Turmschatten. Peter Grandl
Dagegen halfen selbst seine hochdosierten Schlaftabletten nicht. Die Albträume, die ihn quälten, hatten sich im Laufe der Jahre gewandelt. Aus dem Kind war in den Träumen ein Mann geworden, kein Gefangener, ein Rächer. Ein kaltblütiger Vollstrecker, der im Blut seiner Opfer watete. Es waren nicht mehr die leblosen Augen seiner Mutter, die ihn verfolgten, es waren die weit aufgerissenen Augen von SS-Offizieren, die nicht fassen konnten, dass er ihnen soeben die Kehle aufgeschlitzt hatte und ihnen beim Sterben zusah.
Doch seit Rabbi Moshe Esther Goldstein vor einem halben Jahr in seine Obhut gegeben hatte, verschwanden diese Bilder nach und nach, und Ephraim fand Frieden in der Nacht. Vor vier Wochen hatte ihm Esther schließlich die Schlaftabletten entzogen, hatte ihm seine Angst vor den Nächten mit einem bitter schmeckenden Kräutertee genommen und war bei ihm, wenn seine Schreie die Ruhe des Turms zerrissen. Wie ein Engel erschien sie dann neben seinem Bett, hielt seine zitternde Hand und kühlte sein Gesicht mit einem nassen Tuch, bis er wieder eingeschlafen war.
Längst war ihm klar geworden, dass nicht er Esther ein neues Zuhause gab, sondern Esther diesen Turm erst zu seinem neuen Zuhause machte. Mit ihrer Hilfe schien es fast so, als könnte er nach so vielen Jahren des Hasses endlich loslassen und ein neues Leben beginnen. Gleichzeitig war ihm aber bewusst, dass dieses liebliche, einzigartige Geschöpf wie eine verletzliche Pflanze auch auf seine Fürsorge angewiesen war.
Als vor zwei Jahren Ephraim erstmals wieder deutschen Boden betreten hatte, lernte er Rabbi Shlomo Moshe kennen. Wahrscheinlich war es Neugierde, die ihn an einem Sabbat in die provisorische Synagoge trieb, oder es war das Verlangen nach menschlicher Nähe, aber es war ganz sicher kein religiös motivierter Besuch, denn Ephraim war kein gläubiger Mensch. Im Gegenteil, er hatte mit Gott gebrochen und seiner tiefsten Überzeugung nach auch Gott mit ihm.
Doch Rabbi Moshe hatte eine Gabe. Diese Gabe bestand darin, Menschen zum Sprechen zu bringen, ohne ihnen Fragen zu stellen. Dabei blickte er ihnen tief in die Seele und baute etwas auf, was stärker war als bedingungsloser Glaube: Vertrauen.
Rabbi Shlomo Moshe empfand es als Fügung Gottes, dass Ephraim Zamir und Esther Goldstein in sein Leben getreten waren und er sie zusammengeführt hatte.
Alles begann mit einer unfassbaren Katastrophe.
Am 6. März 2008 war ein Palästinenser in die Religionsschule Merkas Harav in Jerusalem eingedrungen. Er war mit einer Kalaschnikow und einer Pistole bewaffnet und schoss rund zehn Minuten lang um sich. Ein Offizier der israelischen Armee, der zufällig die Schüsse hörte, eilte zu Hilfe, erschoss den Attentäter und bereitete dem Blutbad ein Ende. Neun Schwerverletzte und acht Tote waren das tragische Resultat des Massakers gewesen.
Unter den Opfern war die gesamte Familie einer fast taubstummen, einundzwanzigjährigen Frau sowie ein Rabbi, der diese Frau schützend zu sich riss, während sein Rücken von Kugeln zerfetzt wurde. Nach Bekanntwerden des Attentats strömten in Gaza tausende Palästinenser auf die Straße und feierten.
Zahlen haben etwas erschreckend Nüchternes. Ob neun Tote oder sechs Millionen Tote, Schreckensmeldungen werfen uns erst aus der Bahn, wenn eines der Opfer ein Bekannter ist, ein Freund oder ein Familienmitglied. Es war diese simple Tatsache, an die Rabi Moshe immer wieder denken musste, als er vom Schicksal seines Bruders erfuhr, der noch im Tod eine junge Frau gerettet hatte.
Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er den Talmud infrage stellte, in dem stand: »Wer nur ein einziges Leben rettet, der rettet die ganze Welt.«
Sein Bruder hatte eine junge Frau gerettet – aber damit auch die ganze Welt? War das Leben seines Bruders weniger wert gewesen als das der taubstummen Frau?
Allein dass er sich in einem Moment der Schwäche diese Fragestellung erlaubt hatte, brachte den Glauben an sein heiliges Gelöbnis ins Schwanken. Wie konnte er nur an Gott zweifeln, wie konnte er aus reiner Selbstsucht auch nur für eine Sekunde darüber nachdenken, ob das aufopferungsbereite Dasein seines Bruders mehr wert war als das Leben dieser Frau?
Schließlich erkannte er für sich, dass diese schwere Stunde eine Prüfung war, auch wenn ihm der tiefere Sinn dahinter verborgen blieb. Er begann, Nachforschungen anzustellen, und schon bald hatte die junge Frau einen Namen: Esther Goldstein.
