Scirocco. Gerhard Michael Artmann

Scirocco - Gerhard Michael Artmann


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un die von heu-te …«

      Als sie begann, mir auch noch das Grundgesetz vorzutragen, versuchte ich, sie zu unterbrechen. Aber sie war nicht zu stoppen, »De Würde des Men-schen is un-an-tascht-ba …« Ich blieb hartnäckig und unterbrach sie brüsk. »Aber die Zwerge sind ein Geschenk meiner Fr…«

      Sie sah mich groß an, zeigte Bremsspuren im Gesicht, ihre Rede quietschte geradezu, aber sie kam nicht zum Stehen. Sie machte nach kurzem Luftholen weiter. Einen Moment lang sprachen wir beide zugleich. Sie ließ sich nicht abbringen, änderte die Taktik. Während ich zu reden versuchte, schleuderte und bremste sie beim Zuhören »Hascht den da g’sehn, denne Vögelche?« – »Welchen Vogel meinen Sie, die Kohlmeise da?« – »Ja, denn genau denne.« Und raus war ich aus dem Spiel.

      Kaysers Nanni war nun voll bei ihren Erinnerungen. Sie dufteten nach Rosen. Ihre Augen, die einmal blau gewesen sein mussten, blühten wie Feldblumen inmitten vieler Fältchen. Ihre Worte stolperten oder stürzten ungezähmt aus ihrem Mund, der noch alle Zähne hatte. Sie trug die ein oder andere kleine Narbe in ihrem Gesicht. Ihre Scherze und bösen Witze zum immer gleichen Thema lauerten ungeduldig und unduldsam in ihren

      Mundwinkeln auf ihren nächsten Einsatz. Ich schaute sie an, während ich sie reden ließ, und dachte mit einem Lächeln: Genauso wollte ich sein, wenn ich einmal alt wäre.

      In Liebe alt werden, denke ich heute, nachdem ich alt geworden bin, welch eine Aufgabe das war. Liebe, das spürte ich damals, hatte Kaysers Nanni im Übermaß, so wie auch den Hass, den ich aber nur ahnte. Mein Leben dagegen, wie war es? Ein Rausch an Freiheit vor allem, Begebenheiten und Treffen mit Menschen aus so vielen Ländern. Aber auch Verluste gab es, Betrug durch Menschen, für die ich alles gegeben habe! Immer wieder habe ich Menschen getroffen wie Kaysers Nanni, die die Schönheit und die Härte des Lebens erlebten. Damals, vielleicht erstmals bewusst, denn ich war noch jung, hatte ich die Schönheit eines in Würde gealterten Menschen sehen dürfen. Das allerdings bekenne ich, nicht allzu oft sah ich so schöne Menschen wie Kaysers Nanni. Zu viele trugen Klagefalten im Gesicht, Querschläger erlittener, oft überbewerteter Verluste. Unser Leben, wie unbeschwert es doch war! Und bildeten sich dennoch Holperfältchen in den Augenwinkeln, legten wir teure Cremes auf.

      Sie war jetzt beim Thema »Wahrheit«. In diese Rede ritt ich ihr hinein und fragte: »Ja, gibt es denn verschiedene Wahrheiten, die von früher, die von heute und die von morgen?« Sie antwortete in Hochdeutsch, das sie offenbar perfekt beherrschte: »Nein! Die Wahrheit ist, was Sie waren, wer Sie sind, und wer Sie werden wollen. Und wenn es dazwischen keinen Unterschied gibt, obwohl Sie immer mehr wissen, dann sind Sie echt. Das ist die Wahrheit.«

      Auf einmal interessierten wir uns für einen Spatz, der zwischen unseren Füßen im Kies pickte. Unsere Worte waren verflogen. Was geblieben war, war er. Er pickte eifrig und schaute sich zwischendrin hektisch nach Feinden um. Er hatte Angst, sicher, aber leben musste er auch. Also entschied er sich, dies zwischen unseren Füßen zu tun. Es gab keinen besseren Fressplatz für ihn, mag sein Spatzenhirn gezwirbelt haben, als diesen. Von uns drohte keine Gefahr. Anstatt den Anblick zu genießen und ihn picken zu lassen, bückte ich mich und rieb mir die brennenden Beine. Weg war er. Sie fing wieder an:

      »Sehen’s ’s Zeug loswedde isch schlimme alsch anschaffe. Dabei habbe me unsch de ganze Lebbe lang so d’für ge-quält un so g’sorgt. Haben S’ vielen Dank, dass Se denne Tisch un denne Kroonleuchte in Ihre Hühnastall nemme. ’s schad, wenn das Zeug jetzt verrotte tät.«

      So abrupt, wie sie redete, bewegte sie auch ihren Körper. Kaum war ihr letzter Satz zu Ende, drehte sie sich grußlos um. Da ging sie hin, zurück ins Dorf. Sie hatte »Hühnerstall« zu meinem Bungalow gesagt.

      In meinem Gartenhaus glänzte der runde Tisch, und der Kronleuchter hing an meiner Decke. Provisorisch war beides, falls sie wiederkäme und alles zurückhaben wollte, aber vorerst hing der Kronleuchter gut und der Tisch passte in die Ecke. Ich war soweit fertig für den Tag und wollte nach Hause gehen, da kam sie wieder. Sie an der Deichsel, hinter ihr ein großer Leiterwagen und zwei Jungs, die schieben helfen mussten, offenbar, riet ich, Victor und Hugo. Sie hielten direkt auf mein Gartentor zu.

