Turmschatten. Peter Grandl

Turmschatten - Peter Grandl


Скачать книгу
wie sie ihm half, seine Vergangenheit zu überwinden, aber er schwieg und nickte nur verständnisvoll.

      »Ich weiß, Rabbi, ich weiß. Ich werde immer da sein für sie, ich verspreche es.«

      Der Rabbi hegte keinen Zweifel an Ephraims Absicht, aber die Ungewissheit über die Herkunft und die Vergangenheit dieses Mannes nagte an ihm. Geduldig hatte er gewartet, dass Ephraim sich ihm eines Tages öffnen würde. Doch nichts dergleichen war geschehen. Nun aber waren Dinge im Gange, die ihn dazu bewegten, deutlicher zu werden.

      »Lieber Herr Zamir, bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber Sie sind nun seit über einem Jahr Mitglied unserer kleinen Gemeinde, kommen regelmäßig zum Sabbat, aber keiner aus der Gemeinde kennt Sie – keiner kennt Ihre Familie, keiner kennt Ihre Geschichte. Und dann nehmen Sie Esther auf wie eine Tochter und wollen der Gemeinde das fehlende Geld für den Bau unserer Synagoge stiften.«

      Ephraim hatte gewusst, dass das eines Tages zur Sprache kommen würde; trotzdem traf es ihn unvorbereitet. Er war noch nicht so weit. Er wusste auch nicht, ob er je so weit sein würde.

      »Herr Zamir, wir müssen Ihnen vertrauen, Sie müssen uns vertrauen. Es gibt viele Mitglieder, die für den Bau der neuen Synagoge etwas gespendet haben. Manche wenig, manche etwas mehr. Aber es ist das Geld von Menschen, die wir kennen, es ist … Bitte verstehen Sie mich nicht falsch …«

      Ephraim merkte, wie unangenehm dem Rabbi dieses Gespräch war.

      »… aber es ist gutes Geld. Der Gemeinderat sagt, solange wir nicht wissen, wer Sie sind und woher das Geld kommt, können wir es nicht annehmen. Verstehen Sie, Herr Zamir?«

      Ephraim verstand nur zu gut, aber er glaubte auch, dass der Gemeinderat das Geld nicht nehmen würde, wenn er ihnen ehrlich sagen würde, wer er wirklich war und wie er zu seinem Vermögen gekommen war.

      In der Ferne beobachtete er, wie Esther Herrn Salzberg seinen Hut brachte und dieser sie mit zu seinem Wagen nahm. Zamir wandte sich wieder dem Rabbi zu. »Rabbi Moshe, es wird der Tag kommen, da werde ich Ihnen alles erklären. Aber nicht jetzt, nicht morgen und auch nicht diese Woche. Sie müssen Geduld haben, bitte … Geduld und Vertrauen.«

      Doch so leicht gab sich der Rabbi nicht geschlagen.

      »Geduld braucht Zeit, Herr Zamir, Geduld braucht Zeit – und Zeit scheinen wir nicht mehr zu haben.«

      Ephraim hatte in keiner Weise damit gerechnet, dass der Rabbi ihm weiter zusetzen würde. Es war überhaupt nicht dessen Art, weder nach der Predigt einem seiner Gemeindemitglieder nachzulaufen noch derartigen Druck auszuüben.

      Nervös nestelte der Rabbi an seinem langen grauen Bart.

      »Was ist los, Rabbi Moshe?«

      Der Rabbi atmete tief durch, so als müsste auch er sich überwinden, die Frage seines Gegenübers zu beantworten. Der Wagen von Herrn Salzberg verließ soeben den Gemeindeparkplatz. Es schien fast so, als hätte der Rabbi auf dieses Zeichen gewartet.

      »Etwas Grauenvolles ist geschehen. Ich weiß, es ist Sabbat, aber ich möchte Sie bitten, mich zu begleiten in das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder.«

      Ephraim schüttelte den Kopf. »Begleiten? Ich verstehe nicht …«

      Für einen Moment öffneten sich tausend Türen zur Vergangenheit in seinem Kopf. Würde er denn nie zur Ruhe kommen, hatten ihn seine Taten nun bis hierher verfolgt?

      »Frau Dr. Seligmann liegt dort. Sie wurde gestern überfallen.«

      Ephraim höre den Namen und war erleichtert, zugleich aber auch besorgt. Ungläubig wiederholte er den Namen.

      »Frau Seligmann, die Stadträtin?«

      Der Rabbi nickte.

      –

      Herr Salzberg setzte Esther kurz nach zwölf Uhr vor dem Portal des Turms ab und winkte ihr durch das Seitenfenster. Er hatte ein gütiges, pausbackiges Lächeln. Sein eingedrückter Hut saß nun wieder fest auf seinem Kopf und brachte Esther zum Schmunzeln. Sie sah dem klapprigen Wagen mit den vielen Roststellen noch eine Weile nach, als er den Schotterweg wieder hinunterfuhr und schließlich in der angrenzenden Siedlung verschwand.

