Turmschatten. Peter Grandl
dem Festnetz hob sie nicht ab. Der Wagen stand an einer leeren Kreuzung. Die rote Ampel wollte einfach nicht umschalten. Der Wind wirbelte eine Zeitschrift durch die Luft, die mit einem lauten Klatschen direkt auf seiner Windschutzscheibe landete und wieder fortgeweht wurde. Er trommelte nervös mit den Fingern auf dem Lenkrad, sah hektisch nach links und nach rechts, dann gab er Vollgas. Die Reifen drehten durch, der Motor heulte auf, und der Jaguar schoss über die rote Ampel. Es blitzte, aber Ephraim war das vollkommen egal.
Im Krankenhaus hatten sie die Stadträtin Dr. Seligmann getroffen. Sie hatte sehr mitgenommen ausgesehen. Die Nase war bandagiert und ein Auge mit einem Pressverband abgedeckt. Schwer atmend hatte sie dem Rabbi und Ephraim von dem grausamen Überfall berichtet und nur mit großer Mühe über die Lippen gebracht, dass der Überfall nur einem Zweck gedient hatte: Ephraims Identität zu erfahren. Unter Schluchzen hatte sie zugegeben, dass sie den Tätern seinen Namen verraten hatte.
Fluchend war Ephraim sofort aufgebrochen. Seligmanns Ausflüchte hatten ihn nicht mehr interessiert. Diese schwache, dumme Frau! Was wollte sie von ihm? Absolution? Dafür war er nicht der Richtige. Ihm hatte auch niemand Absolution erteilt – auch wenn es dafür genug Gründe gab. Ephraim malte sich das Schlimmste aus. Er hatte unbeschreibliche Angst um Esther. In Situationen wie dieser behielt er normalerweise einen kühlen Kopf, erwog alle möglichen Optionen, doch jetzt warf er seine Erfahrung und seine hervorragende Ausbildung über den Haufen. Es war kurz nach dreizehn Uhr, als er wie ein Wahnsinniger den Stadtring entlang raste. Diesmal ging es nicht um sein Leben, diesmal ging es um das Leben des einzigen Menschen, den er noch hatte.
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Die Flügeltüren öffneten sich vor Thomas Worch. Es erschien ihm fast wie ein Wunder. War ja fast zu einfach, die Judenschlampe zu überlisten, dachte er voller Vorfreude auf das, was sie nun mit ihrem Opfer anstellen würden. Mit einem Griff in die Innentasche seiner Jacke löste er eine vorbereitete SMS an seine Kameraden aus: Bin drin, ihr könnt kommen.
In der anderen Hand hielt er einen schweren, großen Kieselstein, den er in den Rahmen der geöffneten Tür legte, dann betrat er das Treppenhaus. Schon begann sich die Tür wieder zu schließen. Kurz bevor die Tür in das Schloss einrastete, gab es ein lautes Knacken. Thomas befürchtete schon, der Stein wäre zerbrochen, doch der Plan ging auf.
Erst jetzt nahm Thomas Notiz von seiner Umgebung. Das hier war keine Villa, das sah eher nach dem dunklen Verlies einer mittelalterlichen Burg aus. Nirgendwo war ein Fenster zu sehen. Das Licht kam von einer nackten Glühbirne, die von der Decke hing. Neben den Treppenstufen stand ein geschwungener Kleiderständer, an dem ein Mantel hing, sonst war nur schroffer, nackter Stein zu sehen. Das passte so gar nicht in das Bild des reichen Juden, den man ihm auf dem Treffen der Kameradschaft präsentiert hatte. Unsicher stieg Thomas die kargen Treppen empor, die nur durch einen schmalen Handlauf aus verrostetem Metallrohr gesichert war.
Esther wollte gerade ihrem Gast entgegengehen, da bemerkte sie, dass das Licht für einen eingehenden Anruf blinkte, doch das Telefon lag einige Meter entfernt auf dem Couchtisch. Sie ging hinüber, um abzuheben, als das Klingeln verstummte und die Warnleuchte erlosch.
Das Display zeigte Ephraims Gesicht.
Sie würde zurückrufen, dachte sie, und eilte mit dem Telefon in der Hand die Wendeltreppe hinunter in den steinernen Wohnbereich. Kaum war sie an der schweren Holztür angekommen, öffnete sie sich auch schon langsam. Der Junge mit der Mütze kam lächelnd herein. Sie erwiderte das Lächeln und reichte ihm das schnurlose Telefon.
»Elefon, bidde.«
Der Junge nahm es entgegen.
»Danke, vielen Dank.«
Hektisch tippte er eine Nummer ein und hielt sich den Hörer ans Ohr. Esther fiel auf, dass seine Finger zitterten und sich ein Schweißtropfen unter der Kappe löste, der die Schläfe hinunter lief. War er vielleicht schwerer verletzt, als er zugab?