      »Victor, d’ Anrichte in den Hühnastall obbe, abba frage den Herren erscht, wo e se hinhabbe wollt.« Ich hatte keine Chance, schloss den Bungalow auf, und Victor trug die Anrichte hinein. Zwar war sie sehr schön, aber so konnte man nicht mit mir umgehen. Ich sagte ihr: »Sie stellen mir den Bungalow voll mit ihren Sachen, aber Sie fragen nicht, ob ich die haben will, ob sie auch meiner Frau gefallen. Wenn schon, dann zahle ich Ihnen wenigstens etwas.« Sie machte ein beleidigtes Gesicht. »’s is mein Erbe fü se beide, denne Sie an mi erinnern soll. Wenn ’s dann schpäte ahnen richtigen Bungalow bauwen tun, hab ich ’s mi g’dacht, brauchtschst doch Mobiliar, ’s wär’ schad ums Zeug – Vosicht mit dem Spie-gel, Hugo, so wasch gibt’s heut ga net me! – Ohne Kronleuchte un ohne Tisch, sein S’ ma eehlich, sieht Ihre Hütt doch ehe aus wie ahn Hühnestall, odder?«

      Ich dankte ihr mehr übel als wohl. Natürlich hatten wir beim Bau des Bungalows auf die Kosten geachtet und ein Fertighäuschen gekauft, aber eine Hütte war es nicht. Das sagte ich ihr. Sie nickte. »So habbe de Otto un i desch au g’macht, Schtück vo Schtück.« Sie kreischte in Richtung Victor und Hugo: «Setschst denne vo de Hünnastall auf de Ve-ran-da ab.«

      Die beiden Jungs schleppten zuletzt ein Monstrum von einem Sessel in den Garten. Kaysers Nanni blickte mich zufrieden an. Nun war es genug. »Danke«, sagte ich entschieden. »Vielleicht finde Sie ja noch andere, denen Sie eine Freude machen können.« Ich ging zu den Jungs und gab ihnen ein großes Trinkgeld. Als sie dann zu dritt abzogen, hörte ich sie die Jungs fragen: »Wie viel hat er euch gegeben?« Den Sessel würde ich bei passender Gelegenheit verschwinden lassen. Es war wirklich ein Ungetüm. Ich platzierte ihn draußen unter dem Vordach, wo noch die Gartenmöbel fehlten.

      Am folgenden Abend hatte ich im Haus umgeräumt und alles saubergemacht. Meine Frau war gekommen. Sie hatte Blumen mitgebracht, die sie dekorativ auf die Anrichte vor dem Fenster stellte. Plötzlich stand Kaysers Nanni am Gartentor. Sie traute sich nicht herein. Ich fragte mich, was sie mir diesmal andrehen wollte. Einen Handwagen hatte sie nicht dabei. Ich bat sie herein und stellte ihr meine Frau vor. Kaysers Nanni trat zurück und begutachtete sie ausführlich. Dann meinte sie: »So habbe i mi Ihre Frau vog’stellt. S’ habe offenba Glück g’habt wie i mit meim Otto.« Sie machte eine Pause. Dann fragte sie schüchtern: «Daf i mi mal in meim Seschel setze? ’s wa doch de Seschel vom Otto.« Sie hätte uns nicht fragen müssen. »Aber ja doch«, antworteten wir zeitgleich. »Abg’macht, dann lasche we es dabei«, meinte sie und nahm Platz.

      Ab dem Tag kam sie jeden Nachmittag für ein Stündchen, setzte sich in den Sessel, kommentierte den Garten und ging wieder. Ich gewöhnte mich an sie, nein, ich mochte ihre Anwesenheit. Es war Mai, und dieser Frühling war besonders zauberhaft. Wir tranken manchmal Kaffee zusammen, und sie kommentierte meine Rosen oder mokierte den Pflanzplatz für die Tomaten: »De musch übedacht sei, weil denne Tomate wensch Regge kriesche, sonscht faule tut.« Ich zog sie oft zum Spaß auf, was sie mit ihrem Kreischen quittierte. Aber wenn sie die Zwerge anschaute, sagte sie stets: »De Otto hätt’ imme so plädieet: ›Keine Zwerge, unter keinen Umständen Zwerge!‹«

       Kaysers Nanni II

      Wir reiten geschwind in den abend

      die arme um uns geschlagen

      habt acht, zieht die finger ein

      die letzten beißen die hunde

      Man hatte mich gewarnt. Hier würde nichts wachsen, mein Stück Land läge zwar gut, sei aber zu feucht und darum sauer. Was man nie direkt gesagt hatte, war: Sich ein Grundstück neben dem Müll einrichten, das könne nur ein Fremder, der keine Beziehungen habe. Das sah ich ihren Gesichtern an, folgerte es aus Nebensätzen und spürte es im Bauch: Sie zweifelten an mir, nein, sie verneinten meine Vision. Ich hielt dagegen, es werde ja seit Jahren bereits kein Müll mehr abgeladen. Es sei doch ein für alle Mal entschieden worden, den Müllplatz zu schließen. Jetzt müsse nur noch reichlich Unkraut wachsen, verfaulen, wieder wachsen und verfaulen. So werde eine Schicht


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