      Der Wind war hier oben auf dem Hügel deutlich stärker zu spüren und pfiff um den Turm. Esther stieg die Stufen des Portals empor. Dabei musste sie sich gegen die starken Böen stemmen, bis sie schließlich den Eingang erreichte. Der Wind zog so heftig an ihr, dass sie das Summen des Handys in ihrer Manteltasche nicht spürte.

      Nach Eingabe der Zahlenkombination am Sicherheitsschloss öffneten zwei starke Servomotoren mit einem lauten Surren die Flügeltüren und schlossen sie auch wieder automatisch, nachdem Esther hindurchgeschritten war. Die Tore schnappten laut in das Schloss, dann war es gespenstisch leise.

      Esther hängte ihren Mantel an die Garderobe am Fuß der Treppe und vergaß das Handy in der Tasche, auf dem soeben eine zweite SMS von Ephraim ankam.

      Ihre Schuhe klackten auf dem Steinboden, bis sie im dritten Stockwerk unter dem Dach ankam. Eine massive, helle Holztür mit edel geschwungenem Beschlag markierte den Übergang zum luxuriös ausgestatteten Wohnbereich des Turms, in dem sich Kirschholzparkett, Messingleuchter, handgemalte Aquarelle und altenglische Möbel abhoben vom nüchternen, kalten Treppenhaus, das seit der Entstehung des Turms wohl nicht verändert worden war. In dieser Ebene gab es zwei großzügige Schlafzimmer, ein Badezimmer und Ephraims Arbeitsraum, die alle durch einen schmalen Gang miteinander verbunden waren. Von hier aus führte eine schmale Wendeltreppe direkt in den ausgebauten Dachstuhl, der so hoch war, dass er zusätzlich eine Galerie enthielt, die man über eine schmale, gewundene Holztreppe erreichte. Stand man erst einmal auf der Galerie, konnte man den gesamten Dachstuhl überblicken.

      Kaum hatte Esther das Dachgeschoss betreten, störte ein lauter Signalton die Ruhe des Turms. Gleichzeitig begann die rote Warnleuchte über dem freistehenden Küchenblock grell zu blinken. Freudig, dass Ephraim heimgekehrt war, aktivierte Esther das Touchpad an der Wand neben der Wendeltreppe.

      Gerade als sie den Türöffner betätigen wollte, stellte sie überrascht fest, dass nicht Ephraim am Portal stand, sondern ein schmächtiger Junge mit einer braunen Schirmmütze, der mit verweintem Gesicht in die Kamera über ihm blickte.

      Esther war verunsichert. Sie berührte den Touchscreen, der ihr verschiedene Antwortmöglichkeiten anbot. Sie wählte: Guten Tag, was kann ich für Sie tun?

      Eine mechanische Stimme ertönte am Eingang und stellte die Frage. Der schmächtige Junge wischte sich die Tränen aus den Augen.

      »Ich hatte einen Fahrradunfall, und der Akku von meinem Handy ist leer … und … ich muss meine Eltern anrufen … und … ich wollte fragen, ob ich bei Ihnen …, also, ob ich meine Eltern anrufen kann?«

      Die Antwort des Jungen wurde durch die Spracherkennung als Text auf dem Touchscreen wiedergegeben, allerdings unvollständig und daher für Esther nur schwer verständlich.

      Sie wählte erneut eine vorgegebene Frage aus.

      Bitte sprechen Sie langsamer und wiederholen Sie Ihr Anliegen.

      Wieder ertönte die mechanische Stimme am Eingang. Der Junge schluckte und versuchte nun, sehr langsam und deutlich zu sprechen.

      »Ich hatte einen Unfall, ich muss telefonieren, ich mache auch nichts dreckig.«

      Diesmal übertrug die Spracherkennung die Worte korrekt. Esther war unschlüssig, was sie nun tun sollte. Ephraim hatte ihr immer wieder eingebläut, keine fremden Menschen in den Turm zu lassen, wenn er nicht anwesend war. Aber das hier war doch nur ein harmloser Junge, der sich verletzt hatte und ihre Hilfe brauchte. Sie schaltete am Touchscreen auf Multiview. Der Bildschirm unterteilte sich in vier Kameraperspektiven, die nun die Umgebung rund um den Turm zeigten. Es war weit und breit kein Mensch zu sehen.

      Esther war so darauf konzentriert, das Richtige zu tun, dass sie den Anruf ignorierte, der über die Festnetzleitung des Hauses ankam. Schließlich betätigte sie die Sensortaste. Die schweren Flügeltüren am Portal öffneten sich.

      –


Скачать книгу