Waldlichter. A. V. Frank
an und sagte: „Menschen haben unseren Schutzzauber durchbrochen und sind in Sarscali. Wir müssen sofort zurück!“
Ein paar Mycidjae, die in der Nähe gestanden und alles mit angehört hatten, schnappten nach Luft. Nicja schaute Cobruna noch einen Moment abschätzend an, dann rannte sie zu Sally. Sie erntete böse, pikierte Blicke, denn es war verboten, in dieser Zeit und an diesem Ort Hast und Eile zu zeigen.
Sally schaute sie ebenfalls verwirrt an, doch als Nicja ihr die Situation kurz erklärt hatte, sagte sie nur: „Fliegt los und mögen der Wind und das Glück mit euch sein!“
Dankbar nickte Nicja ihr zu und schneller, als sie es je zuvor vermocht hatte, wurde sie zur Schneeeule und stieg mit ihren Geschwistern in den Nachthimmel auf.
Ganze zwei Tage hatten sie ihren Stamm allein gelassen und nun, kurz nach Mitternacht, war das Unfassbare geschehen, irgendwelche Menschen hatten es geschafft, den starken Zauber zu brechen, der sie alle beschützte. Sie fürchteten den Entdeckerdrang der Menschen und ihre Art, mit fremden Kulturen umzugehen, fast so sehr, wie sie die Duorc fürchteten.
Da kam Nicja eine Zeile aus dem Orakelspruch in den Sinn, die sie bisher nicht in Ruhe gelassen hatte. „Ihr werdet Hilfe finden bei denen, die ihr fürchtet.“ Konnte das möglich sein? Sollten erneut Menschen das Geschick ihres Stammes lenken? Waren etwa nun genau diese Menschen zu ihnen gestoßen? Was, wenn Morin sie töten ließ? Diese Gedanken lagen schwer wie ein ganzer Berg auf ihren Schultern und verpassten ihr zugleich solch einen Energieschub, dass sie schneller flog denn je. Doch sosehr sie sich auch beeilten, der Morgen kam, machte der heißen Mittagssonne Platz, die dann erschreckend schnell im Meer verschwand.
Endlich strebten sie auf ihren Wald zu. Sie landeten schwer atmend in ihrem Palast, verwandelten sich sofort zurück und rannten auf den großen Versammlungsplatz, wo die anderen Draugrande sie bereits erwarteten. Dort standen Tyr und Morin und betrachteten prüfend drei Mädchen, die an die Linde gefesselt worden waren.
„Macht sie sofort frei!“, rief Nicja mit donnernder Stimme.
*
Kapitel 10
Merlandra sank mit dem Fuß im morastigen Boden ein. Sie hasste die Gegend, in der sie nun schon seit zu langer Zeit leben musste. Mit einem schmatzenden Geräusch zog sie ihren Fuß aus dem Sumpf und stellte ihn auf den trockenen Weg. Angewidert sah sie sich um. Nur verfaulte Bäume, tote Sträucher und noch mehr Sumpf. Jeden Tag die gleiche Ödnis. Immer wieder ein Tag mit fahler Sonne und unsichtbarem Mond. Nichts veränderte sich hier draußen.
Sie wandte den toten Bäumen und kahlen Gerippen ehemaliger Büsche den Rücken zu und betrachtete die Siedlung. Ein paar armselige Hütten aus Holzbrettern duckten sich auf den wenigen trockenen Flächen. Ein paar Meter weiter auf einer anderen kleinen Insel standen drei weitere kleine Hütten. Diese Inseln, die sich überall im Sumpf befanden, waren die einzigen Orte, wo sich eine Bevölkerung wie die ihre wirklich niederlassen konnte.
So lebten sie alle verteilt und zerstreut, ohne regelmäßig Kontakt miteinander aufzunehmen. So war es zumindest gewesen, bis Sie gekommen war. Sie hatte angefangen, den Sumpf zu verändern, ihn teilweise trockenzulegen und bewohnbarer zu machen. Im Grunde war Sie eine von ihnen. Auch Sie betete den Düsteren an, verlor sich in ihm in dunklen Nächten. Doch Sie war eine Auserwählte des Düsteren, des Herrschers des Sumpfes und schon bald der Welt. Er hatte Sie zur Anführerin, zur Königin gemacht. Und Sie war grausam, grausamer als alle anderen vor ihr. Es war verboten, ihren Namen zu sagen oder auch nur zu denken, Sie wollte von allen nur die Dunkle genannt werden.
In der Mitte des Sumpfes hatte die Dunkle einen großen Platz austrocknen lassen und dort aus dem Metall des Düsteren einen Tempel bauen lassen, riesig und drohend. Er erhob sich in den Himmel und erinnerte auf groteske Art an eine riesige Krähe, das Wahrzeichen des Düsteren.
Die Dunkle lebte in diesem Tempel und überwachte von dort die Arbeiten im Sumpf. Und sie, Merlandra, war die Tochter der Dunklen und Zarans, die sich eines Nachts vereinigt hatten. Dabei war sie entstanden, eine Halbgöttin, dazu wurde sie jedenfalls erzogen. Denn Zaran, der Geliebte ihrer Mutter, galt als Stellvertreter des Düsteren auf Erden und wurde als Gott verehrt. Aber trotz allem war sie dazu verdammt, in diesen stinkenden Hütten zu hausen mit einer Frau, die gegensätzlicher nicht sein konnte.
