Von Stubenfliegen und Osterhasen. Sabrina Nickel
als sich unsere Lippen fast berührten, blendete uns ein Lichtstrahl, der durch das einzige Loch im Felsen von der Sonne verursacht wurde. Blinzelnd beobachteten wir, wie er langsam zwischen uns hinunter bis auf unsere verschlungenen Hände wanderte. Wir standen dort, wie einst unsere Großeltern auf dem Bild. Nur eins fehlte. Ich nahm die Hälfte meines Steines und Florian verstand sofort. Abermals fügten wir die Teile zusammen und hielten den vollkommenen Stein Hand in Hand in das Licht. Augenblicklich wurde es gebrochen und in alle Farben des Regenbogens aufgeteilt, um schließlich wie ein Farbenspiel hinter uns auf den sandigen Boden zu treffen.
Erst in diesem Moment entdeckte ich etwas im Sand, genau dort, wo die Farben auf ihn trafen. „Halte mal bitte den Stein“, sagte ich, wandte mich um und ging in die Hocke, um zu graben. Es war ein Griff, der zu einer kleinen, hölzernen Tür gehörte. Beim Öffnen schlug uns ein unglaublich kalter Wind entgegen und ein gleißend blaues Licht blendete unsere Augen. Rasch zog Florian seine Jacke aus, um sie über meine Schultern zu legen.
Gemeinsam stiegen wir die grob in den Stein gearbeiteten Stufen hinunter, die Augen mit den Händen abgeschirmt, bis wir schließlich ebenen Boden unter den Füßen spürten. Vorsichtig öffnete ich die Augen und traute ihnen nicht mehr. Wir standen in einem riesigen Gewölbe, auf einem zugefrorenen See. Die Helligkeit war überwältigend, doch stammte sie nicht vom Tageslicht. Soweit das Auge reichte, waren Wände und Decken der Halle besetzt von hellblauen Steinen, einer schöner als der andere. Sie warfen einander das Licht zu, welches von unter uns aus dem See zu kommen schien. Hunderte Schmetterlinge, die wir wohl mit unserem unerwarteten Besuch gestört hatten, schreckten auf und umkreisten uns flirrend.
Was war das für ein Ort? Und wie konnte er existieren? Eine Winterwelt inmitten des warmen Sommers, ein eigenes kleines Paradies. Es war bitterkalt, doch schöner, als alles, was ich bisher gesehen hatte.
„Eismädchen“, hauchte Florian und sein Atem bildete dabei kleine Wölkchen. „Jetzt verstehe ich. Ich wunderte mich über dieses Wort auf der Rückseite des Fotos. Es ist dieser Ort! Ihr geheimer Treffpunkt. Das hier war ihr Geheimnis, das er mir oft andeutete.“
„Und nun wird es unseres sein“, sagte ich und sah den schönen Mann neben mir an. Nun endlich küssten wir uns in der unendlichen Stille dieses Ortes. Ich war noch nie so glücklich.
Meiner Großmutter kamen sofort die Tränen, als sie Florian sah. Er hatte eine unglaubliche Ähnlichkeit mit dem Mann auf dem alten Foto. Dem Mann, den sie einst liebte. „Du hast ihn gefunden. Lass ihn nie wieder los!“, lachte sie mich glücklich an, während sie ihn fest drückte.
„Das habe ich nicht vor, Omi“, versicherte ich der wunderbarsten Frau, die ich kannte. Ich nahm Florians Angebot an, eine Ausbildung in seinem Hotel zu absolvieren, und zog bei ihm ein. Nebenher holte ich mein Abitur nach, um später Design studieren zu können. Meine Großmutter besuchte ich täglich.
Energisch klopfte es an der Tür. „Clarissa? Bist du da?“ Ich erkannte die Stimme und öffnete sofort. Da stand ein Wikinger, in einer Hand ein kleines Paket, mit der anderen kratzte er sich am Hinterkopf.
„Hey Eddie! Wird der Koch wieder als Bote missbraucht?“, lachte ich und knuffte den Muskelberg in die Seite.
„Mache ich gerne“, lachte der Hüne und übergab mir das Paket. „Heute Abend gibt es Hühnchen. Soll ich euch was hochschicken?“
„Klar“, freute ich mich und sah, wie er vor mir salutierte, um sich wieder in die Hotelküche zu verkrümeln.
Neugierig öffnete ich den Karton und fand darin einen eisblauen Traum von einem Kleid, der wohl für den nahenden Herbstball gedacht war und eine Karte, auf der stand Für mein Eismädchen.
*
Von Osterhasen und Stubenfliegen
Als mein Chef mich heute Mittag in sein Büro rief, dachte ich mir noch gar nichts dabei. Sein Blick verriet mir jedoch bereits, dass etwas nicht stimmte, und ich sollte recht behalten. Er kündigte mir – fristlos. Angeblich hatte ich in der letzten Woche einen wertvollen Herrenring aus der Schublade seines Schreibtisches gestohlen, doch nie würde ich so etwas tun. Ehrlichkeit war mir das Wichtigste in meinem Job. Ich liebte meine Arbeit und ich verstand mich mit nahezu jedem im Büro sehr gut.
