Scirocco. Gerhard Michael Artmann
aber es wunderte mich doch, wie sehr ich auf diesen Satz innerlich vorbereitet gewesen war. »Nein, das wird nichts mehr«, stimmte ich zu, »wir werden hier verrecken. Wenn ich nur wüsste, wie wir in diese Lage gekommen sind. Weißt du es denn?« Das Letzte, an das er sich erinnerte, war, dass er in einem Krankenhaus gelegen hatte.
Ab jenem Zeitpunkt wurde uns unsere Lage immer bewusster. Eines Tages würden wir durchdrehen, eines Tages. Es würde uns verrückt machen, dass wir alles kannten, und nicht etwa, dass wir verhungern konnten oder unheilbar krank werden würden. Wir kannten jeden Felsvorsprung am Ostufer und jedes Sandkorn im Westen. Sogar die Fische schienen uns zu kennen. Sie ließen sich willig fangen, wie zum Hohn. Noch ihr letztes Zucken im Sand am Strand sagte uns: So viele von uns ihr auch vernichtet, ihr seid nicht frei und werdet niemals mehr frei sein. Und damit ihr sehr lange was davon habt, opfern wir uns. Die Sonne tat ein Übriges. Oft war sie uns früher willkommen gewesen. Ganz zu Anfang hatten wir uns ihr sogar nackt ausgesetzt, um zu bräunen, damit wir später den Mädchen gefielen. Den Mädchen gefielen, höhnte es bald, hier gab es sie nicht, aber diese Sonne gab es. Es war, als wollte sie uns sagen: Schaut her, es hat euch doch immer an Licht gefehlt, an Sonne und Wärme. Hier habt ihr sie, ich gebe sie euch. Stattdessen suchten wir den Schatten. Dort dösten wir die Mittage über. Mehr als einmal träumte ich davon, wie sie uns verhöhnten, das Meer, die Fische, die Sonne, der Sand, die Bäume, der Strand, einfach alles hier, sogar der blendend blaue Himmel.
Einmal im Traum begegnete mir die Sonne. Sie höhnte: »Wir waren euch doch nicht so wichtig damals, als ihr frei gewesen seid. Wir waren doch nur Beiwerk, Accessoires für eure Kameras oder Schlachtfelder für eure Kriege. Der Sand war nicht die Erde unter euch, sondern nur Dreck unter euren Füßen. Ihr hattet soviel Stand, dass ihr auf sie gestemmt gegeneinander angetreten seid, habt Kriege geführt und die Erde mit Blut bespritzt und mich, die das letzte Ächzen Gefallener und das Weinen von Kindern hören musste, zum Verzweifeln gebracht. Habt ihr es endlich kapiert, wie sehr ihr uns braucht? Jetzt kommt ihr nicht mehr los von uns. Ihr wollt übers Meer gehen, jede Gefahr eingehen, um wieder irgendwo auf Land zu sein, an das ihr ebenso wenig gedacht habt wie hier am Strand. Fliegt doch zum Mars, Idioten, oder holt euch euer Gold vom Mond, das ist uns alles egal.«
Sie waren klare Drohungen, mein Albträume, so real, dass ich einmal davon aufgewacht und geschrien haben soll: »Ja verdammt noch mal, wieso fragt ihr mich das denn, wozu wollt ihr mich quälen? Ihr habt doch alles!« Sie erinnerten mich auch tagsüber daran, wie achtlos wir unsere Zeit hatten vergehen lassen. Die Zeit der Freiheit, die Zeit überhaupt, bevor wir hier ausgesetzt worden waren. Auf dem Eiland gab es keine Zeit.
Zu Beginn, als wir jenes Boot umgeschlagen am Strand fanden, eines Morgens nach einer an sich windstillen Nacht, waren wir enthusiastisch, auch wenn wir uns sehr über das Boot wunderten. Wie war es hierhergekommen? Strömungen!, fiel mir ein.
Es gibt hier unten Strömungen, die müssen es hergetrieben haben. Er ließ sich und ich ließ mich, ja, wir ließen uns zu einer spontanen Umarmung hinreißen.
Das Boot war gerade mal groß genug für vier Mann. Es war verdreckt, Reste eines Netzes ragten über die Bordwand ins Wasser. Daneben schwang, sich im Gang der Wellen wiegend, allerlei Angeschwemmtes, Reste von Wasserpflanzen, ein Netz, eine Plastiktüte, die Reste eines zerrissenen Kissens und so etwas wie ein Bilderrahmen. Das Boot schien dennoch sonderbar wenig mitgenommen von der See und dem Salzwasser. Es war sogar erstaunlich gut erhalten. Uns war das gleich, es war ein Boot, und ein Boot konnte Freiheit bedeuten. Obwohl, ich war sehr skeptisch, in diesen Breiten, weit im Süden gab es keine Schifffahrtsrouten. Ich behielt meine Zweifel für mich.
Er fummelte im Boot herum. »Hier, das Beste ist dieser Tank mit Süßwasser. Sieh mal, sogar ein Hahn ist dran. Das sind einige Liter, damit kommen wir weit, mein Lieber.« Ich schmeckte es und fand es erstaunlich gut. Es war nicht brackig wie unser Regenwasser aus den Zisternen. Dieses Wasser hier konnte unmöglich sehr alt sein. Daneben fanden wir das Beste, das Beste überhaupt, eine wasserdichte Metallkiste, die unter der Hinterbank angeschnallt war. Wir öffneten sie und fanden einen Schatz. Zwei Sixpacks Coca-Cola, drei Kommissbrote, knochenhart und dunkelbraun, drei Fleischbüchsen. Nicht mal deren Haltbarkeitsdatum war abgelaufen.
