Scirocco. Gerhard Michael Artmann

Scirocco - Gerhard Michael Artmann


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Johann SS Brell, stellte anatomisch das glatte Gegenteil von Prof. Dr. h.c. mult. Dr. med. habil. Gotthilf Fürchtegott Nöthinger dar. Er war klein, hatte eine fliehende Stirn und stockartige O-Beine, die er unter weiten Hosenbeinen verbarg. Er trug eine dunkelbraune Hornbrille. Die Herren Brell und Fürchtegott Nöthinger arbeiteten nicht erst seit Kurzem zusammen, sondern bereits Jahrzehnte. Sie kannten sich und ihre Gewohnheiten aus Zeiten in Ost-Deutschland, wo sie beide als Zwangsarbeiter für den ostdeutschen Geheimdienst gearbeitet hatten, jeder in seinem Fach. Sie hatten seit der Vereinigung Deutschlands in 1989 an die sechshundertfünfzig Universitätsprofessoren ins Amt gehoben, die allesamt nach kurzer Zeit sehr erfolgreich an den Schalt- und Nahtstellen der deutschen Wissenschaft walteten.

      Fürchtegott Nöthinger stand neben Brell und Frau Prof. Dr. Specht an der Reling von Kapitän Knuts Yacht, die in der östlichen Ostsee vor Anker lag. Sie schauten nach Osten; Fürchtegott Nöthinger zufolge in Richtung Sonnenuntergang, denn seit der Wende war der »Osten« für ihn gestorben. Heute fand an Bord das Vorsingen der Bewerber für eine Professorenposition statt. Man wollte alle Kandidaten noch vor Einbruch der Dunkelheit erledigt haben. Es waren insgesamt fünf Bewerber um die Professur für »Fischfang des Salzherings in maritimen Gewässern« eingeladen worden. Fürchtegott Nöthinger stand der Kommission vor. Frau Specht schrieb Protokoll und vertrat in Personalunion die Studenten und Mitarbeiter ihrer Fakultät, die an der Berufung ein Mitspracherecht hatten. Sie vertrat sich selbst als Professorin im Berufungsausschuss, aber zugleich auch in Personalunion die Frauenbeauftragte der Universidad Eduardo del Pinto und den Personalrat. Sie hatte in den vergangenen Tagen alle Protokolle über Inhalt und Ausgang der heutigen Bewerbungsgespräche angefertigt und war von drei anwesenden Berufungskommissionsmitgliedern, einschließlich ihrer selbst, die am besten informierte Person. Sie trug ein dunkelblaues Plisséröckchen mit weißem Höschen darunter und ein Matrosenhemd mit Streifen sowie gebundenem luftigen Tuch.

      Fürchtegott Nöthinger langweilten Berufungen. Er bevorzugte die direkte Art der Bestallung eines Kandidaten für den Job: Man kannte den Kandidaten, man wusste aus welchem Stall er kam, sogar, wie er roch. Ein solcher machte keine Probleme, und man war sich vollkommen im Klaren, dass er nicht mehr wusste als alle anderen Professorenkollegen. Fertig! Und ein klarer Fall. Allerdings interessierte ihn als leidenschaftlichen Angler an der hiesigen Sache, wie die Kerlchen während der Bewerbung zappelten, als ginge es wirklich um ihre Zukunft und nicht um die Bratpfanne. Er freute sich bei solcher Gelegenheit wie ein Kind, dass er nie selbst zu einer Berufungsprozedur als Bewerber genötigt worden war. Kopfschüttelnd wunderte er sich manchmal, wie naiv die Kerlchen doch waren und wie sie dennoch meinten, da wäre eine Chance. Dabei hatten die oft schon Kinder, waren selbst achtundvierzig Jahre alt, und sie waren immer noch so naiv? Hatten die niemals zuvor etwas von Verantwortung gehört? Gehörte es sich, Unschuldige, auch noch eigene Kinder, in Situationen solcher Ungewissheit über nichts Geringeres als einen Job als Professor hineinzuziehen? Manche Menschen, so schien es ihm, dachten an gar nichts. In den Berufungsverfahren, denen er regelmäßig beischlief, kamen niemals Frauen vor, so auch heute nicht, außer Frau Specht. Er kannte Frau Specht in- und auswendig, sogar heute Morgen hatte er sich ihrer noch vergewissert.

      Herr Brell, drittes Kommissionsmitglied an Bord und Vertreter des Landesministeriums, hatte am Vorabend in der Spätschicht Zugriff auf Frau Specht haben dürfen. Herr Brell hatte generell uneingeschränktes Zugriffrecht auf Frau Dr. Specht, es sei denn, sie äußerte Bedenken wegen unloyalen Benehmens. Dann gab es eine Sperre für ein, zwei, manchmal auch drei Spiele. Auch wirkte Herr Brell oft etwas langweilig, weil er in typischer Manier eines Politikers immer erst alles ausdiskutieren wollte. Oft war Frau Specht schon wieder angezogen, wenn er dann doch endlich zum Punkt kommen wollte. Wenn Übereinkunft gefunden werden konnte, fackelte Brell nicht lange. Jede einigermaßen erfahrene Frau weiß, was das heißt. Brell war ein Sohn seiner Klasse, seitliches Lächeln, Haare ohne jeden Schnörkel nach links gezogen und flach, nicht wellig oder brünett. Keiner konnte je behaupten, er hätte sich irgendwann zuvor für irgendeine Wellung oder Haarfarbe entschieden. Nein. Brell war, den täglichen Klogang eingenommen, ausschließlich weitgehend jedem Vorwand geneigt; hellblaues Hemd, hellblaue weite Hose, weiße Lederstiefelchen sowie eine Matrosenmütze unterstrichen seine Funktion im Berufungsterzett. Er war der Politiker, der über die akademische Zukunft eines Kandidaten entschied, als wäre sie Wasser.