Als ich dies meinem Chef erklärte, nickte er langsam. Dann jedoch antwortete er mit gesenktem Kopf: „Es gibt einen Zeugen, Frau Langner.“ Alle weiteren Versuche, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, schlugen fehl.
Als ich das Büro schließlich tränenüberströmt verließ, sah ich Fiona am Eingang stehen. Sie deutete grinsend ein Winken an, während ich an ihr vorbeiging. In diesem Moment wusste ich, dass sie diese Intrige gesponnen hatte.
Vor zwei Monaten hatte sie in der Agentur angefangen. Sie war oft die Letzte, die abends das Büro verließ, und morgens die Erste, die schon den Kaffee kochte. Zu spät hatte ich bemerkt, dass sie es auf meine Stelle abgesehen hatte.
Nun, jetzt war die Stelle der Assistenz der Geschäftsführung frei und egal, wie sehr meine Kollegen mich verteidigen würden, es stand Aussage gegen Aussage und der Ring war weg. Zu Unrecht gefeuert – und das einen Tag vor Ostern.
Mich kaum konzentrierend fuhr ich nach Hause. Was sollte ich tun? Natürlich würde ich um meinen Job kämpfen, doch bei meinem Pech konnte ich es auch direkt lassen. Und dann? Mit so einer Entlassung würde ich keine neue Arbeit finden. Die Miete musste bezahlt werden und essen musste ich auch irgendetwas. Es half nichts. „Reiß dich zusammen, Susanne“, sagte ich mir selbst und hielt auf meinen Stellplatz zu. Um den Schock erst einmal zu verdauen, legte ich mich völlig fertig auf die Couch, und obwohl meine Gedanken sich überschlugen, schlief ich recht früh ein.
Am nächsten Morgen hatte ich neuen Mut gefasst und setzte mich mit einem Tee und der Tageszeitung auf die Couch. Tief durchatmend schlug ich die Stellenangebote auf. Wenigstens vorübergehend, bis ich meine Unschuld beweisen konnte, brauchte ich einen Job. Je weiter ich mich vorarbeitete, desto entmutigender schien die Suche jedoch für mich zu sein. Verzweifelt las ich die Anzeigen durch und fand nichts Passendes.
Voller Frust blickte ich kurz auf, dann wieder auf die Zeitung. Was war das? Da suchte jemand eine Aushilfskraft für die kommenden Ostertage. Warum hatte ich das nicht gleich gesehen? Vielleicht konnte ich dort aushelfen, das wäre ein Anfang. Genaueres stand nicht in der Anzeige, nur eine Adresse in der Stadt und der Vermerk: Kommen Sie jederzeit vorbei. Heute war Gründonnerstag – ich würde es einfach versuchen!
Zuerst dachte ich, dass ich mich beim Aufschreiben der Hausnummer vertan hatte. Ich durchfuhr die Lindenallee, bis ich das letzte Haus erblickte.
Dann wurde aus der befestigten Straße ein holpriger Feldweg. Ich fuhr immer weiter, bis ich einen kleinen Wald erreichte. Immer mehr kam es mir vor, als hätte sich hier nur jemand einen dämlichen Streich erlaubt. Dennoch parkte ich meinen Wagen am Rande des Waldes und stieg aus. Die Sonne schien warm auf meinen Rücken, als ich die frische Luft tief einatmete. Der Trip sollte nicht umsonst sein. So ging ich also in den Wald hinein. Die hochgewachsenen Bäume mit ihrem dichten Laub wirkten beruhigend und waren ein kostbares Stück Natur, das man in der Stadt kaum noch sah.
Neben mir kam hinter einer dicken Eiche ein Häschen hervorgehoppelt und sah mich an. Verwundert über die Zutraulichkeit ging ich etwas näher an das kleine Tier heran. „Bist du Susanne?“, fragte es mich.
Ich fiel aus allen Wolken. Seit wann konnten Hasen sprechen? Träumte ich? Das Häschen völlig entgeistert anstarrend, stotterte ich „Ja, w...warum?“
„Komm mit“, antwortete es und hoppelte davon.
„Warte“, rief ich und stolperte ihm hinterher, quer durch den Wald bis zu einem Loch, das wie der Eingang zu einem Bau aussah. Neugierig kroch ich hinter dem Tier hinein und krabbelte auf allen vieren immer weiter. Erst wurde es immer dunkler, doch plötzlich erstrahlte ein helles Licht am anderen Ende des Ganges. Dort angekommen richtete ich mich auf, blinzelte der Helligkeit entgegen und traute meinen Augen kaum.