Scirocco. Gerhard Michael Artmann

Scirocco - Gerhard Michael Artmann


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für sechs Leute. Bestehjew fürchtete, der Kerl könnte sehr schnell brutal werden und ihn beißen. Er liebt sicher seine Kinder, und zwar zur Not alle sechzehn.

      Bestehjew wartete ab und erzählte ihm von den Appalachen. Er berichtete über blutrünstige Indianer anderer Stämme, alles Gastarbeiter aus Mexiko, die sogenannten Apatschen. Der Indianer hörte interessiert zu. Bestehjew erklärte ihm, dass es dort große Kohleabbaugebiete gäbe, aber da war kein Rankommen für die amerikanische Regierung. Deswegen versuchte er es hier im Süden. Die Apatschen verteidigten Brikett für Brikett. Für Stahl brauche man jede Menge Kohlenstoff. Kohlenstoffhaltige Neger gäbe es zwar genug in Amerika, genug sogar für Weltkrieg-Rückrunde plus Elfmeterschießen, aber die würden als Soldaten gebraucht, damit sie nachts mit zugekniffenen Augen auf Berlin zuschleichen konnten. Es blieben also folglich nur die Indianer übrig, wenn man ernsthaft an die Stahlgewinnung dachte.

      Das wäre ja nur ein Gedankenspiel, unterstrich Bestehjew. Der Indianer guckte etwas dümmlich in Richtung Bestehjew und fragte, was denn ein Gedankenspiel sei. »Für den, der sich Gedanken macht, ein Spiel mit Gedanken, nichts Ernstes.« – »Und für den anderen?« – »So können Sie das nicht sehen. Sie sind Amerikaner, und das hat seinen Preis.« – »Aha«, sagte der Indianer, »Sie meinen mich, ein Brikett?« Bestehjew hielt immer noch seine Dienstmarke in der Hand. »So ist es.« Das Angeln, das Angeln hatte so was Direktes, so etwas Konkretes! Der Indianer faltete seinen Stuhl zusammen. Er winkte Henry zu, der gerade flussaufwärts in die Hochzeitsnacht schwamm.

      »Wenn Sie eine Lebensversicherung haben, kommen Sie durch einen Verkehrsunfall ums Leben, und ihre Frau kassiert die Versicherung.« – »Aha, aber ich bin meine Lebensversicherung.« – »Dann hat sie Pech gehabt.«

      Der Indianer rief jetzt, ohne sich umzudrehen: »MäcÄffie, kommst du mal. Bring deinen Onkel mit.« Seitlich aus dem Gebüsch erschienen zwei Grizzlies. Der linke war dunkelbraun und sah ganz gewöhnlich gefährlich aus. Der rechte war augenscheinlich älter und verkörperte das Grauen schlechthin. Er trug einen Vollbart und war ganz grau. Er sah Bestehjew fast mitleidig an und sagte: »Du singst mir jetzt deine Nationalhymne vor, Yankee, und dann verschwinde, bevor ich grausam werde.«

       Chief

      Mutig bin ich, geh zur ruh

      schließe beide äuglein zu

      hab ich unrecht heut getan

      zieh es lieber gott nicht an

      Ludger liebte die Natur, die Tiere und alle Menschen. Er war christlich erzogen worden und stammte aus einem der beiden Indianerreservate Ost-Deutschlands, wo man unbescholten in die katholische Kirche gehen durfte. In Ludger herrschte ein widersprüchlicher Geist. Er wusste nicht, ob er dem Herrn genug diente und ob er diesem Land genug gab, das schon fast vierzig Jahre vor sich hin trottete; ob er also dem Kaiser genug von dem gab, was des Kaisers war. Es schien ihm nie genug. Der Zwiespalt zerknirschte ihn jeden Abend beim Abendgebet.

      Seinetwegen hatte es in der Aufnahmekommission für Studienanfänger der Universidad Eduardo del Pinto echten Streit gegeben. Der kommissarische Dekan für Studienangelegenheiten, Dr. Rostov, hatte sich mit Herrn Prof. Nöthinger, dem Rektor, angelegt. Er hatte verlangt, Ludgers wegen, den Anteil christlicher Studenten im Fach Chemie von zwei Prozent auf drei Prozent anzuheben. Das hätte bedeutet, dass Ludger und die beiden anderen zusammen zweikommasechseins Studenten aller Erstsemesterstudenten der Sektion Chemie ausgemacht hätten. Wäre dann wie üblich gerundet worden, hätte Ludger einen Studienplatz gehabt. Aber Nöthinger blieb stur, ja er blickte drohend in Rostovs Richtung und bedeutete mit dem ausgestreckten rechten Mittelfinger, dass er auch anders könne, was hieß, Rostovs Tochter würde nicht für den Elite-Kindergarten der Stadt zugelassen werden. Rostov gab dem Finger folgend klein bei, nicht ohne abermals beschlossen zu haben, irgendwann ein unerschrockener U-Boot-Soldat zu werden.

