Scirocco. Gerhard Michael Artmann
der tag bringt
sind deine augen, süße
die eben noch geschlossen waren
und jetzt ein ganzes meer ausgießen
was unser tag bringt, ist
dass wir offensichtlich
überlebt haben
und dafür nicht sterben mussten
der tag bringt ihn
ihren ganz persönlichen henry
der auch heute aus dem mund stinkt
und sich immer noch ihr chef nennt
der tag bringt dich
freier blick auf den baum
und, mädchen, tritt in die pedale
damit du auch heute wieder dein herr sein kannst
er bringt dich
er bringt mich
er bringt uns alle zusammen
siehst du das?
abends allerdings nach dem essen
hau ich mir immer
hardrock in die knochen
damit ich den tag morgen auch gut lebe
Der Eremit unterhalb des Lawinenhanges
Junger dichter, he du!
musiker, poet, du maler
hab es nicht leicht in deiner seele
deine kunst wird nur in der hölle gebrannt
Es hatte tagelang geschneit. Seit dem Nachmittag schien wieder die Sonne. Der Eremit, unterhalb des Lawinenhanges wohnend, wusste, was sein wird: Eine Mittagslawine wird sich lösen und sein Haus ein weiteres Mal bedrohen. Sie wird den Hang kahlscheren. Offen blieb die Frage, wie weit sie gehen würde, ob sie Halt machte am auslaufenden Hang oberhalb seiner Hütte oder ob sie weiter hinabstürzen würde über die schwache Ebene hinweg, über die Hütte hin, den Hang weiter hinab auf das Dorf zu, das unten im Tal lag.
Er wird Gott nicht herausfordern. Er wird gehen. Morgen früh wird er aufbrechen und hinabgehen ins Dorf und von da weiter in die nahe Stadt. Dort wohnte der Freund, der die Weltsachen für ihn aufhob: einen guten Anzug, Schuhe, Weltschuhe, Hemden und einen Koffer. Dort wird er abwarten und sehen, was sein wird. Der Eremit hatte den Rucksack gepackt. Er enthielt seine Mappe, seine Bilder, seine Manuskripte, die Schreibmaschine und Fotos. Die Schneetreter standen bereit. Alles war für den Aufbruch getan. Die Hütte war gefegt, der Herd poliert. Die Mittagslawine würde die Hütte nicht ungerüstet vorfinden. Es gab noch andere Dinge, an denen er hing, doch die sollten bleiben. Auch die Rückkehr, die fragliche, sollte vorbereitet sein. Sollte er jetzt beten? Gott bitten: Lass die Hütte stehen, du weißt, dass ich sie brauche? Wozu? Die Dinge haben ihr eigenes Maß. Nichts würde geschehen, das nicht sein musste: Der Berg hatte seine Last loszuwerden. Das geschähe genau in dem Maße, wie es notwendig ist. Gott war auch für den Berg da. Wer war er denn, er mit seinen Bildern und den wenigen Texten? Die Sonne war durchgebrochen und warf gleißendes Licht auf den Berg. Wärme kam noch einmal auf. Sie war das eigentliche Signal. Sie und diese Totenstille. Allmählich setzte die Dämmerung ein. Der Eremit tat, was er schon oft getan hatte: Er schob sein Bauernbett vor die Tür unter den freien Himmel und legte sich nieder. Kein Frost war seinem Bauernbett gewachsen. Das war erprobt.
Die Sonne wich zögernd. Der Frost kam mit der aufkommenden Nacht. Der Eremit erwartete den ersten Stern am Abendhimmel. Er wusste, wohin er zu sehen hatte, damit er den Moment, in dem der Stern auftauchte, diesen Moment, der den Tag von der Nacht schied, nicht verpasste.
Er blickte in den Himmel und wartete. Er sah nicht genau in jene Richtung, in der er den Stern finden würde, sondern ein wenig davon abweichend. Das war sein Geheimnis: Das erste Erscheinen eines aufkommenden Sterns entzieht sich dem direkten Blick. Dies war seine Art, die Dinge zu erwarten. Dann erschien der Stern, und ab jetzt war Nacht. Mit zunehmender Dunkelheit stieg die Zahl der Sterne an. Bald waren sie unzählbar. Er wollte noch die erste Sternschnuppe erwarten. Wenn sie ihr kurzes Leben am Himmel lebte, dann würde er sich wünschen, dass das Kind, das seine Märchen liebte, in dieser Nacht in Frieden schlafen konnte. Das hatte er sich versprochen. Viele Sternschnuppen hatte er schon kommen sehen. Sie waren gegangen, ohne einen Wunsch von ihm. Er wollte gerecht sein: Vielleicht erfüllten sie immer nur den ersten Wunsch, der sie erreichte. Doch wer in der Welt konnte früher als er, der sie in dieser Stille kommen hören konnte, eine Sternschnuppe ausmachen? Er wollte nicht zu seinen Gunsten nutzen, was ihm auch nur geschenkt war. Nur heute wollt er eine Ausnahme machen. Jetzt. Sein Schlaf war traumlos wie stets.