Ganz unten lagen zwei Päckchen Kaugummi und ein Zettel. Darauf stand in Portugiesisch:
»Das ist für euch, für euch und euren Aufbruch, und damit ihr die Hoffnung nie verliert. Achtet einander und gebt auf euch acht. Verliert nicht eure Würde, vergesst nie, wer ihr seid. Menschen! Und vergesst nie, was euch hält.
Ferdinand Magellan der Jüngere
Anno Domini Neunzehnhundertfünfundachtzig.«
Wir schauten einander an. Er warf den Brief in die Kiste zurück, und wir stürzten uns auf das Essen. Das Brot war essbar, wenn wir Stück für Stück im Mund zerkauten. Als ich zu einer Coladose griff, fasste er meine Hand und sagte: »Nur eine jetzt, die teilen wir uns, die beiden anderen nehmen wir mit, und mit dem Brot machen wir es genauso. Okay?« Das Haltbarkeitsdatum! Wie lange hielt sich eingemachte Fleischwurst denn? Jahre? Monate? Tage? Ich hatte mit vierzehn Tagen zu rechnen begonnen, um nicht den Mut zu verlieren. Unsere Insel lag dem Sonnenstand nach sehr weit südlich. Die Strömung hier betrug nach meiner Erinnerung ziemlich weiträumig drei Meilen pro Stunde. Wie viele Meilen war dann jener Mensch weg von uns, der dieses Boot ins Meer gesetzt hatte? War er anfangs auch im Boot gewesen? Der volle Wassertank und die Metallkiste sagten deutlich Nein. Die Entfernung dorthin war, so oder so, größer als Deutschlands längste Diagonale, schloss ich meine Berechnung entmutigt. Und wenn Fleischwurst sich länger hält als vierzehn Tage, dann betrug sie zweimal um die Erde. Ich verlor alle Hoffnung und erzählte ihm von meinen Überlegungen und Berechnungen. Er blickte mich nur an.
Das war der Zeitpunkt, ab dem er kaum noch sprach. Wir machten das Boot am selben Tag noch flott, so gut es ging. Schon am kommenden Morgen ruderten wir davon. Genauer gesagt, er ruderte uns davon. Ich hatte mein linkes Bein bis zum Knie vor Jahren bei einem Unfall verloren. Darum konnte ich diese Arbeit nicht mit ihm teilen. Als ihm das nach ein paar meiner Versuche klar wurde, sagte er: »Na ja, kannst dich schlecht abstützen, ein Bein reicht nicht. Lass mich ran.« – »Aber ich kann navigieren«, sagte ich wie zur Entschuldigung. Er antwortete nicht.
Er öffnete die Kiste und gab mir von allem die Hälfte. »Warum tust du das?«, fragte ich verwundert. »Am Ende wird es hart, da sollten wir das vorher klären.« Er wies auf die beiden Rationen. »Und den Zettel?«, fragte ich weiter. »Nicht wegwerfen, falte ihn zusammen und leg ihn zurück«, antwortete er. Ich war wütend. »Der Witzbold, der das geschrieben hat, kann sich seine Worte sonstwohin stecken.«
Er nickte und begann wortlos zu rudern. Wir saßen uns gegenüber und schauten meist auf den Boden des Bootes. Er hätte mich anschauen sollen. Das wäre die korrektere Haltung beim Rudern. Stattdessen blickte er auf seine Füße. Das war sicher anstrengend. Ich bemerkte schon am ersten Tag, das alles hier ging ihm gegen den Strich. Mir ging es jedenfalls so. Hätten wir gesprochen, wäre alles leichter gewesen, aber ich hatte mehrfach angesetzt, vergeblich. Er redete nicht mehr, seit er ruderte.
Manchmal blickte er geradeaus, an mir vorbei zum Horizont. In der Hoffnung ein Schiff zu sehen? »Aber«, sagte ich dann in wiederholter Regelmäßigkeit, »mein Lieber, hier gibt es keine Schiffe, und wenn es welche gibt, dann sind sie hunderte Meilen weit weg von uns. Ich habe abgeschätzt, wie weit südlich wir uns befinden. Schau, wie tief mittags die Sonne steht. Hier fahren keine Schiffe. Es gibt hier keine Schiffe, nicht einmal die Hoffnung darauf.«
Wenn wir miteinander geredet hätten, hätte ich ihm das näher erklären können und mir wäre leichter gewesen. Stattdessen ruderte er schweigend weiter. Erstaunlich, wie zäh er durchhält, fand ich, rudert zwei Stunden, nickt ein, wacht auf, wäscht sich das Gesicht und rudert weiter.
In den ersten Tagen nahm er nur einmal täglich häppchenweise von seinem Essen. Solange er das tut, dachte ich, hat er Hoffnung. Ich machte es ihm nach. Ich blickte in den Himmel. Er war wolkenlos blau, seit ewigen Zeiten, schien mir. Der Hunger wurde bald schon dringender. Ich hatte die Tage nicht gezählt, aber es konnten nicht sehr viele gewesen sein, da hatte jeder von uns noch etwas Brot und einen Schluck Cola. Trotz aller guten Vorsätze hatte ich anfangs mehr gegessen, als ich mir vorgenommen hatte. Er hatte