      Ludger bekam nunmehr zum dritten Mal die Auskunft, dass seine Leistungen leider nicht ausreichten, um sich den Ansprüchen eines Studiums der Chemie an einer der fortschrittlichsten Universitäten weltweit zu stellen. Er schrieb eine Beschwerde an die Regierung Ost-Deutschlands, und Nöthinger hatte drei Tage später die Beschwerde über seine Person von einem gewissen Ludger, den er gerade abgelehnt hatte, auf seinem Schreibtisch. So etwas erweckte in ihm den Stier. Er senkte seinen Schädel. Dessen Profil sah auch damals schon aus, als hätte Gott an ihm die schiefe Ebene geübt. Jetzt aber, Schädel unten, stand diese Fläche senkrecht zu seinem Schreibtisch, das Kinn lag auf, und er dachte nach. Das Ganze sah aus, als hätte er eben Gott eingeladen, auf diesem Stuhl Platz zu nehmen. Das fehlte noch: Gottes fetter Arsch, keiner wusste ja zuverlässig, wie fett der ausfallen würde, unmittelbar vor seinem Gesicht! Nöthinger war vom Grunde seiner Seele auf Atheist. Er hasste Götter und ihre Schliche, aber wenn einer dennoch auftauchte, konnte man nicht sicher sein, wie sie sich vor einem verhalten würden. Genauso gut konnte es sein, dass die Russen ihm einen unechten Gott auf den Schreibtisch setzten, vor seine Nase. Konnte ja keiner wissen. Gerade die Russen waren in der Lage, alles zu behaupten und zu beweisen, auch dass sie ein unterdrückter parteiloser Gott aus dem Gebiet von Alpha Centauri waren. Darum würde er, Nöthinger, sich nicht reinlegen lassen von einem Vaterunser-Fuzzi und Ludger eine Chance zu geben sowie ihn dadurch zu vernichten. Kurz darauf diktierte er seiner Sekretärin einen Brief, aus dem hervorging, wie sehr er aufrechte und an Gott glaubende Menschen schätzte. Selbst der große Vorsitzende der kommunistischen Partei Ost-Deutschlands hätte einen kurzen Blick auf seinen Brief geworfen und verlauten lassen, dass für ihn ein Platz im Leipziger Zoo das Allerbeste sei. Das, so hätte der Vorsitzende angemerkt, hätte er sogar seinem Sohn empfohlen. Die Umgebungstemperatur, in der Ludger täglich arbeiten würde, Wüste, gemäßigt, arktisch, durfte er sich wünschen.

      Der hohe Norden war schon immer Ludgers Traum gewesen, weil man dann zur Not über das Eis nach West-Deutschland abhauen konnte. Also trat er seine Lehrstelle als Tierpfleger, Abteilung Eisbären und Elche, im Leipziger Zoo an. Die Eisbären, wenn man sie in Ruhe ließ und regelmäßig fütterte, waren harmlos im Vergleich zu den Elchen. Die Beschwerden der Eisbären waren so monoton, wie das Weiß ihrer Felle: Wasser zu warm, Fische stinken schon, Wasser dreckig, Robben können nicht schwimmen, kein Frischfleisch – bis eines Tages eine Touristin ins Becken fiel.

      Chief, das Eisbärenmännchen, schwang sich lässig ins Wasser und hangelte hinter der Dame her. Sie trug noch ihren Hut mit Kunstfrüchten und schwamm wie ein Luder, was Chief erboste. Plötzlich schlug Chief nach dem Hut und haute ihn ihr vom Kopf. Sie legte sich unerschrocken und heldenhaft auf den Rücken und strampelte dem Bären Schaum ins Maul. Schaum, das wusste Ludger aus seiner Ausbildung, war für Bären jeglicher Art, insbesondere aber für Eisbären, ein Trauma, denn Schaum stellte einen Misserfolg dar. Etwas Großes ging ihm, dem Bären, anscheinend in den Fang, und am Ende war alles Luft. Maul auf, zubeißen und – knirsch! – wieder auf die eigenen Zunge. Das bedeutete Schaum. Chief hatte in seinen vorherigen Leben genügend Zweibeiner gewinnen sehen, und er war in dieser Legislaturperiode nicht mehr bereit, Frischfleisch von denen zu verschenken.

      Ludger beobachtete die Szene und beschloss, dass, wenn Gott seinem Leben hier ein Ende setzen wollte, dann sei es so. Er sprang ins Becken. Chief ließ von der Frau ab, denn Ludger roch nach Fisch. Als er vor ihm auftauchte und beide Aug in Aug gegenüber schwammen, sagte Ludger »Wenn du jetzt zubeißt, kriegst du heute Abend nichts, und morgen auch nichts und übermorgen schon gar nichts. Beiß«! Chief kniff den Schwanzstummel ein, stieg an Land und zog es vor, auf das Betriebsessen des Leipziger Zoo zu warten. Es war zwar nicht gut, aber es kam immer zur gleichen Zeit.

       Die Berufung

      Jetzt bist du professor

      das ist doch bessor

      als arbeitslos

      keine ideen zu haben

      Der Landesberufungsbeauftragte für professorale Berufungen und Landesregierungsoberdezernent Abteilung Zwei des Landeswissenschaftsministeriums, Unterabteilung drei, für professorale Berufungen aller Kassen und Vorsteher des Dezernats Personalungelegenheiten, Abteilung vier, für Berufungen zur See in Personalunion


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