Scirocco. Gerhard Michael Artmann

Scirocco - Gerhard Michael Artmann


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lief seit zwei Uhr morgens, einer Stunde des Tages, da hatte das Bübchen noch nicht einmal seinen Haferschleim verzehrt. Der Bewerber schwamm in zwanzig Sekunden ums Boot. Brell war verblüfft. Wie konnte einer so schnell schwimmen? Der Bewerber half sich an Bord.

      Fürchtegott Nöthinger schnauzte Brille an: »Sie sind so was von langsam! Die Zeit hätte nicht mal für das Abitur in Biologie gereicht. In AchtStundenzwölfMinutenundachtunddreißigKommasechsSekunden klappert jedes Treibholz um mein Boot.« – »Acht Stunden, Prof. Fürchtegott Nöthinger? Das war meine persönliche Bestzeit. Ich halte den Zweihundertmeter-Europarekord im Brustschwimmen.« – »Sie sind aber auf dem Rücken geschwommen, ich habe es gesehen, ich habe ganz deutlich Ihren Schniepel im Wasser treiben sehen.« – »Welchen Schniepel? Meinen Sie das hier? Das ist mein Geschwindigkeitsmesser, den ich unten festmachen musste, weil ich ohne Badehose schwamm. Es kann sein, dass er aussieht wie ein Schniepel, er muss ja Stromlinienform haben, aber das ist ein Sensor. Nach ihm richte ich meinen Schwimmschlag. Ich war auf diese Prüfung nicht vorbereitet, zumindest in der Art nicht. Ich hätte Ihnen das alles vorher erklären können. Sobald ich im Wasser bin, löst der Schwimmer sich ab und gleitet auf der Wasseroberfläche, damit die Geschwindigkeitsmessung nicht durch meinen innovativen Hoch-Tief-Schwimm-Tauch-Stil verfälscht wird.« – »Es war ihr Schniepel! Brell, haben Sie es auch gesehen?« – »Ehrlich gesagt …« Brell wusste nicht, was er sagen sollte. Die Situation war wie im Parlament. »Schniepel hin oder her, Sie sind hier in Rossland, kennen Sie eigentlich die Koordinaten des Berufungsortes? Ziehen Sie sich an! Oder wollen Sie unsere Frau Professor Doktor demütigen mit Ihrem Aufzug. Wenn Sie fertig sind, da drüben liegt Ihr Lunchpaket für die Rückreise nach Berlin. Sie erhalten das Ergebnis Ihrer Bewerbung schriftlich.«

      Der nächste Bewerber war inzwischen an Bord. Es war ein Athlet, dreimaliger Triathlongewinner, Kampfsportler, Apnoetaucher, Weltmeister im Skyjumping. Einer der Menschen, denen Sie nichts erklären müssen. Entweder Sie leben mit ihm, oder Sie bringen ihn um, wenn Sie können. Er kam aus Leipzig und war aufgrund seines Charakters seinerzeit wie auch heute ein direkter Klient des ehemaligen Ost-Deutschland-Geheimdienstmannes Fürchtegot Nöthinger gewesen. Fürchtegott Nöthinger erkannte ihn. Er hatte ein Gigabytegedächtnis für seine Feinde und Leute, die ihm gefährlich werden wollten. Der Bewerber war bereit. Er begann, seine Forschungsinteressen vorzutragen: »Sofern er die Stelle antreten könne, wolle er …« Fürchtegott Nöthinger unterbrach: »›Antreten‹ wollen Sie? Was genau wollten Sie in etwa annähernd damit gemeint haben? Ja, sind Sie denn auf Streit aus? Meinen Sie denn, der Beruf eines Professors wäre ein Fußballspiel und dass es da vielleicht auch noch einen Schiedsrichter gäbe, der Ihnen sagt, ob Sie gewonnen oder verloren haben? Ich sag’s Ihnen: Sie haben jetzt schon verloren, Sie sind nämlich so gut wie disqualifiziert. Dabei haben wir noch nicht einmal angefangen. ›Antreten‹ …« – »Ja! Wahr ist wahr, und richtig ist richtig.« – »Wie meinen Sie? Wollen Sie etwa die Kategorie ›Wahrheit‹ in den Professorenberuf einführen, he?« Fürchtegott Nöthinger zu Brell, der Protokoll führte: »Wir lassen die ersten sechs Übungen weg. Kielholen! Den Mann!«

      Frau Specht fand die Diskussion unter aller Sau und warf Fürchtegott Nöthinger einen Blick zu. Der zündete sich darauf eine Zigarette an, und Brell holte sich einen Kaffee. Frau Specht führte den Kandidaten unter Deck. Sie kam aber sehr bald zurück. Brell verschluckte sich am Kaffee, und Fürchtegott Nöthinger hustete, weil das unerwartet schnell ging. »Er bereut nichts, er gibt auch nichts zu«, sagte Frau Specht. »Ihr könnt weitermachen.«

