. Er strich ihr sacht über das Haar, dann fügte er hinzu: „Ich bin gekommen, um dich daran zu erinnern, dass du heute auf die Versammlung musst. Du solltest bald losfliegen.“

      „Das werde ich. Die anderen Mycidjae werden nicht auf mich warten müssen.“ Sie küsste ihn zart und machte sich auf die Suche nach ihren Geschwistern. Cobruna fand sie in ihrem Gemach vor, wo sie dabei war, ihren schwarzen Umhang überzuziehen.

      „Du bist ja immer noch nicht reisefertig“, stellte sie fest, als Nicja den Raum betrat. Schnell reichte sie ihr ein elegantes Reisegewand mit kunstvollen Stickereien und sagte: „Beeil dich mit dem Umziehen, ich rufe unsere Brüder zusammen, sonst kommen wir zu spät.“ Und schon rauschte sie aus dem Zimmer.

      Nicja zog schnell die Kleidung über, die genau wie die ihrer Schwester in Schwarz gehalten war, bürstete sich ihr Haar und strich die Gewänder glatt. Als sie mit ihrem Aussehen zufrieden war und vor die Tür trat, wurde sie schon erwartet. Drei große Eulen, ein Uhu, Rijon, eine Schleiereule, Cobruna, und ein brauner Waldkauz, Conàed, saßen dort und schuhuten leise. Sie lächelte und verwandelte sich selbst in eine große Schneeeule.

      Zusammen flogen sie ostwärts, über Irland hinweg, welches langsam in der Dunkelheit verschwand. Sie flogen einen ganzen Tag, passierten das Meer und zahlreiche kleine Inseln, ebenso wie England. Dann drehten sie ab, flogen nach Norden, bis sie die Insel Unst erreicht hatten. Diese gehörte zu den Shetlandinseln, dort gab es außer vielen großen Wiesen einen riesigen, naturbelassenen Wald zwischen den Seen North Water und Heimar Water, wie die Menschen sie nannten. Dieser war das Ziel der Eulen, denn hier stand der Hochaltar Varas. Dort trafen sich alle zwei Jahre in der Mittsommernacht die Mycidjae


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