Scirocco. Gerhard Michael Artmann
wie Sie abzulehnen, bis ich tot bin. Sie – und Ihr Gesocks von Volks-ver-rä-tern im Landtag, Sie können mich mal kreuzweise. Aber wissen Sie denn überhaupt, was ein Kreuz ist? Das war das Ding, das der Müllmann von Jerusalem damals geschleppt hat unter furchtbaren Schmerzen, und Ih-res-glei-chen liest das ›Kreuz‹ aus der Zeitung vom Blatt ab, weil Sie gar kein Kreuz kennen. Sie hatten nie eins. Sie schleimen sich zum Rednerpult und kleistern durch die Fernseher und tropfen in mein sauberes Wohnzimmer, dass ich nach der Tagesschau erst einmal durchwischen und das Fenster öffnen muss, bevor ich wieder einen sicheren Schritt in meiner Wohnung machen kann oder an Ihrem Gestank verrecke, den Sie beim Reden ausdünsten. Sie können mich mal kreuzweise. Ich habe für Sie und Ihresgleichen jeden Tag zu diesem Zweck geöffnet.‹ Da isch e denn do aufg’sprunge und tat, als ob e mi veprüggele wollt’. Angeschrien hat’s mie de Heer. ›Dich räuchere ich aus in meinem Dorf, darauf kannst du dich verlassen, du alter Besen‹, sacht e un ve-schwand mit dene Blume. Un i henne ihm na geschrien de Treppe hinunter, dass alle ’s höre kun: ›Und von mir kriegen Sie keine Stimme, und mein Land werden Sie nie-mals kriegen …‹ Das hab i demme nachg’rufe. Und des habbe de Leut auch noch auf de Schtraße vestanne. Je-des Wot.«
Sie hatte sich im Rage geredet. Kaum vorstellbar, aber diese dürre alte Frau unten vor meinem Grundstück schwitzte und keuchte. Sie wischte die Hände am Kittel ab und sah mich direkt an. »Un jetzt is ’s Zeug fot … wennigstens ’s unnötige Zeug von die Woonung, erscht ma.« Plötzlich herrschte sie mich an: »Un Se, se saan no jung, se schaffen’s mi g’fälligst dieses G’socks, de was si da breitz’mache beginnt, vom Hals, bevor i sterb. Das seins dem Otto, die was mein Mann is und seinezeit Sanitäta im Welt-kriegs-la-za-rett wa, vom Hals, sunst werfe i dies Erbe von uns bei-de do no in de Müll.«
Buch 2
Wenn du Liebe willst
Meitieti Enkeln
Norea, Mila, Levi, Janis, Leleth
Meitieti Kindern
Thomas, Antje und Asli, 2020
Wenn du liebe willst
dann geh in den garten
trag den rosen ihren duft nach
und zeichne sie gülden, nicht rosa
wenn du liebe willst
was denkst du? denkst du
die bekommst du
für nichts
trag sie in deinem schoß
und bitte nicht sehr schütteln
wenn du liebe willst
pass auf sie auf
wir haben liebe gehabt
wir haben sie gemacht
es hat uns nicht wehgetan
aber ihr
wenn du liebe willst
geh meinetwegen zu gott
frag die nonnen, was sich in ihnen
an reinheit ergeben hat
wenn du liebe willst
dann hau ab
ich habe keine
ich bin auch nicht deine instanz
Kind, du willst opaliebe
komm her
küss mich, umarme mich
da ist sie – siehst du sie fliegen?
was sollen wir denn noch äußern
unter all diesen himmeln
wenn du liebe willst
dann spring
willst du denn liebe
geh doch
hol sie dir
was hält dich?