      Fürchtegott Nöthinger knüpfte dem Bewerber persönlich die Leinen an, um das Kielholen einzuleiten. Dabei wird nach englischem Seerecht der Kandidat am Bug ins Wasser geworfen und mit Leinen, die an seinen Armen befestigt sind, von zwei Seemännern unter dem Bootskiel entlanggezogen. Sie schreiten dabei an Steuer- und Backbord zeitgleich zum Heck hin. Dort wird der Kandidat nach oben gebracht, wenn sich die Seile nicht im Kiel verfangen hatten. Je nachdem, wie lange sie gebraucht hatten, worin sie einen gewissen Ermessensspielraum besaßen, hatte der Kandidat dann noch Lust, seine Unschuld zu beteuern oder aber nicht. Meist sahen die überlebenden Kandidaten ihren Fehler ein. Das war zu Zeiten des Englischen Empires so, wo es um Mord- und Totschlag oder auch um Raub ging. Das war bei Fürchtegott Nöthinger so, wo es um die Freiheit von Forschung und Lehre ging. Fürchtegott Nöthinger schubste den Athleten am Bug ins Wasser. Das Seil zog an. Sekunden später musste der Kandidat sich unter Kielmitte befinden. Fürchtegott Nöthinger zählte bis fünf und beorderte dann Frau Specht und Herrn Brell, die zu beiden Seiten des Schiffes an den Seilen zogen, nach unten zur Beratung. Sie verknoteten das Seil an der Reling und folgten. Nach circa fünfzehn Minuten holten sie den Kandidaten an Bord. Er war blau, er zitterte. Brell gab ihm ein Handtuch, und Frau Specht versuchte ihn von unten her warm-zublasen, doch sein Knie rutschte ihm aus und landete auf ihrer Nase. Sie hielt sich Tränen verdrückend ein Taschentuch vor. Fürchtegott Nöthinger biss in sein Lachssandwich. »Stellen Sie sich nicht so an, Frau Specht. Wollen Sie mal anbeißen, Herr Kandidat? … Sind Sie endlich trocken?« Frau Specht schluckte, und Brell fand, dass dieses Benehmen ein Fall für den Untersuchungsausschuss war, dem Fürchtegott Nöthinger turnusmäßig vorstand.

      Die drei beredeten das Verdikt, während der Kandidat sich anzog. »Sind Sie alle einverstanden, dass wir den Kandidaten auf Platz Eins der Bewerberliste setzten, womit er, daran möchte ich Sie beide erinnern, die Stelle zu neunundneunzig Prozent kriegen würde?«, fragte Fürchtegott Nöthinger seine Mitglieder der Kommission. Und er setzte nach: »Wenn Brell seinen Scheitel während der entscheidenden Sitzung im Ministerium nicht versaut, kriegt er die Stelle sogar zu hundert Prozent.« Frau Specht nickte mit dem Kopf, Brell fuhr sich durch die Haare, sein Zeichen äußerster Nervosität. »Gut, dann soll er uns jetzt zeigen, ob seine Apnoezeit ausreichend ist«, was bedeutete, wie lange konnte der Kerl die Luft anhalten, ohne aufzutauchen? Wenn die Zeit nicht signifikant oberhalb des internationalen Durchschnitts läge, der sich in den letzten Jahren insbesondere in China bei etwa fünfundfünfzig Minuten eingepegelt hatte und der regelmäßig im Fachblatt NATURE auf der letzten Seite publiziert wurde, dann bestand keine Hoffnung für den Kandidaten. Dass die Chinesen mit einem Reisstrohhalm unterm Arm zum Tauchtest erschienen, spielte dabei keine Rolle.

      Fürchtegott Nöthinger entschied: »EnnGleichFünf.« Nur Wissenschaftler kennen diese Formel. »›Enn ist die Anzahl der Versuche, ›Gleich‹ heißt, es ist sowieso egal, was herauskommt, und ›Fünf« – das machst du jetzt insgesamt fünfmal, Kerlchen!« Nöthinger zeigte auf eine Weste mit Bleigewichten »Anziehen und ab ins Wasser! Fassen Sie die Leine fest an. Sie bleiben unten, bis Sie nicht mehr können, dann ziehen Sie die Leine, verstanden?« Der Kandidat hatte keine Zeit zu antworten, denn Brell hatte ihm schon die Weste umgelegt, die Leine in die Hand gedrückt, und Nöthinger schubste ihn ins Wasser.

      Nach etwa fünfundvierzig Minuten zappelte die Leine, Brell zog den Kerl an Deck. »Reicht bei weitem nicht«, brüllte Nöthinger. »Die Chinesen liegen mit Abstand vorn. Sie haben noch genau vier Versuche.« Er ließ den Kandidaten stehen.

      Inzwischen war es Mittag geworden. Es war Zeit für den Lunch. Die Kommission zog sich nach unten zurück. Als sie geendet hatten, fanden sie den Bewerber wartend an Deck. Der fragte Fürchtegott Nöthinger, der langsam müde wurde, wann das Bewerbungsgespräch denn endlich losginge. »Es hat schon angefangen, oder sind Sie schwer von Begriff? Sie haben noch vier Versuche, um den Chinesen zu zeigen, was Made in Germany ist.«

      Fürchtegott Nöthinger wollte den Bewerber erneut über Bord schubsen, aber der wich ihm diesmal aus. Er hieb seine Rechte mitten in Nöthingers kreisrundes Gesicht, das flach und breit war wie ein Sony 63-Zoll-Monitor. Man hörte es knacken, Blut tropfte, und Fürchtegott Nöthinger ging zu Boden. Frau Specht ebenfalls. Brell half ihr hoch. Nöthinger indes schlitterte auf seinem Gesicht wie auf einem Surfbrett bis zur Kajütentür von Käptn Knut. Nöthinger jedoch war nicht von schlechten Eltern. Er war Bauernsohn, er hielt was aus. Er wischte sich das Gesicht, zog ein paar Holzspäne aus den Oberschenkeln und brüllte: »Komm her, du Arschloch, ich mache dich fertig. Was denkst du eigentlich, wer du bist? Ich bin der, den du nicht besiegen kannst, du Arschloch.« Ein weiterer Faustschlag traf Nöthinger auf die Knopflochnase. Das schaltete ihn diesmal noch vor der Kapitänskajüte gänzlich ab. Dann wandte der Bewerber sich an Frau Specht und sagte »Und Sie, Specht, glauben Sie denn, dass das ausgetrocknetes Etwas zwischen ihren


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