Scirocco. Gerhard Michael Artmann

Scirocco - Gerhard Michael Artmann


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Tag nie vergessen konnten. Das ganze Dorf war bereits eingeladen.

      Der Diktator hatte heute Nachmittag einen seiner Unteroffiziere zu dem jungen Mann geschickt und ihn einladen lassen, zusammen zu essen und über die Zukunft des Landes zu reden. Er hatte freies Geleit versprochen. Dazu war der junge Mann bereit. Er zog seinen Anzug an, zu dem eine Weste gehörte, und ging hin. Es gab Speisen, von denen der junge Mann gelesen hatte, denn zeitgleich zu seiner anständigen Erziehung hatte er auch Kochbücher gelesen. Kochbücher entziffern war einfach für ihn, denn kochen konnte er. Er musste als Jugendlicher nur einzelne Worte begriffen gehabt haben, dann verstand er, was gekocht wurde, weil er eben wusste, wie gekocht wurde. So hatte er lesen gelernt. Später las er Nietzsche und Marx, Robinson Crusoe und alles, was ihm als geschriebenes Wort in den Weg kam. Er las die Bibel, sogar den Koran. Er hatte Konfuzius gelesen, der ihn besonders beeindruckte, und sogar ein wissenschaftliches Buch, die Doktorarbeit von Albert Einstein, die ein Verleger ins Spanische übersetzt und drucken lassen hatte. Irgendein Reicher aus den Villen der Umgebung hatte fünfhundert Exemplare davon gekauft und sie für jedermann in der Dorfkirche auslegen lassen. »Macht nichts, wenn die Leute sie mit nach Hause nehmen. Wenn die Bücher alle weg sind, besorge ich mehr.« So äußerte sich der reiche Mann. Der junge Mann hatte das Buch gelesen. Er weiß noch wie heute, wie sehr er sich gewundert hat, dass man auf Gedanken kommen konnte wie Einstein. Wie konnten Menschen denken, dass bei sehr hoher Geschwindigkeit alles anders ist? Sogar, dass es eine Geschwindigkeit gibt, die wir Menschen nicht überschreiten können. Der junge Mann hatte beim Lesen sehr wohl an den Rand der entsprechenden Seite geschrieben: »Gott hat uns Menschen eine Grenze unserer Geschwindigkeit gesetzt, jenseits derer ER sich bewegt.«

      Und nun kniete die Frau des Diktators vor seinem Hosenlatz. Er wurde steif im Rücken, denn auch er wollte keine Frau gehabt haben vor seiner Frau. Sie guckte hoch. Er sagte: »Ich kann nicht, ich bin versprochen.« Sie ließ von ihm ab und äußerte: »Dann kann ich dir auch nicht helfen.« – »Macht nichts«, sagte er, »aber trotzdem vielen Dank.« Der junge Mann war für heute eingeladen, damit zwischen der Regierung und den Revolutionären mit ihm, dem Führer, endlich Frieden beschlossen werden sollte in seinem Land. Er war gern gekommen. Nicht, weil er nicht mehr im Wald und im Dreck leben wollte. Da wäre er zur Not auch gestorben, aber »Friede«, das war eine Sache. Warum sich nicht mit der Regierung an diesen Tisch setzen?

      Die Frau des Diktators ging vor ihm zurück in den dining room. Er wartete aus Respekt, und damit kein Verdacht auf sie fiel, noch ein paar Minuten. Dann zog er nochmals die Spülung und kehrte zurück. Der Diktator und seine Frau hatten eine sehr anregende und anscheinend lustige Konversation. Er setzte sich zu ihnen und aß sein Tiramisu. Man trank noch einen Cognac.

      »Auf die Zukunft!«

      »Auf die Zukunft!«

      Der junge Mann war natürlich als Führer der Revolutionäre nicht leichtsinnig gewesen. Er hatte neben seinem Fahrer auch zwei Sicherheitsleute mitgebracht, die draußen gewartet hatten. Er stieg nach dem Essen ins Auto und fuhr mit ihnen davon.

      Nach etwa fünf Kilometern hielt eine Polizeikontrolle sie an und wollte ihre Papiere sehen. Der junge Mann beruhigte seine Leute und sagte: »Alles in Ordnung« und »Hier ist der Brief der Regierung, dass wir freies Geleit haben.« Die Streife bat ihn auszusteigen, und seine Begleiter auch. Sie führten sie um ein Haus herum.

      Als sie hinter dem Haus waren, rief jemand: »Halt!« Es war ein Offizier der Regierungsarmee, der lässig mit halb erhobenem Gewehr hinter einem Baum hervortrat. Dann zeigten sich dessen Soldaten. Sie formierten sich in Reihe. »Eine Falle«, erschrak der junge Mann und griff zum Revolver. »Nicht!«, schrie jemand. Es war seine Verlobte. Man hatte sie an die Veranda gebunden. Er ließ den Revolver fallen, stürzte zu ihr und umarmte sie. »Ànn«, flüsterte er. »Warum bist du mir nur nachgegangen?«, fragte er entsetzt. »Legt an!«, rief jemand. Der junge Mann drehte sich um und drückte dabei seinen Körper gegen ihren, so, als könnte er aufhalten, was nun folgte. Mit geschlossenen Augen, ihre Hände in seinen, vernahm er die Salve wie aus weiter Ferne und erwartete den Tod.