Oh, oui je t’aime
Je t’aime, je t’aime
oh, oui je t’aime
moi non plus
oh, mon amour
comme la vague irrésolue
je vais, je vais et je viens
entre tes reins
je vais et je viens
entre tes reins
et je me retiens …
Serge Gainsbourg
Dies ist eine private Erwähnung. Der Tag wollte nicht enden. Er verhielt sich, als wollte er die Mitte der Nacht wieder einmal aufschieben in das kommende Jahrzehnt hinein. Die Nacht der Öffnung der Grenze in Deutschland – war da. Menschen strömten jubelnd und weinend nach Westen, wo sie Fremde umarmten. Ich sah es. Ich sah es von Westen her, wo Umarmungen selten an andere Menschen herangetragen wurden und der Körperkontakt überraschen konnte: Der riecht nach Schweiß, der Verschluss ihres BHs, sein Bauch, ihre Speckwelle oberhalb des Gürtels. Details, die beide verrieten, den, der umarmte, und den, der die Umarmung hinnahm. Man gewann oder verlor auch Wärme in einer Umarmung. Das machte verletzlich. In der Physik strömt Wärme zu Kälte und nicht Kälte zu Wärme. »Kälte kriecht in mich hinein« ist ein falscher Befund; »Wärme strömt aus mir heraus und macht mich kälter« ist physikalisch korrekt. »Meine Nerven fühlen mein Erkalten« ist auch nur bedingt richtig. Wir fühlen mit ihnen nur den plötzlichen Übergang, die Überraschung, nicht das leise Abflauen oder Ansteigen von Wärme oder Kälte, es sei denn, es würde ein Grenzwert überschritten.
In mir war Ödnis. Meine Familie, meine Frau, meine Kinder, mein Balkon waren Geschichte. Sie hatten begonnen, in mir auszuflocken und zu sedimentieren, nicht viel mehr war mir möglich bis dahin. Besser, das alles nicht anrühren. Zeit kann gnädig sein. Wir müssen geduldig sein. Ich war in jener Nacht insbesondere nicht auf Frauen aus. Und, wie ich diese eine fand, genau in der Nacht der Öffnung der Grenze, war doch Zufall? Der Name der Frau ist Aysha. Sie und Freunde kamen mir entgegen. Ich wich ihnen zunächst leicht zur Seite hin aus. Das war bei der Siegessäule. Es war eine dunkle, sternenlose Nacht voller Lichter. Es gab Lärm, Klamauk, Gegröle und Gejohle. Die Neue Zeit war gekommen. Aysha ging neben einem Mann, den ich zwar kannte, den ich entfernt kannte, aber den ich nicht meinen Freund nennen würde. Dazu war er zu sehr auf seine Erscheinung bedacht, und das andere Land. Sie kamen auf mich zu. Ich sah sie an, ihr Gesicht. Ein solches Gesicht, ich schwöre es bei meiner Mutter, hatte ich nie zuvor gesehen. Ich war damals in einer offenen Verbindung mit einer Frau zusammen. Aus heutiger Sicht war ich in der Verfassung eines alleinstehenden Mannes, der auf seiner zu klein gewordenen Terrasse einen der wenigen Nachmittagstees trank angesichts der Gewissheit, dass der Winter bald einfallen würde, nein, dass die Wärme bald abfloss. Schon hatte ich aber nach viel Erfahrung begreifen gelernt, dass es Gott gab. Ich verstand sofort, als ich diese Frau sah. Ich verstand, was kommen würde, wie es weitergehen würde und was zu tun wäre.
Inmitten kurzer Begrüßung und Vorstellung durch den Bekannten sah ich sie weiter an. Sie blickte ihrerseits mich an. Heute weiß ich, dass sie damals bereits wusste, wer ich war: Ich ihr Alles, ich ihr Einziger. Ich ihr Immer. »Es waren deine blauen Augen«, sagte sie später, »die mich in dich hineingezogen haben.« Sie gingen weiter ohne große Worte. Beine interessieren mich, Beine von Frauen. Ich sah mich um. Das habe ich nur manchmal getan in meinem Leben, weil die Gelegenheit, schöne Frauenbeine zu sehen, so was von selten ist, dass es einem Mann wehtut. Ihre Beine waren gerade, nicht dünn, geschweige denn dürr. Ihr Kleid war großzügig genug geschnitten, dass man eigentlich alle körperlichen Konsequenzen hätte ahnen müssen, und doch, das weiß ich heute, hätte man keinen Zutritt erhalten. So war sie. Für wen, für was. Für keinen! Für