Scirocco. Gerhard Michael Artmann
denn es gab nichts, außer den losen Worten derer von draußen, was dagegen sprach. Niemals kehrte jemand zurück. Und so träumten sie, wie glücklich sie sein würden, wie gut sich ihr Leben gestalten würde, wie leicht sie es einmal haben würden, wie ihre Kinder unbeschwert würden spielen können. Das wurde geträumt auf diesen Stühlen im unterkühlten, ja, kalten, aber hoffnungsvollen Vorraum.
In Momenten, in denen Wartende Schlag auf Schlag aufgerufen wurden, stieg ihre Stimmung ungemein und weitete sich zu Arroganz und Hochmut gegenüber denen draußen hinter dem Fenster aus. Wenn aber ewige Minuten lang nichts geschah und die Erfüllung verheißende Tür verschlossen blieb, schlich sich Unsicherheit ein, und Depression. Sie zogen wie ein frostiger Wind über die Gestalten auf den Stühlen und machten sie zittern und verunsicherten sie. Ja, auch misstrauisch, ob nicht der Nachbar schon heimlich aufgegeben hatte. Jeder Blick eines Wartenden nach dem Fenster wurde als Versuch eines Verrats gewertet.
Auch er war nicht frei davon und litt und hoffte und zweifelte mit ihnen. Bald würde er an der Reihe sein. Nur noch einer kam vor ihm. Ein älterer Mann in Arbeitskleidung. Durch den Lautsprecher erklang dessen Name. Der Alte erhob sich und ging langsam zur Tür. Sich noch einmal umdrehend, blickte er in Gesichter, die ihm erwartungsvoll und freundlich Mut machten und die sagten, ja flehten: »Geh schon, es ist endlich soweit.« Die Tür ging schließlich auf und schloss sich, begleitet von auflebendem und wieder abklingendem Gemurmel. Der nächste Aufruf galt ihm. Er spürte weiche Knie und war nervös, ja, zugegeben, auch unsicher und verängstigt darüber, was ihn erwartete. Andererseits, worauf er gewartet hatte, war greifbar nahe. Diese Tür dort musste er nur noch passieren, dann hatte es sich auch für ihn gelohnt! Sie war nun allein für ihn geöffnet, Entschädigung dafür, dass er diese lange, harte Zeit ausgehalten hatte. Er schüttelte unwillkürlich den Kopf. Alles würde vergessen sein in wenigen Augenblicken.
Er öffnete sie und trat ein. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Der Raum, den er betrat, ähnelte dem, den er soeben verlassen hatte. Auch hier gab es Stühle. Und auch auf ihnen saßen Menschen. Deren Gesichter kamen ihm bekannt vor. Einige standen nervös im Raum und schauten dorthin, wo sich zwei Sanitäter zu schaffen machten. Sie betteten einen Mann auf eine Bahre. Es war der Alte, der vor ihm eingetreten war. Nach kurzem Erschrecken drängte er sich an den im Raum stehenden Wartenden vorbei und schob sich geschickt um die Sanitäter herum. So gelangte er zur gegenüberliegenden Seite des Raumes zu einer weiteren verschlossenen Tür. Daran hing ein Schild: »Bitte warten. Sie werden einzeln aufgerufen.«
Vorgesorgt
Zum himmel, zum himmel, ach, wir guten
stürmen wir nun nicht mehr
wir haben blasen an den füßen und
müssen auch noch die dienstreise abrechnen
Zu den Orten, die diese Menschen mögen, fahren keine Züge. Darum stehen sie an der Straße und winken. Ich bin kein erfahrener Tramper, aber ich erkannte sofort, die beiden neben mir gehörten nicht zu diesem leichtfüßigen, schnellen Völkchen der Tramps, die zielbewusst, Hindernisse ignorierend und behände mit leichtem Gepäck auf ein Auto zustürmen, sobald sie die Bremslichter leuchten sehen. Die beiden neben mir hatten offensichtlich vorgesorgt. Das sah man ihrem Gepäck an. Sie waren offenbar auf jede erdenkliche Eventualität eingerichtet, auf Regen oder Sonne, Kälte oder Hitze, Waldwege oder Asphaltstraßen, auf jede Art, so schien mir, vorhersehbarer Widrigkeiten. Das erforderte mit Sicherheit weise Voraussicht und Planung. Das waren Fähigkeiten, die ich leider kaum habe, aber auch ich hatte aus Sicherheitsgründen mehr Gepäck mitgenommen, als ich schließlich brauchte. Ich ärgerte mich stets darüber, konnte es aber nicht ändern.