      Eine Unendlichkeit später sah er sich um. Er fand den Offizier leblos am Boden liegen. Die Soldaten flohen überstürzt. Seitlich stand die Frau des Diktators, dahinter ihre Männer. Ihr Gesicht war aschfahl. »Geht«, rief sie, »bevor er hier ist.« Ihre Stimme bebte. »Er hält sein Wort nie. Das hätten Sie wissen müssen. Er wird gleich da sein. Wenn er uns hier findet … Nehmen Sie Ihre Geliebte mit, und – werden Sie glücklich.« Ihre Worte klangen erschrocken und traurig zugleich. Sie waren leise gesprochen, als hallten sie aus ferner Vergangenheit wider.

       Zwei im Boot

      So stehen wir heute da: helden

      des einundzwanzigsten jahrhunderts

      deppen hinter sonnenbrillen und kappen

      der blick gen unendlich gebrochen in plaste

      »Wann hörst du endlich auf zu rudern? Das nützt doch nichts.« Ich habe ihn das schon mehrfach gefragt, und er hat nicht ein Mal geantwortet. Ich fragte ihn dann nicht mehr. Wenn er mit mir reden würde, könnte ich ihm sagen, warum ich zu dem Entschluss gekommen bin, aber wir redeten nicht miteinander. Andererseits, warum auch? Reden hätte auch nichts gebracht. Vor dem Aufbruch von unserer Insel hatten wir gelegentlich noch miteinander gesprochen. Manchmal gab es sogar Gespräche. Wir malten uns dann aus, wie süß die Freiheit sein würde, was wir essen und trinken würden, und dann die Frauen, wenn wir einmal von hier weg sein würden. Reden hatte natürlich keinen Sinn, aber das Aussprechen von etwas, genau gesagt, unsere gesprochene Erinnerung an Erlebtes, gäbe uns Hoffnung. Dort draußen hinter dem Horizont, das wussten wir doch, gab es eine Freiheit. Wir sehnten sie auf eine Art herbei, wie es sich vermutlich kein Mensch, der in Freiheit lebt, vorstellen kann. Freiheit ersehnen, wie wir es taten, können nur Menschen, die von der Welt ausgeschlossen waren wie wir.

      Wir wussten nicht, warum und wie es geschehen war. Wir wussten nur, dass es so war, und das war furchtbar real. Das Letzte, an das ich mich im früheren Leben erinnere, war eine Frau auf meinem Schoß mit einem Glas Champagner in der Hand, die Flasche zu dreihundertfünfzig Dollar. Hier auf diesem sandigen Eiland fand ich mich wieder. Sie hatten mich auf den Strand geworfen und gesagt, dass ich von nun an frei sei. »Frei wie Robinson, schauen Sie doch, ist das nicht fabelhaft, die Sonne, das Meer, die Fische, alles da, um Sie glücklich zu machen, alles wie auf einer Postkarte.« Dann verschwanden sie und ließen mich zurück. Später traf ich ihn an. Auch er war ausgesetzt und mit den gleichen Worten zurückgelassen worden. Wir waren beide ratlos und fragten uns immer wieder, was geschehen war.

      Auf dem kleinen Hügel gab es natürliche Zisternen. Sie enthielten Regenwasser. Der Hügel war nicht sehr hoch. Trotzdem bestiegen wir ihn zu Beginn mehrmals täglich, um nach Rettung zu sehen. Aber es gab keine Rettung, kein Schiff, nirgendwo. Wie bei Robinson Crusoe, aber kaum ausgestattet mit Werkzeugen und anderen Utensilien, wie er sie vorgefunden hatte, lebten wir notgedrungen weiter. Das Fischen gelang uns bald. Es gab Bäume mit Früchten und Schatten vor der Sonne und natürlich das Meer. Zwischen uns beiden, die sich vorher nie getroffen hatten, gab es zu Beginn Annäherungen. Jeder erzählte dem anderen sein Leben. Wir wechselten uns ab bei den Verrichtungen und sprachen auch über Privates, belanglose Dinge meist.

      Damals hatten wir noch geglaubt, dass es vielleicht einmal gelingen könnte, von hier wegzukommen. Wir mussten nur gesund bleiben und ausharren. Dabei ein Wort zu wechseln verkürzte die Zeit. Wir kamen sogar so weit, dass er eines Abends begann, mir eine Geschichte zu erzählen, eine vollkommen frei erfundene, wie er sagte, beim Fischen ausgedacht. Mir fällt das Erzählen nicht ganz so leicht, aber ich übernahm daraufhin den Versuch, das Leben meiner Großeltern zu erzählen, von Beginn an, immerhin in 1894. Unsere Zweifel daran, dass wir gerettet werden würden, waren uns lange nicht bewusst, sehr lange.

      Wäre es anders gewesen, hätte es zwar auch nichts genutzt, aber trotzdem wundere ich mich heute.

      Eines Abends brach er mitten im Gespräch ab, schaute mich direkt an, was er sonst nie tat. Er redete gewöhnlich zum Himmel, mit halb angehobenem Kopf, auch wenn er mit mir sprach.

      »Das hier wird


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