Der Junge senkte den Hörer. »Es hat keinen Empfang …«
Natürlich nicht, fiel Esther ein. Das Telefon funktionierte nur oben im Dachstuhl, hier waren die Mauern des Turms zu dick. Sie ging die Wendeltreppe hinauf und zeigte ihm an, ihr zu folgen.
»Ich vergach, zu sdaage Mauern … Hier oben geh es besser …«
Kaum waren sie oben angekommen, blieb Thomas wie angewurzelt stehen. Etwas Vergleichbares hatte er noch nie gesehen. »Wow, und hier wohnen Sie? Wie abgefahren ist das denn?«
Esther fühlte sich plötzlich unbehaglich. Irgendetwas stimmte nicht, doch sie konnte nicht sagen, was es war.
»Etzt aanrufen, un dann ieder geen«, stammelte sie.
Der Junge tippte erneut eine Nummer in das Telefon. Er hielt den Hörer ans Ohr und nickte ihr zustimmend zu.
»Es geht.«
Ein merkwürdiger, hoher Ton drang an Esther Ohr. Er war kaum wahrnehmbar. Doch er war da, pulsierend, immer wiederkehrend. Bildete sie sich das nur ein? Aber wenn sie ihn hörte, musste der Ton für jeden anderen Menschen ziemlich laut sein.
»Ören Sie das?«, fragte sie den Jungen.
Aber der Junge schüttelte nur nervös den Kopf. Der Rand seiner Kappe hatte sich inzwischen dunkel verfärbt.
»Nein … nein, gar nichts … Ich höre gar nichts …«, las Esther von seinen Lippen ab. Und plötzlich wusste sie, wovor sie die ganze Zeit Angst gehabt hatte: Der Alarm für die Schließanlage war ausgelöst worden. Der Junge musste das hören! Ein panischer Blick auf den Touchscreen an der Wand bestätigte ihre Vermutung. In dicken Buchstaben blinkte dort ein Warnhinweis:
ERROR: DOOR NOT LOCKED
Doch es war zu spät. Sie hatte einen kapitalen Fehler gemacht, den ihr Ephraim nie verzeihen würde.
Der Junge grinste sie höhnisch an und ließ das Telefon sinken. Im selben Moment sah sie den ersten Glatzkopf in schwarzer Montur die Wendeltreppe heraufkommen.
Ihr fast lautloser Schrei entsprang der bitteren Erkenntnis, dass sie allein und schutzlos dem Grauen ausgeliefert war. Sie stürzte zur Küchentheke und riss ein Fleischermesser aus dem Messerblock. Die Klinge war gut 25 Zentimeter lang und extrem scharf. Wild fuchtelnd brachte sie die Theke zwischen sich und die Eindringlinge.
Zwei weitere Glatzköpfe waren die Stufen emporgestiegen, doch Esther brannte sich am meisten das Gesicht des teuflisch grinsenden Jungen ins Gedächtnis, den nun einer der Männer auf die Seite schob und sich vor ihn stellte. Der bulligere der beiden Männer kam auf sie zu, er hielt ein Kampfmesser mit einer zweischneidigen Klinge in der Hand, die auf einer Seite geriffelt war, der Hagere trug in der einen Hand ein Klappmesser, in der anderen einen Schlagstock. Sie bewegten sich von beiden Seiten wie Häscher mit weit ausgebreiteten Armen auf den Küchenblock zu. Dabei kreischten und johlten sie, um ihrem Opfer noch mehr Angst einzujagen. Sie wussten nicht, dass Esther ihre Laute nicht hören konnte und nur ihre verzerrten Gesichter wahrnahm. Der Schmalere von beiden sprang einen Schritt nach vorne und versuchte, sie durch einen Schnitt in den Unterarm zu entwaffnen.
Er konnte nicht wissen, dass Esther über viele Jahre hinweg eine hervorragende Degenfechterin gewesen war und noch immer gut trainierte Reflexe besaß. Sie parierte den Angriff blitzschnell. Der Glatzkopf schien aufzuschreien – zumindest konnte sie das an seinem Gesicht erkennen. Er ließ sein Messer fallen, taumelte zurück und blickte entsetzt auf seine rechte Hand. Esthers Klinge hatte das vordere Glied seines kleinen Fingers abgetrennt.
»Diese Schlampe … Diese Schlampe! Ich bring sie um … ich bring sie um …«
Der Kräftigere von beiden war zunächst erschrocken, brach dann aber in tierisches Gelächter aus.
»O Scheiße, Udo, lässt dich voll kalt machen …«
Da schoss Esther schon auf ihn zu und verfehlte nur um Haaresbreite mit der Klinge sein Gesicht.
»Wow wow wow!« Er hob beschwichtigend die Hände und ging auf Distanz, während Esther wieder hinter den Küchenblock zurückwich.
»Scheiße, Mann, das Girly ist echt gefährlich,