Scirocco. Gerhard Michael Artmann
Gott behüte – zweimal alles weg. Bande, die!«
Weiland tat es. Das Paketband platzte auf und, ja, es würde dank seines goldenen Schnitts fast vollständig wiederverwendbar sein. Er zog das Band mit spitz geformten Fingern vor sich stramm und hielt es der Familie hin. Seine Frau atmete tief. Wenn Weiland nicht wäre, mag sie wohl gedacht haben, so manches wäre uns durch die Finger geglitten! »Weiland, ich …«, sagte sie bloß. Doch er strich schon sanft über das Packpapier. Er fand, es knisterte erregend und roch. Er wusste keinen Ausdruck dafür außer – erotisch. Und was erotisch roch, kostete, und was kostete, lohnte zu sparen, lohnte es aufzuheben. »Riech mal«, sagte er zu seiner Frau. »Weiland«, antwortete sie, »du hast recht, es riecht ganz schwach nach Götterspeise.« Ihr Gatte war verstimmt. Götterspeise! Er wandte sich ab. Diese Frau würde nie etwas riechen. »Riecht mal, Kinder. Albrecht du, riech nur. Ist das nicht ein großer Duft, so als hätte die Welt soeben unser kleines Zuhause betreten?« – »Ich rieche nichts, Vater«, antwortete Albrecht tonlos. »Dass du das so sagen kannst, so direkt, von Angesicht zu Angesicht, und in solch einem Moment, das hätte dein Vater nicht erwartet.« Weiland drehte sich weg und verschloss die Gram in seinem Herzen – niemand fühlte, was er fühlte. Er war wieder allein, einsam und groß, aber allein – auch sein Ältester verstand also nicht die Größe dieses Moments. Sei es denn, alles Verstehen hat Grenzen. Doch Weiland konnte viel einstecken. Schon entfernte er einen ersten Bogen Papier aus dem eröffneten Paket, einen zweiten, einen dritten. Er faltete das Papier ordentlich und legte es beiseite, bevor er weiterforschte. Zwei Knäuel Papier folgten. Sie würden sich problemlos glattbügeln lassen, etwas feucht … Und da sah er es, das Geheimnisvolle, eingepackt in goldene Alufolie und beschriftet mit »Für Weiland«.
»Für Weiland«, rezitierte er. Bei verschwommener Sicht entfernte er das Goldpapier. Er fühlte mehr, als dass er sie sah, eine Flasche, ach was, ein Flakon, einen Kristall aus feinstem geschliffenen Glas mit edler silberner Kappe. »Eau de parfum pour hommes«, las er. Und im Stillen stellte er einmal mehr für sich fest: In dieser Vermögensklasse trifft nur Französisch den Ton.
Weiland hob den Kopf und schaute aus dem Fenster. Draußen fetzte ein Wind an den Bäumen, es pfiff leicht. Die ersten Regenspuren zeigten sich am Glas – er schob seine Brille zurecht »… aber hier drinnen ist Frieden, nicht, Kinder, Frau, in meinem Haus nicht, nicht wahr Frau – mag es draußen auch noch so hart … – Albrecht, was sagst du?«. Er fuhr fort, ohne die Antwort zu erwarten: »Das da ist bares Geld, da hat aber einer tief in die Tasche greifen müssen …« Dann wurde er nachdenklich und schaute aus dem Fenster. Sollte er, Weiland, tatsächlich dieses Wasser anbrechen und sich schnöde ins Gesicht reiben? Er, der sich nie schmückte, und dann gleich so teuer? Ist denn nicht die Einfachheit des Lebens, der Verzicht der Schlüssel zum Glück des Menschen? Einfach leben, mehr verlangte er doch nicht von sich und der Welt, hatte er nie verlangt … Er nahm die Brille ab, hauchte sie an und putzte sie eingehend mit dem blauen Tüchelchen, dass er immer zur Hand hatte. Dann setzte er sie wieder auf. Ganz unnötig, fand er, an der Brille lag es nicht, dass er auf solche Gedanken kam. Er blickte erneut auf die Flasche. Wie sollte er die ausreichende Menge für einmal bemessen? Wie verhindern, dass schon beim Öffnen des Flakons zu viel des Duftes unkontrolliert und ungenutzt verflog? Alles wollte gut bedacht sein. Wieder kam er auf, dieser Hauch von Glück von tief unten: Er hatte etwas geschenkt bekommen, ganz umsonst! Beim Gedanken an »umsonst« griff er sich das Packpapier, um nach dem Absender zu forschen. Wer in aller Welt schenkt so was Wertvolles einem, ach was, mir?