Mit dem Namen schwand die Distanz, Esther war nicht länger eine Unbekannte. Mit jedem Tag, den er damit verbrachte, mehr über dieses Mädchen in Erfahrung zu bringen, wurde sie ihm vertrauter: Esther. Esther, die sein Bruder gekannt hatte. Esther, für die sein Bruder gestorben war. Esther, deren Schicksal sich plötzlich unweigerlich mit dem seinen verknüpfte.
Esther war nach dem Anschlag in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Die körperlichen Verletzungen beschränkten sich auf Schrammen, Prellungen und eine Gehirnerschütterung, die darauf zurückzuführen waren, dass der leblose Körper ihres Retters sie mit voller Wucht umgeworfen und unter sich begraben hatte. Fast eine Stunde dauerte es, bis die Rettungskräfte entdeckten, dass die regungslose Frau noch am Leben war. Eine Stunde, bis sie die Körper voneinander trennten. Es war nicht nur ihre Hörbehinderung, die verhinderte, dass Esther auf keine der Fragen von Ärzten oder Polizisten reagierte, es war die Tatsache, dass alle Menschen, die sie liebte und denen sie vertraut hatte, nun tot waren. Ausgelöscht. Unwiderruflich und endgültig. Als man sie drei Monate nach dem Attentat nach Hause brachte, hatte man zunächst das Gefühl, Esther wäre stabil und könnte mit psychologischer Hilfe wieder in ihr normales Leben zurückfinden. Noch bei der Verabschiedung an der Haustür des kleinen Einfamilienhauses hatte sie gelächelt und den Eindruck erweckt, als wäre sie auf einem guten Weg. Doch kaum war die massive Haustür ins Schloss gefallen, kauerte sich Esther in eine Ecke, zog die Knie fest an sich, während sie die vertraute Umgebung auf sich wirken ließ.
Die Zeit war an diesem Ort stehen geblieben.
Das Haus war genauso geblieben, wie sie es vor drei Monaten verlassen hatten, um Esther zu ihrer neuen Stelle in der Religionsschule zu bringen. Es war hektisch gewesen. Ein feierlicher Moment hatte bevorgestanden. Die fast taubstumme Esther, von der man angenommen hatte, dass sie nie eine Arbeitsstelle finden würde, hatte in der Religionsschule einen Job als Betreuerin bekommen. Ihre Eltern, ihr Großvater und ihre zwei Brüder hatten beschlossen, sie zu ihrem ersten Arbeitstag zu begleiten. David, der Jüngere, war erst elf Jahre alt. Er hatte beim Frühstücken vor lauter Aufregung eine Tüte Milch verschüttet. Ihr Stiefvater musste seine schimpfende Frau beruhigen und hielt sie schließlich davon ab, die Milchlache aufzuwischen. Es war spät geworden, und er hasste Unpünktlichkeit. Er trieb die Familie zur Eile, und als endlich alle in den Familienvan gestiegen waren, lagen im Hausflur verstreut Schuhe, eine Winterjacke und Davids Schulranzen, den man in der Hektik vergessen hatte.
Drei Monate waren vergangen. Nichts wirkte real. Es war, als würde sie ein Foto aus einer glücklichen Vergangenheit betrachten. Gerade noch schlug die Tür auf, sah sie David und konnte fast sein aufgedrehtes Lachen hören und ihren Stiefvater, der zur Eile mahnte.
Doch die Tür war geschlossen, für immer. Sie wartete, dass ihre Familie zurückkehren würde, starrte auf die Tür. Nichts rührte sich. Niemand würde Davids Schulranzen abholen oder die Schuhe aufräumen. Niemand würde ihn jemals wieder ermahnen, sie nicht zu hänseln, wie er es auch an jenem Morgen getan hatte. »Und fang bloß nicht an, am ersten Tag alle vollzuquatschen, Esther …« Sein frech grinsendes Gesicht erschien vor ihr und wurde plötzlich in einer Wolke aus rotem Blut zerfetzt.
Es mussten Stunden vergangen sein, die Esther reglos verbrachte, denn die Sonne stand bereits tief am Horizont und die Schatten des Schulranzens, der Schuhe und der umgefallenen Milchtüte rückten immer näher.
Dann schrie sie. Sie schrie minutenlang. Doch sie konnte ihren eigenen Schrei nicht hören und versuchte lauter zu schreien, bis ihre Kehle brannte und ihre Stimmbänder erlahmten. Schließlich stand sie auf, stieg über die eingetrocknete Milchlache, nahm das Obstmesser ihrer Mutter und schnitt sich die Pulsadern auf. Das Letzte, was sie dachte war: Endlich frei.
Rabbi Moshe traf Esther in Jerusalem in einer psychiatrischen Anstalt. Die Nachbarn hatten Esthers Schreie gehört und die Polizei alarmiert. Die Hilfe kam schnell, gerade noch rechtzeitig. Noch immer galt sie als stark suizidgefährdet. Als Rabbi Moshe sie zum ersten Mal besuchte, hatte man sie an ihr Bett fixiert. Behutsam versuchte er,