Raja war für ihre Verhältnisse klein, zierlich und bunt. Ihre Wangen waren leicht rosig und ihr kurzes Haar, eine Seltenheit, zeigte sogar einen Grauschimmer. Da sie durch ihren schlechten Körperbau nicht in der Lage war, viel bei den Bauarbeiten zu helfen, war sie dazu bestimmt, auf Merlandra aufzupassen, die schließlich noch keine drei Jahre alt war. Doch Wesen ihrer Art alterten schnell und so zählte Merlandra schon bald nicht mehr als Kind.
Raja war schon sehr alt, eine der Ältesten im Volk, und sie hatte ihr Geschichten erzählt, wie es früher gewesen war. Als der Sumpf noch eine Aue gewesen war. Sie hatte ihr erzählt, dass das Sumpfvolk, wie sie von den Fidnirk genannt wurden, von ebenjenen abstammte und in jeder einzelnen der verkommenen Gestalten hier ein Hauch Fidnirktum verborgen war. Raja galt, soweit das in ihrer Gesellschaft vorhanden war, als eine Weise.
Doch weiter hatte Merlandra ihr nie zugehört, es interessierte sie nicht, dass sie etwas mit denen, die sie hier einsperrten, zu tun haben sollte. Wie sie in ihren Bäumen lebten, zu fein, um sich die Lebensbedingungen des Volkes, das sie unterdrückten, genauer anzuschauen. Sie flogen nur über sie hinweg und beobachteten sie, ohne jemals zu helfen.
Merlandras Mutter hatte ihr erzählt, dass die Fidnirk sie gefangen hielten in diesem Käfig, um sie ihren vielen Göttinnen zu opfern. Sie hatte das Wort Ketzer benutzt, doch Merlandra hatte nicht verstanden, was damit gemeint war. Auch das interessierte sie nicht. Sie wollte lieber den Wald sehen, anstelle der Fidnirk regieren und diese unbekannten, bösen Wesen im Sumpf vergehen sehen. Den Gedanken, etwas mit ihnen gemein zu haben, ließ sie nicht einmal im Entferntesten zu. Sie wollte ihre Rache für die Ungerechtigkeit, die ihrem Volk widerfahren war, und sie würde sie bekommen.
Raja konnte sich nicht erklären, wieso sie auf dieses Gör von Königstochter aufpassen sollte. Wieso kümmerte sich die ehrenwerte Königin nicht selbst um ihr Kind? Tarwod – oder Nomennoth, wie die Fidnirk ihn nannten ‒ mochte ihr vergeben, dass sie die Dunkle angriff, aber sie hatte wahrlich Besseres zu tun, als Kindermädchen zu spielen. In diesem Moment kam Merlandra zur Tür herein und ließ sich auf einen Schemel sinken. Ein Fuß war voller Moorerde und sie schien nur darauf zu warten, dass ihr armes, altes Kindermädchen ihr den Fuß abwusch. Dieses jedoch dachte nicht im Traum daran und ignorierte ihren Schützling komplett. Bald wäre sie Merlandra los, das hatte die Dunkle ihr versprochen. Und dieses Versprechen würde sie halten oder es gab bald keine Merlandra mehr, dafür würde sie selbst sorgen. Zur Not würde es einen Unfall im Moor geben. Sie war es nicht wert, dass Raja sich an ihr die Hände dreckig machte. Die Spinnen, ihre treu ergebenen Diener, würden sich ganz sicher um sie kümmern.
Raja verzog ihren Mund zu einem spöttischen Grinsen. Leider sah Merlandra es und fragte mit unnatürlich erwachsener, grausamer Stimme: „Denkst du über meinen Tod nach, Raja? Stellst du dir vor, wie es wäre, mein Leben verlöschen zu sehen? Man sieht es dir an. Das wird nicht so leicht, wie du dir das denkst. Außerdem wird es keinen Grund dazu geben, denn meine Mutter wird mich bald zu sich holen. Dann kann ich diesen schrecklichen Teil des Sumpfes verlassen, in dem nichts passiert, dann bin ich dich los, die du immer nur über meinen Tod grübelst. Und meine Mutter, die Dunkle, die Gemahlin Tarwods, wird mich zur Herrscherin ausbilden.“ Den letzten Satz spie sie förmlich aus, ihre Augen glänzten und ihre Hände spreizten sich.
Raja blieb davon unberührt, ignorierte ihr Gehabe. Sie war zwar schon fast kein Kind mehr, benahm sich aber noch immer wie eines. „Zieh dir etwas Ordentliches an, Merlandra, wir gehen deine Mutter besuchen.“
„Woher willst du wissen, dass sie zurück ist? Sie hat mir gesagt, dass sie erst zum Ritual wiederkommt.“
„Soeben habe ich Nachricht erhalten, es sei etwas passiert, sodass sie eine Versammlung einberufen habe. Also tu, was ich dir gesagt habe.“
Sie