»Albrecht, sag was! Umsonst! Hörst du?« – »Hat denn einer einen Absender angegeben?«, fragte sein Ältester. »Nein, nichts … hier, guck, kein Name. Dass die Post so was versendet!« Weiland war bereit, an ein Wunder zu glauben. Und wenn, warum hatte der Herr oder die Dame der Gesellschaft, die sich bemüht hatte, ihm ein Geschenk zu senden, wenn auch einem Banker …? Nein! Warum hatte der Herr oder die Dame der Gesellschaft nicht ihm, einem Banker, nicht gleich Geld geschenkt? Das hätte ebenso edel verpackt sein können, wenn ein Geschenk denn dargebracht werden musste …
Und wann sollte er tatsächlich das Eau in Anwendung bringen? Nach dem Rasieren etwa? Rasierwasser besaß er zuhauf. Von seiner Frau bekam er jedes Jahr ein neues Fläschchen. Andererseits, das hier war nicht ganz unoriginell – ein Flakon, ein Eau! War das nun eine Belohnung von jemand Höherem, der sich ihm nicht öffnen wollte? Eine dezente Geste der Anerkennung für jahrelange, erfolgreiche Entbehrungen? Dann aber wieder diese Zweifel – sollte er, der Inhaber eines beträchtlichen Kontos, sich von nun an umgeben mit solchem Duft? Nur so konnte es gemeint sein, ein versteckter Hinweis, ein Mensch, der ihn wirklich kannte. Wie sorgsam dieser Mensch gewesen war beim Einpacken und wie dezent in allem!
Nun blickte Weiland seine Lieben warm an. Die Brillengläser reflektierten das Fensterlicht. Er warf einen Blick auf den Ältesten, der aber, offensichtlich dem Regen und dem Wind draußen hinter dem Fenster große Aufmerksamkeit widmend, quasi »zurückgerufen« werden musste. »Was denkst du, Albrecht, soll ich?« Der Älteste sah zu ihm hin. Weiland griff zum Schraubverschluss und drehte ihn auf. Ein Duft schlug hervor, ein Duft, ein, ein nie dagewesener erhabener, aber dennoch sehr frischer Duft! Weiland spürte, wie er unfassbar Großes leisten könnte, wenn er dieses, er las es noch einmal laut, »Eau de parfum pour hommes« zukünftig anlegte. Er führte den Hals des Flakon vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger, damit sich das Etikett nicht abgriff, an sein rechtes Ohr, von dort die Kinnlade entlang bis hin zu seinem Grübchen … Da passierte es! Die Bewegung stockte, ganz geringfügig nur. Ein kurzes Zurückschrecken des Zeigefingers. Ein Augenblick der Haltlosigkeit – und aus! Der Flakon glitt ihm aus den Fingern und nahm den Weg allem Irdischen. Er sauste ordinär nach unten, tat einen Hüpfer auf dem Sofa … Der Älteste sprang hinzu. Zu spät. Er fasste in die Leere. Der Flakon schlug auf dem Steinboden. Peng!
Weiland erstarrte. Nein, er würde nicht hinsehen auf das Bild der Ausschweifung und Zerstörung auf dem Küchenboden. Ein Duft stieg auf, ein großer, nie gekannter erfasste ihn. Er nahm ihm den Atem, drang ein in sein Gehirn und in sein Gedächtnis. Das Gedächtnis eines Bankers, eines Mannes, der es zu was gebracht hatte, dachte er noch. Seine Frau sprang mit einem Lappen in die Szene. Weiland herrschte sie an: »Den Mantel, Frau. Du rettest nichts mehr. Ich ahne, wer die Größe hatte, mir solch ein Geschenk zu machen, auch wenn es nun zerbrochen daliegt. Ich werde sie finden und mich bei ihr entschuldigen. Nur eine Frau, meine Liebe, nur eine zu Gefühlen fähige Frau ist solch einer Tat fähig. Du rettest nichts mehr, sag nichts. Ich hätte schon viel früher gehen sollen. Dieses Eau, in solch einem Flakon und mir allein geschenkt, hat die Entscheidung gebracht. Ich ahne bereits, wer sie ist. Ich gehe, das hätte ich längst tu sollen, aber diesmal ist es für immer!«
Ohne die Ausführung des Befehles abzuwarten, herrschte er zur Garderobe, setzte seine Brille zurecht und warf den Mantel über. Dann ging er zur Tür und schlug sie hinter sich zu. Alberts Geschwister waren erschrocken; die Mutter setze sich auf einen Stuhl. Es trat eine unfassbare Stille ein. Der Kleine schluchzte. Albert fasste sich als Erster. Er ging an ihnen vorüber zum Fenster und öffnete es sehr weit, so weit, dass Regen auf den Küchenboden schlug. Der Wind zerrte an den Vorhängen. Einen Augenblick lang stand er nur da. Dann, langsam, drehte er sich um und sagte: »Wir lassen das Fenster auf, es stinkt alles nach Parfüm.« Und dann setzte er hinzu: »Wirf dir nichts vor, Mutter. Das war sehr in Ordnung von dir.«
Mississippi River Weltkrieg-Rückrunde, 1942
Musik klingt über den himmeln
unter dem meer kreuzen sich die katzen
sie zeugen jenen, der den graben
zwischen gott und böse aufbrechen lässt
Bestehjew lehnte sich zurück in seinen Sessel. Er richtete die amerikanischen Augen gegen die Decke. Er saß ganz hinten in einer geheimen Sitzung des Pentagon. Sein Land war im Krieg, dem bedeutendsten der Geschichte, Weltkrieg-Rückrunde, ausgerechnet auch noch gegen Deutschland, die verbissensten Autobauern der Welt. In einer solchen Situation Berater der amerikanischen Regierung zu sein, war ein Knochenjob, aber er brauchte das Geld, was wollte er machen. Zu Hause auf dem Nachttisch neben seinem Bett stapelten sich die Rechnungen. Heute ging es einzig und allein um eine