An jenem Tag kamen wir schlecht fort. Ich setzte mich zu den beiden, und wir unterhielten uns über den Trip. Ich saß im Gras. Sie setzten sich auf kleine Klappsesselchen. Sie war sehr schön und er offenbar ein Musiker. Er trug einen Pferdeschwanz und hatte eine Gitarre dabei. An sich gute Zeichen für Autofahrer. Sie zogen solche Menschen vor. Ich dagegen hatte es oft schwer, zuviel Gepäck und keine Gitarre. Wir sprachen über Musik. Sie kannten sich aus. Er nahm sich die Gitarre vor und spielte etwas. »Und weil wir unterwegs noch Mensch bleiben wollen«, meinte sie, »leisten wir uns auf Reisen immer etwas Luxus. Viel kann man sowieso nicht mitnehmen, des Geldes wegen und auch wegen des Gewichtes. Also ganz wenig, ein Stück gute Seife, eine schöne Bluse.«
Wir standen bald wieder an der Straße und winken. Es war immer noch sehr ruhig. Erfahrene Tramper, zu denen ich nicht zählte, saßen im Straßengraben oder schliefen im Gras. Sie schauten erst gar nicht auf die Straße. Nur selten hielt ein Wagen. Gegen Nachmittag kam ein weiterer Tramp, ein witziger Typ mit Bürstenschnitt, Brille, halblangen Jeans, Jesuslatschen, Kutte und aufgerollter Decke. Er grüßte uns alle freundlich und stellte sich nach dem ungeschriebenen Gesetz unter den Tramps an die ungünstigste Stelle der Straße. Ein Wagen kam, bremste und fuhr langsam unsere Reihe ab. Schließlich stoppte er bei dem Neuen. Der öffnete die Wagentür und wies auf die anderen. »Ich war der Letzte. Wollen Sie nicht die anderen mitnehmen? Sie warten schon lange.« Der Fahrer winkte ab. »Zu viel Gepäck deine Kumpels. Mein Kofferraum ist voll, der Rücksitz auch, steig ein.« Das Auto fuhr mit ihm davon. Angesichts des hereinbrechenden Abends blieb uns Zurückgebliebenen nichts anderes übrig, als auf dem nahen Campingplatz unsere Zelte aufzuschlagen und zu übernachten. Gott sei Dank hatten wir vorgesorgt.
Fragrance
Unter goldenen himmeln
hat gott uns ein dach gebaut
denn er will nicht, dass uns
die klunker erschlagen
Das Paket war angekommen. Harmlos lag es auf dem Sofa. Der Sparkassenangestellte Weiland Schimmelpfennig kniete davor und schüttelte den Kopf »Nein. Für mich, nein, nein, für mich!« Seine Hände zitterten. Immer wieder schob er die randlose Brille zurück, die ihm über die schwitzfeuchte Nase nach vorn rutschte. Die Familie war zurückgetreten und stand in einer Reihe hinter ihm. Einzig Albrecht, sein Ältester, durfte neben ihm assistieren. Sein Ältester, der einmal alles erben würde, sein Sohn, der sparte, wie andere spielten, der sparte wie er, der nach seinen, Weilands, Worten voraussichtlich noch vor seinen Vierzigern die Summe von hunderttausend Euro in sein Sparbuch eingetragen bekommen würde.
Weiland zog mit spitzen Fingern an dem Knoten, der sich zunächst als nur fest, dann aber als unauflöslich erwies. Er schwitzte. Sein Ältester stöhnte. Die Familie atmete schwer. Das Packband, das straffe, feste, sollte doch gerettet werden. »Ich ahnte es«, sagte Weiland schließlich. »Ein gordischer Knoten, wir werden das Messer nehmen müssen. Das schwarze, Frau.« Seine Gattin huschte aus dem Raum, beseelt von dem Gedanken, es möge nichts schiefgehen, und legte alsbald das Instrument in Weilands fähige Hand.
Schwer atmend setzte er die scharfe Schneide am Packband dicht neben dem Knoten an und sagte zu Albrecht »Der Schnitt muss sein, Junge. Es wird noch mancher Rückschlag folgen in deinem Leben. Lass dich nicht abbringen, das Notwendige zu vollziehen.« Und er erzählte zum hundertsten Male die Geschichte von dessen Oma: »Denk nur Oma Kaul, Junge. Zwei Weltkriege hat sie mitgemacht, und zweimal hat sie alles verloren. Zweimal zwei pralle Konten baren Geldes, einfach verduftet ist es, davongetragen ins Nichts. Und heute? Was tut sie? Sie spart! Alle Jubelmonate kommt sie zu mir in die Sparkasse und lässt sich ihr Erspartes im Beutelchen amtlich vorzählen. Nun gut, Junge, sie war von jeher misstrauisch, spart altmodisch zu Hause im Beutel, aber das Wichtigste ist: Sie spart wie du und ich. Vor zwei Monaten besaß sie fast neuntausend Euro, und morgen, so wahr dieses Paket heute gekommen ist, wird sie die Neunfünf überschreiten, und nach abermals zwei Monaten, mein Lieber, wird sie, die schon zweimal alles verloren hat, die magische Zehntausend im Strumpf die Ihren nennen dürfen.« Weiland las ein Staunen im Gesicht des Sohnes, ob solcher Disziplin. Ihn selbst sogar schüttelte der Gedanke an sie. Auch in Albrechts Augen wähnte er diesen Blick auf jenes ferne Ziel, eine Zahl, so groß, dass sie jeden, der davon hörte, erschüttern lassen würde. »Kei-ner-lei Ver-geu-dung un-ter keinen Um-stän-den, Albrecht. Glaub mir, sie gibt nichts aus, was nicht unmittelbar für ihr, dein, mein, und wenn Not am Mann ist, auch für unser