Am Morgen stieg er ins Tal. Von dort kam heute keines der von früheren Abstiegen her bekannten Zeichen. Kein Schornstein rauchte im Ort. Keine einsame Kreissäge kreischte. Es herrschte unerwartete Stille. Er betrat die menschenleere Hauptstraße des Ortes. Der Parkplatz, auf dem sonst die Autos der Touristen warteten, war leer. Er ging die Hauptstraße weiter hinunter. Niemand kam ihm wie sonst entgegen. Einem Anschlag entnahm er, die Bergwacht hatte Lawinenwarnung gegeben. Die Zufahrtsstraßen des Ortes waren gesperrt worden. Am Ortsausgang talwärts hatte ein Schneepflug eine Wendeschleife geschnitten. Offenbar war davon Gebrauch gemacht worden. Eine Spur in den seitlichen Schneewänden verriet, dass auch der Versorgungslaster umgekehrt war. Er ging die Straße weiter hinab in die Stadt. Stille auch hier. Kein Mensch nirgends. Auf einer Zeitung, die in einem Kiosk hing, las er: »Lawine bisher ungekannten Ausmaßes wird erwartet.« In den seitlichen Schaufenstern lungerte die Ware. Der Eremit betrat das Haus seines Freundes. Dieser saß in einem Sessel und hatte den Fernseher eingeschaltet.
Gut, dass du kommst, begrüßte er den Eremiten, die Fernsehteams stehen mit ihren Hubschraubern vor deinem Hang und filmen den Abgang der Mittagslawine. Der Eremit fragte: »Ist sie schon niedergegangen?« – »Das wird jeden Augenblick erwartet«, antwortete der Freund. Der Eremit nahm vor dem Fernseher Platz und beobachtete, was gezeigt wurde. Der Hang lag in hellem Licht. Mehrfach wurden Aufnahmen anderer Hubschrauber eingeblendet, die ebenfalls vor dem Berg standen. Teams aus aller Welt warteten darin. Kameraleute hingen halsbrecherisch aus den Hubschraubern heraus. Zwischenzeitlich wurden Bilder von Flüchtenden gezeigt, Menschen, die die Bergregion verließen. Staus auf den Autobahnen. Erste Unfalltote. Hektische Kommentare der Sprecher. Nur der Berg schwieg.
Jetzt erschien die Hütte des Eremiten im Bild. Als dieser das sah, rief er: »Das dort ist nicht meine Hütte.« – »Doch, das ist sie, ich kenne sie doch«, erwiderte der Freund. Der Eremit entgegnete: »Sie ist es nicht, ich hatte mein Bett draußen stehen lassen, sie betrügen. Es ist auch nicht mein Berg. Schau doch, die Tanne dort wurde schon vor Jahren von einer Lawine mitgerissen.« Ein Sprecher kündigte nun die beabsichtigte Rettung eines einsam lebenden Eremiten an. Von einem Hubschrauber aus wurde ein Fallstrickleiter herabgelassen. »Ein Bergsteiger«, rief der Reporter, »wird ihn dort herausholen.« – »Sie sprechen von dir«, sagte der Freund verblüfft. »Gleich werden sie meine Rettung vorführen«, entgegnete der Eremit. Und wirklich: Der Bergsteiger, der hinabgestiegen war, trug einen Körper aus der Hütte. Sie wurden an Seilen in einen der Hubschrauber gehievt. In diesem Moment jubelte der Reporter: »Sie haben ihn gerettet. Er lebt.« Jetzt schwenkte die Kamera auf den Berg. Die Mittagslawine löste sich, fegte den Hang hinunter, riss die Hütte mit und stürzte weiter hinab ins Tal. »Gerettet«, schrie der Sprecher mehrmals nacheinander. Es klang wie »Tor, Tor …« Dann brach das Bild ab. Man zeigte jetzt den Eremiten inmitten eines Retterteams, das sich um dessen Wiederbelebung bemühte. Der Chefarzt des örtlichen Krankenhauses, groß im Bild, äußerte sich zuversichtlich: »Der Eremit wird überleben.« Er hatte noch einmal Glück gehabt.
Die Geschichte von Moob
Kafka, wenn du einsam
an den buchstaben rochst
dann kroch die liebe zum verstand
und zeugte