      Nun ist die Berufung eines Professors für ein maritimes Lehr- und Forschungsgebiet (LfB) immer etwas Besonderes. Warum sonst machte man den Aufwand und lieh sich auf Hochschulkosten eine Jacht, ankerte drei Kilometer vor der Kurischen Nehrung in der Ostsee und tat sich all das an? Natürlich musste man die Kandidaten im späteren natürlichen Habitat ihrer Forschung anhören. Nur dann war wirklich zu erfahren, ob einer für den Job taugte. Man konnte ja gern behaupten, dass man schwimmen konnte, angeln, tauchen, Ruder setzen, Netze auswerfen und an Bord ziehen, Fische in Döschen sortieren für die spätere Analyse, aber dann? Später in der Fakultät, wenn keine Fische mehr einsortiert wurden, sondern ausgewachsene Kollegen? Was würde dann ein Landgänger noch zu sagen haben, mit vielleicht krummen Beinen und Möhrengeschnetzeltem an den Gummistiefeln? Die See war das Habitat des zukünftigen Kollegen, und eine der wichtigsten Fragen, die heute zu klären waren, war, wie lange der Kerl untertauchen konnte, ohne dass ihn einer wahrnahm. Außerdem sollte der Kandidat durchaus Kenntnisse zeigen, wie man mit einem Hai umging, der sich zufällig im Netz verfangen oder dem Kandidaten beim Kielholen ins Bein gebissen hatte. Der Hai konnte zukünftig der Rektor einer anderen Universidad ebenso sein, wie ein kleines Scheißerchen von Professor, dem das Pfeiffersche Drüsenfieber suggeriert hat, seine Meinung gelte etwas. Wie versorgte man eine offene Wunde im Salzwasser? Wie ging man mit Frau Specht um, die bei Blut in Ohnmacht fiel, wie mit dem wütenden Herrn Fürchtegott Nöthinger und einem Herrn Brell, der schon beim ersten Anzeichen eines Risikos den Sicherheitsbeauftragten seiner Regierung anfunkte. Es ging folglich heute nicht allein um das akademische Niveau des Kandidaten. Es ging vielmehr darum, inwieweit ein Kandidat in der Lage war, sich von den gewonnenen Erkenntnissen über die Welt und deren Naturgesetze hinwegzusetzen und neue zu erfinden, die noch nie jemand zuvor erfunden hatte. Es ging letztlich um Innovation zur See, wo im Kern alles Leben entstanden war, auch das des Kandidaten, und wo dessen Leben, zumindest sein akademisches, ohne weiteres heute enden konnte.

      Da! Herr Brell hatte ihn zuerst entdeckt. Er erkannte den Mann an dessen Flagge. Es war Dr. Brille. Der Kerl sang schon zum sechsundzwanzigsten Mal vor. Er sang seit fünfzehn Jahren vor für alle Professorenstellen, die auch nur annähernd mit Wasser zu tun hatten, denn dem Sternbild nach war er Wassermann, und daran hielt er sich privat wie auch forschungsmäßig strikt, denn er hatte Charakter. Er war dreiundfünfzig Jahre alt und stank Berufungskommissionskreisen zufolge streng nach Fisch. Es zeigte sich, dass der Kerl das Gesetz der Piraten auch diesmal nicht verstanden hatte: Man zeigte erst Flagge, nachdem man gewonnen hatte, aber besser war es, alles niederzumetzeln, die Beute einzusacken, zu verschwinden und keiner war’s. Er kam auch diesmal mit einem geliehenen Ruderboot. Fürchtegott Nöthinger erkannte nun auch ohne Brells Hilfe allein am Ruderschlag den Ziehsohn seines Feindes Professor Rüdiger, der wie er selbst Proktologe war und der berühmt geworden war wegen seiner anusbasierten minimalinvasiven Mandeloperationen. Diese war in Fachkreisen als AMM-OP bekannt, eine Abkürzung, die die Offenlegung des Zugangsweges vermied.

      Der junge Mann half sich an Bord. Kaum dass er der Kommission gewahr wurde, die inzwischen hinter einem Jury-Tisch Platz genommen hatte, rutschte er aus und fiel auf den Hintern. Frau Specht sah ihre Argumentation bedroht, denn der hier gezeigte Teil der Präsentation erweckte Mitleid. Sie hatte ihm bereits attestiert, dass er ein harter Hund war, einer, mit dem sich nicht diskutieren ließe und der für ihre Fakultät nicht in Frage kam. Dass er hier ohne weiteres umfiel, ohne dass er dazu aufgefordert worden war, verunsicherte sie. »Können Sie schwimmen?« Brell fragte das. Dr. Brille stand auf und rieb sich den Sterz. »Ziemlich, ich habe aber nichts mit.« – »Frau Dr. Specht, drehen Sie sich bitte um, und Sie: Ab in die Ostsee! Sie schwimmen eine Runde ums Boot. Die Zeit läuft.«

      Fürchtegott Nöthinger drückte eine virtuelle Stoppuhr. Prof. Rüdigers Schützling zog sich zunächst aus, stellte die Schuhe ordentlich nebeneinander, faltete die Socken, das Hemd, den neuen Anzug, dann die Unterhose zusammen und stapelte alle Kleidung an der Reling. Er war dürr, hatte eine haarlose weiße Haut, und seine Schamhaare waren rot. Frau Specht wurde ein weiteres Mal unsicher, denn der Kerl besaß Anstand und


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